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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Anschlagsziel Deutschland? Terrorgruppe "hat einen Strategiewechsel vorgenommen"
Ein Ableger des IS hat sich zu dem Anschlag in Russland bekannt. Auch in Europa breitet sich die Gruppe aus. Deutschland steht sich bei der Terrorabwehr jedoch selbst im Weg, sagt Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler.
Es ist nicht das erste Mal, dass der "Islamische Staat"-Ableger in Europa in Erscheinung tritt. Nach den tödlichen Angriffen in einer Konzerthalle nahe Moskau hat sich die Gruppe IS-PK noch am Freitagabend zu den Angriffen bekannt. Mehr zu den Einzelheiten lesen Sie hier.
In den vergangenen Monaten wurden einige von Mitgliedern der Terrorgruppe geplante Angriffe durch Festnahmen verhindert – auch in Deutschland. Wie sich die Gruppe hierzulande ausbreitet und ob Deutschland gut auf mögliche Anschläge vorbereitet ist, erklärt Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler im Gespräch mit t-online.
t-online: Herr Schindler, wer steckt hinter der Gruppe "Islamischer Staat Provinz Khorasan"?
Hans-Jakob Schindler: Die Gruppe ist ein Ableger des "Islamischen Staates", der ursprünglich in Afghanistan entstanden ist und dort hauptsächlich gegen die Taliban operiert. In den letzten zwei Jahren hat der IS-PK allerdings einen Strategiewechsel vorgenommen. Mitglieder verüben nun auch Anschläge im Ausland. Diese sollen möglichst spektakulär und komplex sein, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Wie sieht es in Europa aus?
Seit 2020 wurden immer wieder Terroristen verhaftet und dadurch mögliche Anschläge in Deutschland und Europa vereitelt. Zum Beispiel wollten an Weihnachten Anhänger der Gruppe etwa den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien angreifen. Durch die Verhaftungen kam es nicht dazu.
Wie breitet sich der IS-PK konkret in Deutschland aus?
Sympathisanten terroristischer Gruppen werden auch in Deutschland mit Propaganda aus Afghanistan gefüttert. Dafür nutzen die Milizen alle vorhandenen Kanäle. Außerdem haben Festnahmen gezeigt, dass Zellen von mehreren Personen, die im Ausland ausgebildet wurden, nach Europa geschickt werden. So wurden im vergangenen Sommer beispielsweise sieben Personen in Deutschland verhaftet, die mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine ins Land kamen.
Zur Person
Hans-Jakob Schindler ist Seniordirektor der gemeinnützigen internationalen Organisation Counter Extremism Project (CEP). Bis 2018 war er Chefberater des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu verschiedenen Terrorgruppen und der Entwicklung der globalen terroristischen Bedrohung. Die Entwicklung des IS-PK hat er unter anderem durch zahlreiche Afghanistan-Reisen im Rahmen seiner Tätigkeit mitverfolgt.
Wie schätzen Sie die Terrorgefahr in Deutschland aktuell ein?
Spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat sich die Gefahr erhöht, das zeigt auch die hohe Frequenz der Verhaftungen in letzter Zeit. In Deutschland gibt es einige Tausend Anhänger und Sympathisanten von Terrorgruppen – auch beim IS-PK. Aber: Die internationale Zusammenarbeit funktioniert in dem Bereich sehr gut. Bei allen Festnahmen haben die deutschen Behörden Informationen aus dem Ausland erhalten.
Was für eine Rolle spielt die ohnehin angespannte geopolitische Lage?
Über die anderen Gefahren, wie den Krieg in der Ukraine, sind in der öffentlichen Wahrnehmung die Gefahren des internationalen Terrorismus in den Hintergrund getreten. Um Anhänger und Spenden zu generieren, brauchen die Terroristen allerdings mediale Aufmerksamkeit. Die bekommen sie durch die vielen Krisen weltweit aktuell nicht mehr. Durch die Anschläge wollen sie zurück aufs Radar. Wir dürfen trotz Zeitenwende die Terrorabwehr nicht vernachlässigen.
Konzentrieren sich die Terrorgruppen seit dem 7. Oktober vermehrt auf jüdische Ziele?
Jüdische Ziele waren in Deutschland schon immer gefährdet und sind es sicherlich jetzt noch mehr. Das heißt aber nicht, dass die Terroristen andere Gelegenheiten auslassen. Terrorismus zielt darauf ab, anzugreifen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Wenn ein Großkonzert wie in Moskau nicht richtig geschützt wird, ist das natürlich ein Ziel.
Ist Deutschland gut auf einen Terroranschlag vorbereitet?
In Deutschland ist der Schutz der individuellen Rechte ein hohes Gut. Dies geht in manchen Bereichen zulasten des Schutzes der Gesamtheit. Die deutschen Behörden dürfen wegen des Datenschutzes beispielsweise Informationen nicht einfach weiterleiten oder wichtige Daten abspeichern. Dadurch ist Deutschland zum Teil auf Informationen aus dem Ausland angewiesen.
Zur Europameisterschaft möchte die Bundespolizei stärkere Grenzkontrollen durchführen. Ist das eine sinnvolle Maßnahme?
Grenzkontrollen ergeben schon Sinn. Allerdings muss der Polizei dabei klar sein, nach wem sie sucht. Im Schengenraum ist es einfach, Grenzen zu überschreiten, also beispielsweise in ein Nachbarland zu fliegen und dann mit dem Auto oder Zug nach Deutschland zu fahren. Bei internationalen Großveranstaltungen wie der EM ist dies eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. Die zeitlich beschränkte Wiedereinführung der Grenzkontrollen während der EM ist daher sicherlich hilfreich, aber nur eine wichtige Maßnahme und alleine nicht die Lösung des Problems.
Der SPD-Politiker Dirk Wiese hat sogar Grenzschließungen gefordert. Halten Sie einen solchen Vorschlag für gerechtfertigt?
Wollen wir, dass Leute an der EM teilnehmen? Grenzschließungen heißt, dass keiner rein und keiner raus darf. Meiner Ansicht nach ergibt dies wenig Sinn.
- Telefoninterview mit Hans-Jakob Schindler