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Bürgergeld-Debatte: Kritik von BSW-Chefin Sahra Wagenknecht berechtigt?


Kritik am Bürgergeld
"Es zahlt sich aus" – nur noch nicht jetzt


24.10.2024 - 14:54 UhrLesedauer: 5 Min.
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Sahra Wagenknecht: Sie wirft dem israelischen Militär Rücksichtslosigkeit vor.Vergrößern des Bildes
Sahra Wagenknecht: Sie kritisiert das aktuelle Format des Bürgergelds. (Quelle: Rabea Gruber)

Das Bürgergeld steht erneut in der Kritik. Zu viele Menschen kehren offenbar zu schnell wieder in die Erwerbslosigkeit zurück. Doch das stimmt nicht ganz.

Sahra Wagenknecht ist erbost. "Inakzeptabel" nannte die BSW-Chefin und Bundestagsabgeordnete die Zahlen: Rund die Hälfte (51 Prozent) der Bürgergeldempfänger, die eine Arbeit beginnen, bekommen ein halbes Jahr später weiterhin oder erneut Hilfe vom Staat. Das hatte das Bundesarbeitsministerium ihr auf eine Anfrage mitgeteilt. Zunächst hatte die "Bild" berichtet.

Eine gerechte Leistungsgesellschaft verlange "gute Arbeitsbedingungen und ordentliche Löhne, aber auch angemessene Sanktionen für diejenigen, die sich lieber im Modell Bürgergeld plus Schwarzarbeit einrichten möchten", polterte Wagenknecht mit Blick auf die Statistik. Im Gegensatz zu Hartz IV waren die Sanktionsmaßnahmen beim Bürgergeld zunächst eingeschränkt, werden nun aber nachjustiert. Dabei hatte die Ampel das Bürgergeld extra eingeführt, um die Menschen auch langfristig in Arbeit zu bringen.

Doch ist das Bürgergeld hier tatsächlich gescheitert? Arbeits- und Sozialforscher verweisen auf eine andere Lesart. Es gibt demnach gute Gründe für die Zahlen – als auch Hoffnung, dass der Trend künftig anders aussieht.

Kein Unterschied von Bürgergeld zu vorigen Modellen

So schränkt der Arbeitsmarktexperte Fabian Beckmann im Gespräch mit t-online ein: "Der Schluss, diese Zahlen kämen nur von den Regelungen des Bürgergelds, greift viel zu kurz." Dass viele Leute nicht nachhaltig in Arbeit integriert werden, sei bereits ein bekanntes Phänomen aus der Zeit vor dem Bürgergeld, als nach den Hartz-Reformen schärfer sanktioniert wurde. "Diese Drehtüreffekte hat es 20 Jahre lang gegeben", so Beckmann.

(Quelle: Fabian Beckmann)

Zur Person

Dr. Fabian Beckmann forscht am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Dabei beschäftigt er sich insbesondere mit dem Bürgergeld. In diesem Jahr veröffentlichte Beckmann eine Studie zur Erfahrungsbilanz mit dem Bürgergeld.

Der Sozialpolitikexperte Michael Opielka sagte t-online indes, auch die Einführung von Hartz IV habe tatsächlich keine großen Auswirkungen gehabt. "Viele Studien haben gezeigt, dass der damalige Rückgang der Arbeitslosigkeit auf die Konjunktur zurückzuführen war", so Opielka weiter.

Ursache für die neuen Zahlen ist laut den Experten also keinesfalls nur die Bürgergeldreform. Vielmehr war die Bekämpfung dieser inkonstanten Beschäftigungsverhältnisse ein wesentliches Ziel bei ihrer Einführung. Nach Auswertung und Analyse der alten Hartz-IV-Gesetzgebung beinhaltete Bürgergeld explizite Weiterbildungsansätze und berufsbegleitendes Coaching, um Menschen langfristig in die Arbeit zu vermitteln.

"Man hat erkannt: Durch den Work-First-Ansatz hatten wir nicht beabsichtigte Nebenfolgen", erklärt Beckmann. Damit meint er, dass jeder zumutbarer Job auch angenommen werden muss. Sondern: "Die Arbeit ist nicht damit getan, die Leute nur zu vermitteln."

Zu wenig Zeit für ein Fazit?

Trotz des neuen Ansatzes zeigt die erste Auswertung des Bürgergeldes nun aber offenbar genau die gleichen Effekte wie das Vorgängermodell. Allerdings warnt Beckmann: "Man muss einer so weitreichenden Reform Zeit geben, um sich zu entfalten." Schließlich ist diese erst seit weniger als zwei Jahren in Kraft. Menschen, denen Aus- und Weiterbildungen ermöglicht wurden, haben diese teilweise noch gar nicht beendet. Dementsprechend kann ihr Neueintritt in das Arbeitsleben bisher nicht bewertet werden.

Für Arbeitsmarktexperte Beckmann ist insbesondere die Qualifikation ein wesentlicher Schlüssel für eine langfristige Integration auf dem Arbeitsmarkt, denn rund die Hälfte der Bürgergeldempfänger hat keinen Berufsabschluss. Das sei eine der wichtigen Erkenntnisse der Politik vor der Einführung gewesen.

