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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unterwegs mit Joe Biden Ein alter Mann als größte Hoffnung gegen Trump
Kann Joe Biden wirklich Trump schlagen? Die Umfragen sprechen für ihn, doch er wird als Mann von gestern verspottet. Dabei besitzt der Ex-Vize etwas, das ihn noch weit tragen kann.
Es gibt in dieser Geschichte und im großen US-Politzirkus zwei Joe Bidens, und der eine sprintet gerade aus einem Rinderstall auf eine kleine Bühne. Die Augustsonne knallt aufs platte Land in Iowa, aufs ältere Publikum in den Klappstuhlreihen und auf Bidens schütter gewordenes Haar. Er trägt seine Piloten-Sonnenbrille, das Publikum hängt an seinen Lippen.
Biden, 76 Jahre alt und früherer Vizepräsident, ist gleich im Thema: "Es tobt ein Kampf um die Seele unserer Nation", mahnt er. Vier Jahre Donald Trump seien zu reparieren, acht Jahre hingegen würden die USA komplett und unwiderruflich ihre Werte kosten. Seine Botschaft zwischen den Zeilen: Vor diesem Horrorszenario kann nur einer das Land bewahren – nämlich ich.
Und die kommt an. Am Ende wollen ihn die knapp 150 Zuhörer gar nicht mehr gehen lassen. Sie reihen sich auf, sie wollen nicht nur ein Selfie (das auch!), sondern es sprudelt aus ihnen heraus: Ein Mann berichtet, sein Sohn sei gestorben, die Tochter sei aus der Armee ausgeschieden und leide seither an einer Belastungsstörung. Ein weiterer Mann in kurzen Hosen klopft ihm auf die Schulter: "Wir brauchen jemanden mit deinem Charakter im Weißen Haus."
Im Städtchen Boone ist Joe Biden der Mann des Volkes. Einer, der verehrt wird als zutiefst anständiger Typ, das Herz am rechten Fleck.
In allen Umfragen vorn – auch vor Trump
Kein Wunder, dass dem Mann hervorragende Chancen attestiert werden, der nächste US-Präsident zu werden. Zwar wollen so viele Demokraten wie noch nie ins Weiße Haus, doch Biden liegt laut allen Umfragen klar in Führung. Es gibt auch schon Umfragen zur eigentlichen Präsidentschaft, darin liegt Biden um die zehn Prozentpunkte vor Amtsinhaber Trump.
Dieser greift ihn schon hart und regelmäßig an. Denn viele Beobachter schreiben dem Mann aus einfachen Verhältnissen gute Chancen zu, die Stimmen ebenjener Arbeiter in den alten Industriestaaten zurückzugewinnen, die Trump 2016 den knappen Wahlsieg bescherten.
Dieser Joe Biden ist also die beste Hoffnung vieler, die Trump loswerden wollen. Doch es gibt ja noch einen zweiten Biden.
Kein Tag vergeht ohne Patzer
Biden Nummer zwei verhaspelt sich bei seinen Auftritten so regelmäßig, dass seine geistige Fitness in Frage gestellt wird. Der 76-Jährige sagt Margaret Thatcher, wo er Theresa May meint, er bringt Ereignisse zeitlich durcheinander.
Wenn man Biden beim Wahlkampf in Iowa begleitet, vergeht tatsächlich kein Tag ohne diese Patzer, die so viele Schlagzeilen hervorrufen. In dem Bundesstaat im Mittleren Westen finden im Februar die ersten Vorwahlen statt, deshalb verbrachte Biden vier Tage am Stück dort.
Eigentlich haben sich Kandidaten für ihre Auftritte ein festes Redegerüst zugelegt, das sie selbst aufsagen können, wenn man sie um 3 Uhr nachts aus dem Schlaf rüttelt. Biden hat das auch, trotzdem passieren Fehler. Bei einem Auftritt auf der Iowa State Fair missrät ein Standardsatz, der zum Abschlusscrescendo seiner Rede kommt. Bidens Satz lautet: "Wir wählen Wahrheit statt Lügen." Auf der Iowa State Fair wird daraus: "Wir wählen Wahrheit statt Fakten." Neues Futter für die Spötter wie Trump.
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In den Medien laufen die Versprecher gnadenlos in Dauerschleife. Eine Frage, die zunächst nur gemurmelt worden ist, ertönt jetzt unüberhörbar: Ist Joe Biden zu alt?
