2.000 Migranten auf Lampedusa "Niemand rührt einen Finger, weder in Rom noch in Brüssel"
Mit den sinkenden Zahlen der Corona-Infektionen steigt die Zahl der Migranten-Ankünfte an der italienischen Küste von Lampedusa. In Berlin, Rom und Brüssel stellen sich verdrängte Fragen damit neu.
Sie kommen mit einem Rucksack oder einer Plastiktüte in der Hand in Lampedusa an. Sie klettern aus überfüllten Schlauchbooten und Holzbarken, sie werden auf See von italienischen Patrouillenschiffen an Bord geholt. Mehrere hundert Bootsmigranten mussten Anfang dieser Woche ihre erste Nacht in Europa im Freien auf der Hafenmole der kleinen Insel schlafen. Über 2.100 Männer, Frauen und Kinder waren in nur 24 Stunden eingetroffen. Aufnahme der Daten, Corona-Tests, Transport in ein Auffanglager, auf Quarantäneschiffe oder nach Sizilien: Die Behörden dort sind durchaus geübt – nur diesmal war der Andrang einfach zu groß.
In Italien haben sich die Migranten-Ankünfte 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum insgesamt verdreifacht – auf rund 13.000 bis Wochenbeginn. Auch wenn diese Werte bei weitem nicht vergleichbar sind mit den noch höheren aus der Flüchtlingskrise um 2015/16, klangen die Alarmrufe dramatisch. Das Wetter ist im Mai schön, das Meer ruhiger – und die Corona-Lage in Europa bessert sich. Da wagen wieder mehr Schutzsuchende die gefährliche Überfahrt.
"Der Zustrom hat sich verändert, ich habe das seit Wochen weitergemeldet", klagte der Bürgermeister Lampedusas, Totò Martello, in der Zeitung "La Repubblica". Lange seien es kleine Boote mit 15 bis 20 Personen aus dem nahen Tunesien gewesen. Jetzt würden aus Libyen zweistöckige Fischerboote starten mit 200 oder 300 Passagieren an Bord. Die Regierung in Rom müsse die Sache in die Hand nehmen. "Das ist eine politische Frage."
Musumeci: "Niemand rührt einen Finger"
Der zuständige Regionalpräsident Siziliens, Nello Musumeci, beklagte das Wegdrücken von Verantwortung, obwohl die Überfahrten häufig zur Todesfalle werden. Nach UN-Angaben starben 2021 schon mindestens 511 Migranten auf der Route im zentralen Mittelmeer. "Aber niemand rührt einen Finger, weder in Rom noch in Brüssel", so Musumeci.
Die Regierung Mario Draghis in Rom versucht seit Wochen, die Behörden in Tunesien und Libyen zu strengeren Kontrollen zu bewegen. Im Bürgerkriegsland Libyen geht es auch um die Einhaltung der Menschenrechte.
Noch im Mai will Rom nach Berichten in der EU auf eine verstärkte Übernahme von Menschen dringen. Zwischenzeitlich bremst Italien Hilfsschiffe von privaten Seenotrettern durch Kontrollen und Festsetzungen gezielt aus, wie die Gruppen Sea-Watch und Sea-Eye klagen. "Die EU-Mitgliedsstaaten müssen sofort staatliche Rettungsschiffe in dieses Einsatzgebiet schicken", verlangt Gorden Isler von Sea-Eye.
Wachsende Zuwanderung und offene Fragen
Doch ob solche Appelle fruchten? In Deutschland ist es umstritten, wie viele Bootsflüchtlinge aus Italien und wie viele Menschen aus den Lagern in Griechenland man aufnehmen soll. Unklar ist auch, was mit denjenigen passieren soll, die zwar keinen Schutz erhalten, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Ein Aufreger-Thema wie rund um die Bundestagswahl 2017, als der Familiennachzug einer der Knackpunkte der Sondierungsgespräche war, ist die Flüchtlingspolitik zurzeit aber nicht.
Im Gegenteil: Laut der Umfrage "Die Ängste der Deutschen" gingen die Sorgen im Zusammenhang mit neuer Zuwanderung deutlich zurück. Sie lagen 2020 auf dem niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Ob das dauerhaft so bleibt, lässt sich aber schwer voraussehen. "Das Thema Migration wird auch für die nächste Regierung eine erhebliche Rolle spielen", sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg (CDU). Die Zahl der Asylanträge sei 2020 zwar wegen der Corona-Pandemie gesunken. "Wir sehen aber jetzt schon wieder wachsende Zuwanderung über das Mittelmeer und zudem ein massives Weiterwandern innerhalb Europas vor allem mit dem Ziel Deutschland."
Die Grünen fordern im Entwurf für ihr Wahlprogramm, dass Länder und Kommunen selbstständig – also ohne Einwilligung des Bundesinnenministers – über die Aufnahme von Geflüchteten entscheiden können.
Das Schicksal der Menschen zwischen politischem Gezerre
Dabei sah es schon mal danach aus, als würden sich zumindest einige EU-Staaten zusammenraufen: Im September 2019 einigten sich Malta, Italien, Deutschland und Frankreich auf eine Übergangslösung. Darauf ließ sich jedoch nicht aufbauen. Neben Deutschland und Frankreich beteiligten sich andere nur selten an der Aufnahme von Bootsmigranten. Malta hat inzwischen fast ganz dicht gemacht: 79 Ankünfte zählte Valletta bisher in diesem Jahr.
Die EU-Kommission betont, die Seenotrettung sei nationale Kompetenz. Trotzdem dringt die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf mehr Zusammenarbeit. Deshalb hat sie mit ihren Vorschlägen für eine Reform der EU-Migrationspolitik eine Kontaktgruppe zum Thema aufgesetzt. Seit 2014 seien mehr als 21-000 Menschen auf See gestorben oder würden vermisst. Eine nachhaltige Lösung wäre für Johansson, wenn es auf EU-Ebene nach jahrelangem Streit endlich eine Einigung auf eine Asylreform gäbe. Danach sieht es zeitnah allerdings nicht aus.
Welch beschwerlichen und lebensgefährlichen Weg die Migranten hinter sich haben, die etwa in Lampedusa landen, gerät in dem politischen Gezerre schnell in den Hintergrund. Seit Jahresbeginn stammten die meisten aus Tunesien (15 Prozent), aber auch der Elfenbeinküste (13 Prozent) und sogar aus Bangladesch (10 Prozent) in Südasien. Von dort beträgt die Strecke – wäre es ein Fußweg – nach Lampedusa mehr als 9.000 Kilometer. Berichten zufolge sparen einige von ihnen jahrelang, um die von Schmugglern geforderten Summen von mehreren tausend Euro zahlen zu können.
- Nachrichtenagentur dpa