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Russland gegen die Nato: So sollte sich Deutschland vor Putin verteidigen


Militäranalyst Gady
"Den Russen einen gewaltigen Vorteil verschafft"

InterviewVon Marc von Lüpke

25.10.2024 - 03:32 UhrLesedauer: 8 Min.
Interview
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Ukrainische Haubitze: Andere Staaten könnten sich Russlands Aggression zum Vorbild nehmen.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Haubitze: Andere Staaten könnten sich Russlands Aggression zum Vorbild nehmen. (Quelle: Stringer/reuters)

Krieg herrscht in der Ukraine und im Nahen Osten, die Bedrohung für Deutschland und Europa steigt. Denn militärische Gewalt setzt sich als Mittel der Politik durch, warnt Franz-Stefan Gady. Was nun zu tun wäre, erklärt der Militäranalyst im Interview.

Die friedlichen Zeiten sind vorbei – auch in Europa. Gewaltsam will Russland unter Wladimir Putin Grenzen verändern, weltweit sehen andere Staaten Krieg ebenfalls als geeignetes Instrument an, um ihren Willen durchzusetzen. Höchste Zeit für Deutschland und Europa, sich dieser Tatsache zu stellen und potenzielle Aggressoren durch militärische Abschreckung von Attacken abzuhalten, fordert Militäranalyst Franz-Stefan Gady.

Welche Illusionen herrschen über den Krieg? Weshalb ist Pazifismus alles andere als ein probates Mittel, Krieg zu verhindern? Warum sollte insbesondere Deutschland die Bedrohung ernst nehmen? Diese Fragen beantwortet Franz-Stefan Gady, dessen Buch "Die Rückkehr des Krieges. Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen" gerade erschienen ist, im Gespräch.

t-online: Herr Gady, wie lassen sich Kriege verhindern?

Franz-Stefan Gady: Abschreckung, Abschreckung, Abschreckung. Zumindest was die militärischen Instrumente zur Kriegsverhinderung betrifft. Eine glaubhafte militärische Abschreckung ist die Grundvoraussetzung für eine effektive Verteidigung Europas. Diese erfordert wiederum gut ausgebildete, hochgerüstete Streitkräfte, die einem potenziellen Angreifer signalisieren, dass eine Aggression für ihn selbst immense Kosten verursachen würde.

Das könnte Ihnen den Vorwurf der Kriegstreiberei einhandeln.

Nichts liegt mir ferner. Militärische Abschreckung ist keine Kriegstreiberei, sondern kann als Teil einer effektiven Sicherheitspolitik, zu der auch die Diplomatie und der Dialog mit dem potenziellen Gegner gehören, Kriege verhindern helfen. Warum? Krieg ist keine Naturkatastrophe, die plötzlich über uns hereinbricht, auch wenn das gerade im deutschsprachigen Raum oft so missverstanden wird. Nein, Kriege werden immer bewusst begonnen, ebenso können Kriege bewusst beendet werden. Kriege können darüber hinaus – auch wenn das nicht offen ausgesprochen wird – selbstverständlich gewonnen werden.

Boris Pistorius will Deutschland "kriegstüchtig" machen – für diese Aussage erntete der Verteidigungsminister reichlich Kritik.

Pistorius hat aber sehr recht, Deutschland muss dringend handeln. Auch aus der Verantwortung für seine Bündnispartner heraus. Die militärische Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ist übrigens so niedrig, dass für die nächsten Jahre eher von Nachrüstung denn Aufrüstung gesprochen werden sollte. Die deutsche Antwort auf die zwei Weltkriege war die Ächtung des Krieges, die Folge war ein postheroisches beziehungsweise postkriegerisches Selbstverständnis der Bundesrepublik …

… das aber nur durch den militärischen Schutzschirm der USA möglich war.

Genau. Der konventionelle und nukleare Abwehrschirm der USA ermöglichte diese friedliche Entwicklung: Es war ein prekäres Gleichgewicht des Schreckens mit der Sowjetunion während des Kalten Krieges, nach seinem Ende 1989 genossen Deutschland und Europa weiterhin den Schutz durch die Vereinigten Staaten. Sie fuhren die Friedensdividende ein, aber diese Zeiten sind vorbei.