Obamas Stratege warnt
Würde er die Präsidentschaftswahl tatsächlich gewinnen, zöge er im Alter von 78 Jahren ins Weiße Haus. David Axelrod, der Architekt von Barack Obamas Wahlsieg (der Biden zum Vizepräsidenten machte), warnt bereits: "Wenn Biden durch das Rennen stolpert, werden die Sorgen bei den Demokraten steigen, ob er es wirklich bis ins Ziel schaffen kann."
Biden wirkt tatsächlich wie ein aus der Zeit gefallener Kandidat. Zum einen, weil er nicht bedient, was die von den sozialen Medien getriebene Öffentlichkeit verlangt – nämlich virale Momente. Denn er verhaspelt seine Pointen und gibt ausufernde Antworten. Kein einzelner Versprecher ist für sich gesehen dramatisch, doch jeder Patzer befeuert das Narrativ, dass der Mann zu alt sei.
Wer bei der TV-Debatte zusah, litt förmlich mit
In den bisherigen zwei TV-Debatten der demokratischen Kandidaten machte er keine gute Figur. Als ihn die Konkurrentin Kamala Harris angriff, schaffte ein tattrig wirkender Biden es nicht, sich zu verteidigen. Er gab gar ein hilfloses "Meine Zeit ist abgelaufen“ von sich. Wer zusah, litt förmlich mit.
Zum anderen bietet sein langes Leben im Zentrum der US-Politik, das mit der Wahl in den Senat im Jahr 1972 begann, reichlich Material, ihn als Mann von gestern dastehen zu lassen. Seine Konkurrenten werfen ihm frühere Äußerungen und Haltungen vor, die heute als große Fehler gesehen werden: Dass Biden etwa in den Neunzigern mitverantwortlich für ein Gesetz war, dass vielen schwarzen Drogenkonsumenten unverhältnismäßig lange Gefängnisstrafen eingebracht hat.
Zur aktuell tonangebenden linken, von Identitätspolitik getriebenen Stimmung an der Basis liegt er quer. Deshalb redet Biden lieber über Trump als über seine innerparteiliche Konkurrenz.
Doch das Interessante ist, dass all das seine Anhänger nicht im Geringsten anficht. Vor dem Rinderstall in Boone, Iowa, kommt Phyllis Kraemen gerade von ihrem Selfie mit Biden zurück: "Er ist einfach ein gerechter und anständiger Mann, das ist doch das, was zählt", sagt die 65-Jährige. Sie könne immer noch nicht fassen, was Trump mit dem Land anstelle. Dieses Argument hört man immer wieder, wenn man mit Bidens Anhängern spricht.
Sein Versprechen: Die Nation zusammenbringen
Inmitten der älteren Zuhörer sitzt eine junge Mutter. "Seine Versprecher?", sagt sie etwas belustigt. "Schau doch mal, wer jetzt Präsident ist", sagt sie. Soll heißen: Gegen Trumps teils wirre Äußerungen sind Bidens Versprecher doch Kleinkram.
Und der Vergleich ist nicht ganz falsch: Biden verspricht sich, aber Trump erfindet, verdreht, fantasiert regelmäßig in seinen Auftritten. Wird hier mit zweierlei Maßstab gemessen?
Bidens Wahlkampf zeichnet auch dies aus: Er verurteilt Trump deutlich, er verspricht, das Land wieder zusammenzubringen. "Die Worte eines Präsidenten sind bedeutsam", sagt er. Keine Rede absolviert er, ohne sein Publikum daran zu erinnern, wie Trump vor zwei Jahren die Neonazis beim berüchtigten Aufmarsch in Charlottesville in Schutz genommen hat und wie er Ressentiments gegen Migranten schürt.
Biden bekommt für seine Appelle an das Gewissen der Nation immer wieder eine Menge Applaus. Doch er scheint er sich damit manchmal nicht wohl zu fühlen. "Ich sage das nicht, um Applaus zu bekommen", sagt er dann und würgt damit das Geklatsche ab. Das entzieht seinen Reden die Dynamik, sie strahlen weniger Energie aus als die Auftritte seiner Hauptkonkurrenten Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Kamala Harris.
Versöhnen, aber nichts grundlegend ändern
Dafür überfordert Biden niemanden mit seinen Plänen. Während Sanders und Warren große Eingriffe ins Wirtschafts- und Gesundheitssystem planen, bietet Biden für die Großthemen greifbare, begrenze Vorschläge an: Das System der Krankenversicherung will er nicht von Grund auf neu erfinden, sondern die Reformen unter Obama ausbauen. Bei der Migration will er nicht den Grenzübertritt legalisieren wie so viele seiner Konkurrenten, sondern er will den "Dreamern", den Kindern illegal Eingewanderter, aus der rechtlichen Grauzone verhelfen.