Auch Sozialpolitikexperte Opielka ist sich sicher: "Man hat viel getan für Weiterbildungsmaßnahmen und Anreize. Das zahlt sich auch aus – nur nicht von heute auf morgen."

(Quelle: Institut für Sozialökologie)

Zur Person

Prof. Dr. Michael Opielka ist wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer des ISÖ-Institut für Sozialökologie und Professor für Sozialpolitik an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Er ist Mitherausgeber des in diesem Jahr erschienenen Buchs "Der weite Weg zum Bürgergeld".

Ein wesentlicher Punkt der Wagenknecht-Kritik bezieht sich zudem auf die schnelle Rückkehr in das Bürgergeld: "Es kann nicht sein, dass nach nur sechs Monaten Arbeit jeder Zweite zurück im Bürgergeld ist", kritisiert sie. Allerdings ist diese Aussage nicht ganz korrekt – Wagenknecht suggeriert etwas Falsches. Schließlich beinhalten die Zahlen auch Menschen, die zwar einen neuen Job angefangen haben, aber wegen zu niedrigem Einkommen ununterbrochen weiterhin Bürgergeld erhalten haben. Um "zurück im Bürgergeld" geht es dementsprechend nicht.

Statistiken des Wirtschaftswissenschaftlers Enzo Weber zeigen zudem, dass mittlerweile drei Viertel der früheren Bürgergeldempfänger, die eine sozialversicherungspflichtige Arbeit finden, auch sechs Monate später noch in einem solchen Job sind. Das ist deutlich mehr als in den vergangenen Jahrzehnten.

Wenig überraschend schlägt auch das zuständige Arbeitsministerium in diese Kerbe. "Die These, dass das Bürgergeld träge mache, stimmt so nicht", sagte ein Sprecher des Arbeitsministeriums der Nachrichtenagentur dpa. "Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Bürgergeld Menschen dazu verleitet, nach kurzer Zeit wieder in den Leistungsbezug zurückzukehren." Ausschlaggebend dafür, dass Menschen weiterhin auf Bürgergeld angewiesen seien, seien vielmehr "strukturelle Faktoren". Angeführt werden etwa niedrige Löhne und Teilzeitarbeit.

Kritik an Anpassung der Regeln

Allerdings wurden im vergangenen Dreivierteljahr bereits Teilaspekte der Bürgergeldreform rückabgewickelt oder Regelungen zurückgenommen, etwa bei den Sanktionen, den Zumutbarkeitsregeln oder der Karenzzeit beim Vermögen, die den Betroffenen für einen bestimmten Zeitraum ein bestimmtes Eigenkapital erlaubt. Das sei kontraproduktiv, bemängelt Beckmann. Diesen Kritikpunkt habe er auch bei vielen Gesprächen in Jobcentern als Rückmeldung erhalten.

Die ursprüngliche Ansage, Menschen durch Qualifikation, Weiterbildung und Fortbildung dauerhaft eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen, anstatt sie schnell zu vermitteln, werde so weiter behindert.

Programme wie der "Job-Turbo", der Menschen möglichst schnell in Berufe vermitteln soll, seien mit dem eigentlichen Ansinnen nicht vereinbar. "Es entsteht ein Flickenteppich, der unterschiedliche Signale an die Mitarbeiter des Jobcenters und die Betroffenen sendet", kritisiert Beckmann.

Viele Bürgergeldempfänger "de facto nicht erwerbsfähig"

Doch neben den widersprüchlichen Regeln und dem sehr frühen Zeitpunkt der Bewertung sei auch die Berechnungsgrundlage teilweise irreführend, findet Beckmann. Schließlich gilt eine Person bereits als erwerbsfähig, sobald sie täglich drei Stunden arbeiten kann. "Das ist eine sehr weitreichende Definition. Hierdurch fallen viele Arbeitsplätze und Tätigkeiten weg, auch weil Arbeitgeber sagen, dass eine Person, die nur drei Stunden am Tag arbeiten kann, nicht zu ihren betrieblichen Bedarfen passt", verdeutlicht Beckmann. "Ein gewisser Teil derjenigen, die formal erwerbsfähig sind, ist es de facto nicht."

Ein Hindernis für diese Menschen sei oftmals auch die angeschlagene Gesundheit, die Betroffenen beeinträchtige und für viele Berufe ungeeignet mache. Ohnehin werde der Gesundheitsaspekt in dem Zusammenhang bisher deutlich zu wenig diskutiert und wahrgenommen, findet Beckmann. So sei der gesundheitliche Zustand ein wesentlicher Faktor für viele Bürgergeldbezieher, weshalb sie nicht zurück in den Arbeitsmarkt finden.

Benötigen Menschen etwa einen Therapieplatz oder eine bestimmte gesundheitliche Behandlung, sind aber nicht in der Lage, sich darum zu kümmern, entstehe eine Lücke. "Die Jobcenter fühlen sich dafür nicht zuständig und sie sind es formal auch nicht." Deshalb könne man den Mitarbeitern keinen Vorwurf machen. Vielmehr liegen die Gründe im System. Schließlich gebe es im Sozialstaat für jeden Teilbereich andere Zuständigkeiten. Dabei fehle es manchmal an einem rechtsübergreifenden Angebot, das alle Lebensaspekte berücksichtigt, findet Beckmann.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Fabian Beckmann
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