Zur Person

Franz-Stefan Gady, Jahrgang 1982, ist unabhängiger Militäranalyst. Gady berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den USA unter anderem in Fragen der Zukunft der Kriegsführung. Gady war mehrfach in der Ukraine, in Afghanistan und im Irak, wo er jeweils ukrainische, afghanische Einheiten und Nato-Truppen sowie kurdische Milizen bei Einsätzen begleitet hat. Mit "Die Rückkehr des Krieges. Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen" ist gerade Gadys erstes Buch erschienen.

In Ihrem Buch "Die Rückkehr des Krieges" sprechen Sie von einem in Deutschland und anderen europäischen Ländern verbreiteten "parasitären Pazifismus".

Ich finde die Idee des Pazifismus persönlich sehr sympathisch. Das sage ich als Militäranalyst, der Kriege gesehen hat und sie fürchtet. Aber Pazifismus verhindert eben keine Kriege, erst recht nicht der parasitäre Pazifismus. Dieser baut insgeheim darauf, dass andere die schmutzige Arbeit des Krieges erledigen. Man selbst kann dann mit moralischer Überheblichkeit behaupten, dass man dem Krieg entsagt hätte und Konflikte nur noch friedlich lösen würde. Aber das ist eine Lüge. Diese Haltung ermöglichte den Europäern aber wiederum nur der Schutz durch die Amerikaner, die den Krieg entweder von Europa fernhielten oder wie im früheren Jugoslawien beendeten.

Sie fordern in "Die Rückkehr des Krieges", dass wir wieder lernen müssten, mit Krieg umzugehen. Was wäre die wichtigste Lehre?

Krieg und militärische Stärke wird in großen Teilen der Welt als legitimes Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen angesehen. Krieg ist Politik, wie der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz einst geschrieben hat, Krieg ist aber auch Gewalt. Deswegen brauchen wir die Fähigkeit zur Abschreckung. Der Gedanke von Pazifisten und Friedensaktivisten, dass militärische Stärke per se schlecht sei, ist doch ziemlich naiv. Es ist vielmehr Aufgabe der politischen Klasse, den Bürgerinnen und Bürgern Europas reinen Wein einzuschenken angesichts dieser anarchischen Welt: Ja, wir brauchen Streitkräfte, ja, wir brauchen eine effektive Nachrüstung und eine effektive Sicherheitspolitik, um den Krieg von uns fernzuhalten und unsere Lebensweise und unseren Wohlstand zu erhalten.

"Wille" ist ein zentraler Begriff bei Clausewitz. Daran herrscht in Teilen der deutschen Politik und Politik offensichtlich Mangel bei Steigerung der Fähigkeiten zur Abschreckung.

Die Vorbereitung auf den Kriegsfall wird genauso wie der Krieg selbst durch Willen bestimmt. Der Durchhaltewillen, die Moral ist ungeheuer wichtig. Die beste Ausrüstung nützt nichts, wenn nicht der Wille zum Widerstand da ist. Ich spreche hier auch über meine eigenen Erfahrungen in Afghanistan. Dort hatten die Amerikaner die Afghanische Nationalarmee gut ausgerüstet, aber die weit schlechter bewaffneten Taliban haben gewonnen. Es fehlte schlichtweg der Wille zum Widerstand.

Russland führt einen konventionellen Krieg gegen die Ukraine, gegen Deutschland und andere Staaten setzt es auf die Mittel der hybriden Kriegsführung. Wie verändert sich der Krieg zukünftig?

Die Natur des Krieges wird sich nie ändern, Krieg wird immer blutig sein. Das wird sich auch durch neue Technologien im Kern nie ändern. Krieg wird auch immer durch mehrere Faktoren bestimmt sein, es wird keine Wunderwaffe oder eine Technologie geben, die letztlich allein kriegsentscheidende Auswirkung haben. Diese zeitweilige Fokussierung der öffentlichen Wahrnehmung auf die Mittel der hybriden Kriegsführung hat eine andere Bewandtnis: Es ist pures Wunschdenken, dass neue Fähigkeiten zum Beispiel im Rahmen der Künstlichen Intelligenz helfen könnten, Krieg schneller und unblutiger zu beenden.

Diese Einschätzung dürfte Enthusiasten der Technologie desillusionieren.

Mit meinem Buch möchte ich genau das erreichen, ich habe es aber auch geschrieben, um eine gedankliche Grundlage für ein Umdenken, ein neues Denken in Bezug auf den Krieg anzubieten. Krieg und Frieden, die im Cyberraum, Informationsraum oder auch in der hybriden Kriegsführung verschwimmen? Diese Annahme stimmt nur zum Teil. Krieg wird nach wie vor auch konventionell geführt werden, mit Soldaten in Uniformen, die im Verbund kämpfen. Der Grundbaustein für Streitkräfte ist nach wie vor diese konventionelle Kriegsführung – und die wurde sträflich vernachlässigt in den letzten Jahrzehnten.

Wie ordnen Sie aber die russischen Maßnahmen mit Mitteln des hybriden Krieges gegen Deutschland ein?

Was wir jetzt sehen, sind Operationen unter der Wellenlänge des Krieges. Also psychologische Kriegsführung, Sabotage, Desinformationsoperationen usw. Das werte ich als Unterstützung oder als Vorbereitungsphase für größere Konflikte. Derartige Aktionen können allein langfristig normalerweise noch keinen strategischen Effekt erzielen.

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Kürzlich warnten die deutschen Nachrichtendienste eindringlich vor der Zunahme russischer Spionage und Sabotage in Deutschland.

Russland bereitet sich ernsthaft auf den Konflikt mit der Nato vor. Im Ernstfall würde Deutschland Aufmarschgebiet der Nato-Truppen, zentrale Elemente der Infrastruktur und Logistik wären dann russische Angriffsziele. Dann würde der Krieg nach Deutschland kommen, um es einmal klar auszudrücken: Es würde durchaus auch konventionell angegriffen werden. Marschflugkörper, Drohnen, Raketen würden deutsche Infrastruktur zerstören, Häfen, Bahnhöfe und auch die kritische Energieinfrastruktur. Deutschland erginge es teilweise wie der Ukraine.

Was tun?

Deutschland muss auf jeden Fall massiv in Flug- und Raketenabwehr, elektronische Kampfmittel usw. investieren, um seine kritische Infrastruktur zu schützen. Kriege werden aber letzendlich durch Reserven gewonnen. Wir haben gegenwärtig aber ein massives Kapazitätenproblem bei der Bundeswehr und anderen europäischen Streitkräften. Deutschland muss sich dringend überlegen, die Reserve der Bundeswehr zu stärken. So unrealistisch das politisch auch sein mag.

Wäre der verstärkte Einsatz moderner Technologien wie Künstlicher Intelligenz eine Möglichkeit, dem Mangel an Soldaten zu begegnen?

Diese Technologien werden mehr und mehr Einzug im Militär halten, aber am Ende kommt es auf den Menschen an. Ein praktisches Beispiel von meinen Reisen in die Ukraine: Jede einzelne Drohne, auch wenn sie teilautonom ist, erfordert einen enormen logistischen Aufwand. Gehen wir von einem Infanterieangriff von acht bis 16 Soldaten aus, der von Drohnen unterstützt wird. Dafür braucht es weitere acht bis 16 Soldaten, um die ganzen Drohnen zu bedienen und zu schießen. Das bedeutet, dass sich die Ressourcenverteilung verschieben wird, aber der Krieg wird nicht weniger Menschen brauchen.

Sie warnen eindringlich vor einer Ausweitung des Krieges. Welche Szenarien sind denkbar?

Zunächst müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Zeit der amerikanischen Hegemonie ein für alle Mal vorbei ist. Die USA planen konkret für einen Zweifrontenkrieg, vor allem Russland und China gelten als gefährliche Kandidaten. Man muss immer damit rechnen, dass eine der beiden Großmächte die Gunst der Stunde einer Krise für ein militärisches Abenteuer nutzt. China könnte eine Aktion gegen Taiwan durchführen, wenn es die Vereinigten Staaten anderweitig beschäftigt wähnt. Die USA sind die stärkste Militärmacht dieser Welt, aber ein Zweifrontenkrieg gegen Peking und Moskau wäre auch für sie zu viel.

Die Europäer sollten entsprechend ihre militärischen Fähigkeiten zur Verteidigung ihres Kontinents steigern?

Es ist allerhöchste Zeit. Ich liste in meinem Buch auf, wie viele Truppen die Vereinigten Staaten genau im Kriegsfall mit Russland tatsächlich nach Europa schicken können. Das sind viel weniger, als man denken sollte, denn die USA müssen ebenso ausreichend Truppen zum Schutz der Heimat wie zur Abschreckung Chinas in der Hinterhand haben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Krieg den Russen neben den großen Verlusten auch einen gewaltigen Vorteil verschafft hat.

Welchen?

Die russische Armee kämpft nun seit fast drei Jahren in der Ukraine, sie hat extrem viel Erfahrung gewonnen. Etwa wie man alle möglichen gegnerischen Angriffe abwehrt oder 360-Grad-Verteidigungsanlagen baut. Gleichzeitig gibt es in dieser Hinsicht auf der Nato-Ebene wie der doktrinären Ebene wenig Weiterentwicklung: Die Russen sind uns da deutlich überlegen. Zumindest im Augenblick.

Im Buch skizzieren Sie mehrere Fait-accompli-Szenarien, in denen Russland Nato-Territorium angreift. Was würde dabei geschehen?

Im ersten – kleinen – Fait-accompli-Szenario stellt Russland die Nato vor vollendete Tatsachen. Russische Truppen erobern binnen drei, vier Tagen die litauische Hauptstadt Vilnius, die Nato Enhanced Forward Presence Battlegroup Lithuania, ein Verband mit mehreren Tausend Soldaten, wird dabei geschlagen. Andere russische Großverbände an der Grenze sollen den Gegenangriff der Nato abwehren. Würde dieser Angriff misslingen, könnte Russland Vilnius zur Festung ausbauen, Litauens Hauptstadt wäre Putins Geisel. Die massive Drohung mit einem Atomschlag würde dann wiederum die Nato von einem Angriff abschrecken, ihre Glaubwürdigkeit wäre erschüttert. Dann hätte Russland ein Kriegsziel erreicht.

Wären die Nato-Staaten bereit, den Preis für die Rückeroberung von Vilnius in Form unzähliger toter Soldaten und Zivilisten in Kauf zu nehmen?

Das ist die alles entscheidende Frage. Putin wird möglicherweise auf nukleare Erpressung setzen, das ist klar. Umso wichtiger ist es, nun die politische und gesellschaftliche Debatte über die Rückkehr des Krieges zu führen. Wobei der Krieg niemals weg war, selbst aus Europa war er nicht gänzlich verschwunden. Ich plädiere auch keineswegs für ein unentwegtes Säbelrasseln, mit potenziellen Aggressoren wie der neuen Achse der revisionistischen Mächte wie Nordkorea, dem Iran, China sollte weiter auf diplomatischer Ebene gesprochen werden.

Sie beschäftigen sich als Militäranalyst seit langer Zeit mit dem Phänomen Krieg. Warum?

Eines meiner prägendsten Ereignisse erlebte ich in der Jugend. Ich bin in der Steiermark aufgewachsen, ganz nah an der Grenze zum heutigen Slowenien. 1991 kam es nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes zum 10-Tage-Krieg mit Jugoslawien, ich habe selbst gesehen, wie Einheiten des Österreichischen Bundesheeres deswegen in die Region verlegt wurden. Damals wurde mir das erste Mal bewusst, was es wirklich bedeutet, dass Krieg in einem Nachbarland herrscht. Das Massaker von Srebrenica 1995 an rund 8.000 Bosniaken – fast alle Männer und Buben – hat mich ebenfalls geprägt. Und nicht zuletzt habe ich Verwandte, die im Zweiten Weltkrieg Soldaten gewesen sind, ich war stark mit dem Erbe dieses Konflikts konfrontiert.

Sie wurden später selbst Soldat.

Ja, ich bin bis heute auch Reserveoffizier der österreichischen Armee. Mein Anliegen ist es, Krieg zu verhindern. Ich habe ihn selbst erlebt, jetzt in der Ukraine, vorher im Irak und in Afghanistan. Das hinterlässt irgendwann Spuren. Dabei hatte ich als Militäranalyst das Privileg, nach einiger Zeit wieder nach Hause zurückgehen zu können, anders als etwa die ukrainischen Soldaten heute. In Europa haben wir vergessen, was der eigentliche Zweck einer Armee ist: Krieg gar nicht zuzulassen. Es wäre gut, wenn wir uns wieder daran erinnern. Möglichst schnell.

Herr Gady, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Franz-Stefan Gady via Telefon
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