Joe Biden will das Land also zusammenbringen. Radikal verändern will er es nicht.
Für Biden ist es der dritte Anlauf aufs Weiße Haus. 1987 musste er seine erste Kampagne schnell aufgeben, es kam heraus, dass er eine Rede plagiiert hatte. 2008 landete er bei der ersten Vorwahl in Iowa bei blamablen 0,9 Prozent und gab wiederum auf. Sein Segen war, dass Barack Obama ihn im Wahlkampf dann als Vizepräsidentschaftskandidaten auswählte. Scheitert er noch einmal?
Eine große Frage lautet, ob er mit seiner Botschaft der Restoration auch die neue demokratische Wählerbasis von Frauen, Minderheiten und jungen Leuten überzeugt. Schon werden Erinnerungen an Hillary Clintons missglückten Wahlkampf wach, die es nicht schaffte, genügend Stammwähler an die Urne zu bringen, weil ihr ein Teil des Klientels nicht über den Weg traute.
Bidens Zaubermittel
Biden besitzt allerdings ein Zaubermittel, das ihn von vielen Konkurrenten absetzt und ihn noch weit tragen könnte: die viel beschworene Authentizität. Seine Fans halten Biden für eine ehrliche Haut, für jemanden, der sich von niemandem verbiegen lässt. Ein bisschen wie Amtsinhaber Trump. In dieser Hinsicht hat Biden mehr mit ihm als mit Clinton gemeinsam.
Außerdem gelingt es ihm, und das ist selten in der Politik, eine tiefe emotionale Verbindung zu den Wählern herzustellen. Es sind die Schicksalsschläge, die Biden erleiden musste, die ihm dabei helfen.
Die Wähler wissen, dass seine Frau und Tochter bei einem Autounfall ums Leben kamen, direkt nach seiner Wahl in den Senat im Jahr 1972. Den Amtseid als Senator legte er am Krankenbett seiner beiden verletzten Söhne ab. Sie wissen, dass einer von ihnen, Beau, im Jahr 2015 an einem Gehirntumor starb. Biden erwähnt den Krebstod in vielen seiner Reden.
Eine Rolle, die Trump nicht erfüllt
An einem Donnerstagabend spricht Biden im Schulungszentrum einer Gewerkschaft in Des Moines, der Hauptstadt Iowas. Vorn links sitzt eine Frau mit grauen Haaren und einem rosa Jäckchen. Lorraine Garner ist eine Rentnerin aus der Gegend. Fragt man sie, was sie an Biden schätzt, sagt sie: "Er hat so viele Tragödien durchgemacht und deshalb hat er so viel Mitgefühl für seine Mitmenschen." Jetzt seufzt Garner. "Ganz anders als Trump, der hat nichts davon."
Das Doppelmassaker von El Paso und Dayton wirkt noch nach, und Trump weigerte sich wie immer, die eine Rolle zu erfüllen, die dem Präsidenten eigentlich zugeschrieben wird: Des Mannes, der die Nation tröstet. Diese Sehnsucht kann Biden erfüllen.
Garner ist eine typische Biden-Anhängerin. Sie war lange als unabhängige Wählerin und nicht als Parteimitglied registriert. 2017 erst wurde sie zur Demokratin, "wegen Trump". Spricht man sie auf Bidens Patzer an, sagt auch sie: "Wir wissen doch, was er meint."
Momentan ist Bidens Lage gefestigt. Doch wenn sich der Wettstreit in der Partei zuspitzt, werden auch die Angriffe auf den Spitzenreiter heftiger werden. Ob der alte Mann dem noch gewachsen ist, muss sich zeigen. Dessen emotionale Bindung zu seinen Anhängern geht womöglich tiefer als die Begeisterung, die manchen seiner Konkurrenten aktuell entgegen schwappt.
Anhängerin Lorraine Garner ist ohnehin schon einen Schritt weiter. "Das Gerede über Joes Alter ist doch vorbei", sagt sie, "sobald er sich einen jungen Vizekandidaten zulegt."
- eigene Beobachtungen beim Wahlkampf in Iowa
- New York Times Magazine: "Joe Biden Wants to Take America Back to a Time Before Trump"
- Bidens Positionen auf der Wahlkampf-Website