Eskalation in Äthiopien Amnesty berichtet von Massaker mit Hunderten Toten
Vor einer Woche startete die äthiopische Zentralregierung eine Militäroffensive in der Region Tigray. Dort sind nun laut Amnesty International etliche Zivilisten massakriert worden.
Im Konflikt in der äthiopischen Region Tigray sollen nach Angaben von Amnesty International etliche Zivilisten beim Überfall auf eine Stadt getötet worden sein. Die Menschenrechtsorganisation teilte unter Berufung auf von ihr geprüfte Augenzeugenberichte, Fotos und Videos mit, dass "dutzende" und "wahrscheinlich hunderte" Menschen in der Stadt Mai-Kadra im Südwesten von Tigray einem "Massaker" zum Opfer gefallen seien.
Die Leichen trügen klaffende Wunden, die offenbar von scharfen Waffen wie Messen und Macheten stammten, erklärte Amnesty. Wer für den Angriff verantwortlich war, konnte die Organisation nach eigenen Angaben zunächst nicht herausfinden.
Laut Augenzeugen soll der Überfall von Verbänden verübt worden sein, die mit der Regierungspartei in Tigray, der Volksbefreiungsfront TPLF, verbündet sind. In dem Konflikt um die Region im Norden des Landes bekämpfen sich die TPLF und die Armee der äthiopischen Zentralregierung in Addis Abeba. Die TPLF äußerte sich zunächst nicht zu dem Angriff auf Mai-Kadra.
Zugang für humanitäre Hilfe gefordert
Die Vereinten Nationen appellierten unterdessen an die Regierung in Addis Abeba, einen "sofortigen und ungehinderten" Zugang für humanitäre Hilfe in Tigray zu ermöglichen. Darüber führe die UN-Beauftragte in dem ostafrikanischen Land, Catherine Sozi, Gespräche mit der Regierung, teilte UN-Sprecher Stephane Dujarric in New York mit.
Die die EU-Kommission warnte vor einer humanitären Katastrophe in dem Land. "Die militärische Eskalation in Äthiopien bedroht die Stabilität des ganzen Landes und der Region", sagte der EU-Kommissar für Krisenmanagement, Janez Lenarcic, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Das Risiko, dass die Gewalt sich ausbreite, sei sehr real. "Ich fürchte, dass diese Krise katastrophale humanitäre Folgen für das ganze Land hat."
Deeskalation sei notwendig
Schon vor der Krise seien rund drei Millionen Menschen in Tigray und 15 Millionen Menschen im gesamten Land auf humanitäre Hilfe angewiesen gewesen, sagte der EU-Kommissar. Er verwies auch auf 100.000 Flüchtlinge, die Äthiopien aufgenommen habe. In einer gemeinsamen Mitteilung erklärten der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und Lenarcic, sofortige Deeskalation sei notwendig. Alle Parteien sollten Zurückhaltung üben und ihre Aufrufe zur Vermeidung der Aufstachelung zu Hass und Gewalt bekräftigen.
Der UN-Sprecher Stephane Dujarric appellierte zudem an die zentralen und regionalen Behörden, Flüchtlinge aus Tigray sicher passieren zu lassen und auch die Sicherheit von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen zu gewährleisten. Nach UN-Schätzung sind mehr als zwei Millionen Menschen in Tigray auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Größere Migrationsschübe auch in Europa möglich
Zudem sind sind bereits mehr als 11.000 Menschen in den benachbarten Sudan geflüchtet, seit der äthiopische Regierungschef Abiy Ahmed am Mittwoch vergangener Woche den Militäreinsatz gegen die TPLF gestartet hatte. Abiy erklärte am Dienstag, ein Ende des Armeeeinsatzes sei "in Reichweite". Seither erzielten die Truppen der Zentralregierung nach Angaben des Ministerpräsidenten weitere Geländegewinne.
Die Äthiopien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Annette Weber, sagte dem RND: "Wenn sich der Konflikt regional ausweitet, würde das zu großen Migrationsschüben auch nach Europa führen." Es bestehe das Risiko, dass das Nachbarland Sudan wieder destabilisiert werde. "Alle Beobachter in der Region sind sehr nervös." Niemand gehe davon aus, dass Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali den Krieg gewinnen könne.
600.000 chronisch mangelernährte Menschen
Zuvor hatten auch bereits internationale Helfer vor einer humanitären Katastrophe gewarnt. "Tigray ist von allen Nachschubwegen abgeschottet", sagte Matthias Späth, Landesdirektor der Welthungerhilfe in Äthiopien, der Deutschen Presse-Agentur. Demnach gibt es in der Region im Norden Äthiopiens ohnehin mindestens 600.000 chronisch mangelernährte Menschen. Diese seien wie die restliche Bevölkerung nun für Helfer nicht erreichbar. Man könne nur mutmaßen, wo die schweren Kämpfe stattfänden und wo Hilfskorridore eingerichtet werden könnten, sagte Späth.
Äthiopiens Regierung hatte nach Monaten der Spannungen mit der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) vor einer Woche eine Offensive gegen die Rebellengruppe und Regierungspartei von Tigray begonnen. Wenig ist über die Lage vor Ort bekannt, da Internet und Telefonverbindungen unterbrochen und laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) die Straßen blockiert und die Stromversorgung gekappt sind.
Neuer Regierungschef in Tigray
Die TPLF war die dominante Partei in der Parteienkoalition, die Äthiopien mehr als 25 Jahre lang mit harter Hand regierte. Doch als Abiy 2018 an die Macht kam, entfernte er im Zuge von Reformen viele Funktionäre der alten Garde und gründete eine neue Partei ohne die TPLF. Die TPLF und viele Menschen in Tigray fühlen sich von der Zentralregierung nicht vertreten und wünschen sich größere Autonomie. Unter Abiy – der im Vorjahr den Friedensnobelpreis erhielt – haben die ethnischen Konflikte in dem Vielvölkerstaat Äthiopien mit seinen rund 112 Millionen Einwohnern zugenommen.
Das äthiopische Parlament ernannte am Freitag einen neuen Regierungschef in Tigray. Die Entscheidung kam einen Tag nachdem das Parlament den bisherigen Präsidenten von Tigray, Debretsion Gebremichael, abgesetzt hatte. Gebremichael war im September gewählt worden und ist Chef der Tigray Volksbefreiungsfront TPLF. Die Zentralregierung in Addis Abeba hatte die Wahl allerdings nicht anerkannt, was zu dem militärischen Konflikt geführt hatte.
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters