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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historikerin Anne Applebaum "Bis hin zum völligen Ruin"
Autokratien sind auf dem Vormarsch, Donald Trump könnte bald die Demokratie in den USA auf die Probe stellen. Die Historikerin Anne Applebaum erklärt, welchen Schaden Trump bereits angerichtet hat und wie moderne Autokratien kooperieren.
Die liberale Demokratie schwindet weltweit, während immer mehr Staaten zu Autokratien werden. Bald könnten die USA ebenfalls vor einer autokratischen Herausforderung stehen – falls Donald Trump die Präsidentschaftswahl im November für sich entscheiden sollte. Es wäre ein Erfolg für Staaten wie Russland, die der liberalen Demokratie insgesamt den Krieg erklärt haben.
Die Historikerin Anne Applebaum warnt seit vielen Jahren vor den aggressiven Autokratien, gerade ist ihr Buch "Die Achse der Autokraten" erschienen. Im Interview mit t-online erklärt die künftige Friedenspreisträgerin, warum Trump so unberechenbar ist, wie sich moderne Autokratien als Netzwerk gegenseitig stützen und sich Deutschland und andere liberale Demokratien gegen Manipulation und Unterwanderung wehren können.
t-online: Frau Applebaum, die Zahl der Autokratien wächst weltweit. Wird Donald Trump nach einer möglichen Wiederwahl die USA ebenfalls in Richtung Autokratie lenken?
Anne Applebaum: Donald Trump interessiert sich für ein paar Dinge ganz besonders: seinen persönlichen Ruhm, seine Popularität und sein Geld. Das ist sicher. Was Trump im Falle einer Wiederwahl tun würde, ist dagegen schwer vorherzusagen. Ob sich Trump den Autokraten anschließen würde? Diese Frage wird mir oft gestellt, aber ich kann sie nicht abschließend beantworten. Trump ist ein Opportunist, er ist ein Transaktionalist – immer interessiert an guten "Deals" oder solchen, die er dafür hält.
Mit den Vereinigten Staaten würde Trump erneut die älteste Demokratie der Welt anführen. Zählt das für ihn nichts?
Die Großartigkeit Amerikas und der Wohlstand seiner Bürger bedeuten Trump eher wenig, seine eigene Macht hingegen sehr viel. Er sieht sich nicht als Anführer der demokratischen Welt, die Kleptokratien dieser Welt wird er sicher nicht bekämpfen. Das Internet und die sozialen Medien reformieren? Künstliche Intelligenz mit der Demokratie vereinbar machen? Das würde es alles mit Trump nicht geben. Ich kann auch nicht abschätzen, was er zum Beispiel in der Ukraine täte. Es käme darauf an, wie er den Konflikt zu gegebener Zeit bewerten würde.
Zur Person
Anne Applebaum, Jahrgang 1964, ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitete für renommierte Blätter wie "The Economist" und "The Spectator", derzeit ist Applebaum für "The Atlantic" tätig. Die amerikanisch-polnische Osteuropa-Expertin ist Autorin verschiedener Bücher, für ihr Werk "Der Gulag" von 2003 erhielt Applebaum den Pulitzerpreis. Am 20. Oktober 2024 wird Applebaum für ihr Gesamtwerk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Gerade ist Applebaums neuestes Buch "Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten" erschienen.
Wie groß ist die Gefahr, die von Trump bei einer Rückkehr ins Weiße Haus für die liberale Demokratie in den USA ausginge?
Die Vereinigten Staaten haben ein kompliziertes föderales System. Es gibt eine Grenze, bis zu der ein einzelner Politiker die Kontrolle über staatliche Institutionen übernehmen oder sie untergraben kann. Aber Trump würde es sicherlich versuchen – etwa beim FBI und Justiz- wie Finanzministerium. Es gibt viele Institutionen, die er politisieren will. Für die Demokratie ist Trump ohne jeden Zweifel eine Bedrohung. Ihre grundlegendste Institution, nämlich das Wahlsystem, hat er bereits einmal angegriffen. Dieser Schaden ist angerichtet. Nun versucht er es erneut mit seinen zahlreichen Verbündeten. Etwa mit der Aussage, dass er nur verlieren könne, wenn die anderen betrügen würden. Das macht mir große Sorgen.
Aber das Rennen ist nach wie vor offen.
Niemand kann das Ergebnis voraussagen. Kamala Harris wird sicherlich die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen, ja, aber durch das System der Wahlleute kann es am Ende auf ein paar Tausend Menschen in einem Staat wie Pennsylvania ankommen. Wir wissen nicht, für welche Themen sich diese Leute genau interessieren und was sie bewegt. Deswegen sagen die jetzigen Umfragen über den Ausgang der Wahl im November auch wenig aus. Und deshalb kann derzeit auch niemand wissen, ob den USA eine autokratische Herausforderung bevorsteht.
Ihr neues Buch trägt den Titel "Die Achse der Autokraten". Wie ist so ein moderner autokratischer Staat beschaffen?
Klassisch stellen wir uns einen Schurken an der Spitze eines autokratischen Staates vor, der mithilfe von Armee wie Polizei und der Gewalt, die von diesen Institutionen ausgeht, die Bürger bedroht. Diese Vorstellung kommt in unserer Zeit eher einer Karikatur gleich. Autokratien werden mittlerweile nicht mehr von einem einzelnen Bösewicht gesteuert, sondern von Netzwerken kontrolliert – raffiniert, komplex und kleptokratisch. Sicherheitsapparat, Paramilitärs und Technikexperten sorgen etwa für Kontrolle, Desinformation und Propaganda.
Wie wird eine Demokratie zugunsten eines autoritären Regimes in unserer Gegenwart demontiert?
Da gibt es Beispiele zuhauf. Leider. Viktor Orbán hat es in Ungarn getan, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei. Auch in Polen haben wir es in den acht Jahren erlebt, als die Partei Recht und Gerechtigkeit an der Regierung war. Sie versuchten dort, die Gerichte zu besetzen und das Justizsystem zu untergraben. Sie schränkten die Freiheit der Medien ein. Sie ersetzten fast die gesamte Bürokratie durch ihre Verwandten und ihre Freunde. Sie versuchten, sowohl staatliche Unternehmen als auch staatliche Einrichtungen als Finanzierungsquelle für ihre Partei und für sich selbst zu nutzen. Sie wollten den gesamten Staat politisieren und privatisieren, damit er ihnen dient und nicht dem Land.
Demokratien scheitern also nicht mehr unbedingt durch Staatsstreiche, sondern durch innere Zersetzung?
Das ist der Weg. Wenn er nicht zur Diktatur führt, dann zu wesentlich illiberaleren Regimen, wie wir es in vielen, vielen Ländern gesehen haben. So scheitern heutzutage die Demokratien. Sie scheitern, weil eine demokratisch gewählte Person oder eine Partei beginnt, die Regeln und Normen zu untergraben. Das muss nicht zwingend ein Projekt aus dem rechten Spektrum sein. In Venezuela ist das auch von links passiert. Wenn man die dortigen Vorgänge studiert, sind sie den Vorgängen in Ungarn bemerkenswert ähnlich.
Bitte erklären Sie.
Die Schritte hin zur Kontrolle sind in beiden Ländern vergleichbar: Erst übernimmt man die Kontrolle über die staatlichen Institutionen, dann schließlich das Wahlsystem, Medien und Richter. Wenn man das erst einmal erledigt hat, kann man die politische Landschaft so verändern, dass man nie verliert.
Eine Blaupause für Trump in den USA?
Trump wird durchaus einiges versuchen, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt. Erste Anläufe haben die Republikaner bereits in der Vergangenheit unternommen. Wir werden sehen, wie weit sie gehen werden. Ebenso werden wir sehen, was Trump wirklich ist. Ein Autokrat? Er könnte es gut werden, aber im Moment ist es noch nicht klar.
Zu der von Ihnen beschriebenen "Achse der Autokraten" gehören unter anderem Russland und China, Iran und Nordkorea. Welche Interessen verbinden die nordkoreanischen Kommunisten mit den schiitischen Mullahs in Teheran?
Derartige Autokratien werden von Leuten geführt, die sehr daran interessiert sind, an der Macht zu bleiben. Dafür würden sie alles tun und alles in Kauf nehmen – bis hin zum völligen Ruin ihrer Länder. Zudem wollen sie eine Welt, in der ihr Tun straffrei bleibt – im Inneren und Äußeren. Keine Menschenrechte, kein Rechtsstaat, keine Kontrolle.
Dem Machterhalt gilt auch die von Ihnen im Buch beschriebene Unterstützung, die sich die Autokratien über Grenzen hinweg gewähren.
Diese Regime zeichnen sich durch skrupellose Entschlossenheit aus und nicht durch ideologische Geschlossenheit. Sie haben den unbedingten Willen zum Machterhalt wie zur Bereicherung. Zugleich verfolgen sie einige gleichgeartete Interessen: Sie wollen den Niedergang der Demokratie, die Stabilität der Autokratie, und die Vereinigten Staaten betrachten sie insgesamt als böse. Das macht sie auch so gefährlich, im Gegensatz etwa zu autokratischen Monarchien im arabischen Raum, die kein derart ausgeprägtes Interesse an der Untergrabung der Demokratie haben.
Wie sieht diese gegenseitige Unterstützung konkret aus?
Diese Autokratien helfen sich militärisch durch den Verkauf von Waffen, manchmal auch durch Söldner und andere Formen der Unterstützung. Die Russen in Syrien oder Afrika, oder auch iranische Stellvertreter in verschiedenen Regionen des Nahen Ostens sind Beispiele dafür. Aber auch Technologie wird geteilt: Warum soll eine Trollfarm oder ein gefügiges Medium nur für die Propaganda eines einzigen Diktators trommeln? Warum sollen Technologien, die die Bevölkerung etwa im Internet kontrollieren, nur einem Regime nützen? Im Kalten Krieg war der Ostblock eine Gruppe von Ländern mit einer Ideologie, alles wurde von Moskau aus gesteuert. Heute arbeiten die Länder der "Achse der Autokraten" opportunistisch zusammen. Wenn es ihnen passt.
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Worin besteht Russlands Ziel, worin Chinas?
Die Russen sind an Chaos interessiert, die Chinesen weniger. Eines der Ziele der russischen Invasion der Ukraine besteht darin, ein neues Imperium zu schaffen. Daneben gab es eine Menge Gründe für Putin, die Idee der Demokratie in der Ukraine zu untergraben und zu verhindern, dass sie sich auf Russland ausbreitet. Putin will der Welt zusätzlich etwas beweisen: Er schert sich nicht um die sogenannten europäischen Werte, er betrachtet uns als degeneriert. Chinas Regime geht es wiederum um das, was es als Souveränität bezeichnet: Es reklamiert für sich das Recht, die Uiguren in Xinjiang zu quälen und in Konzentrationslager zu sperren, ohne dass von Amnesty International, den Vereinten Nationen und anderen Staaten Kritik daran geäußert wird.
In Ihrem Buch widerlegen Sie die wiederkehrende Behauptung, dass verbrecherische Regime wie das von Wladimir Putin eigentlich international isoliert wären. Einerseits stützen sich diese Autokratien untereinander, andererseits machen sie auch mit dem Westen lukrative Geschäfte. Wie kann das sein?
Während des Kalten Kriegs gab es nicht sonderlich viele amerikanische oder europäische Wirtschaftsführer oder Finanzmarktgrößen, die an Geschäften mit der Sowjetunion interessiert waren. Im Gegensatz dazu sind Russland und China mittlerweile von großem Interesse für die Geschäftswelt in Amerika, Europa, Australien und Japan. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Wir haben nun all diese Sanktionen gegen Russland, aber sie funktionieren nicht richtig. Schauen Sie sich einmal den rasanten Anstieg der deutschen Exporte nach Kasachstan während der letzten zwei Jahre an.
Was empfehlen Sie?
Wir müssen die Sanktionen durchsetzen. Punkt. Ferner gibt es zu viele von ihnen, sie sollten besser zielgerichtet auf die russische Rüstungsindustrie ausgerichtet sein. Das würde Putin wirklich schmerzen. Letzten Endes läuft es aber darauf hinaus, ob wir Russland wirklich als Gefahr für unsere Sicherheit einschätzen.
Ist es das nicht?
Putin ist ungeheuer gefährlich für uns. Wir denken aber immer noch nicht über die Auseinandersetzung mit Russland nach, als ob unsere eigene Sicherheit davon abhinge. Wenn Deutschland wirklich glauben würde, dass Russland eine physische Gefahr ist, würde es doch alles dafür tun, dass die Russen die elektronischen Komponenten nicht in die Finger bekommen, die sie für neue Waffen brauchen. Oder? Ich sehe nicht, dass das bisher wirklich geschehen ist.
Warum ziehen die westlichen Staaten gegenüber Russland nicht die Daumenschrauben an?
Die europäischen Staats- und Regierungschefs scheuen das Risiko. Sie wollten beispielsweise nicht den Preis für einen vollständigen Ausfall von russischen Gas- und Öllieferungen nach der russischen Vollinvasion der Ukraine zahlen. Wir sind also längst noch nicht bei einer wirtschaftlichen Kriegsführung gegen Russland angekommen, die effektiv wäre. Die Russen haben so viel Material im Krieg verloren. Die wichtige Frage, die nun zu stellen ist, lautet: Wie stellen wir sicher, dass sie dieses Material nicht wieder produzieren können?
Eine Hoffnung war, dass sich womöglich die Menschen im Land selbst gegen Putin erheben würden. Etwa aus Empörung darüber, wie sich das Regime hemmungslos auf Kosten von Staat und Bürgern bereichert. Warum kam es nicht dazu?
In Russland gibt es keinen öffentlichen Raum. Es gibt keinen Ort, an dem man sich als normale Person äußern kann, wenn man das System nicht leiden mag. Den Krieg zu kritisieren, ist illegal. Mehr als 100.000 Menschen wurden deswegen schon festgenommen. Das reicht, um die anderen nachhaltig einzuschüchtern.
Können Sie das Klima in Russland weiter beschreiben?
Der Zweck russischer Propaganda ist es, die Menschen apathisch zu machen. Man zeigt ihnen jeden Tag widersprüchliche und verwirrende Darstellungen der Realität. Es wird konstant und absichtlich gelogen. Und die Leute wissen, dass sie belogen werden. Sie sehen diese schrecklichen Abendtalkshows und sagen sich dann: "Ich will damit nichts zu tun haben. Ich kann nicht nachvollziehen, was wahr ist und was nicht, also bleibe ich einfach zu Hause."
Russische Propaganda und Desinformation wirkt auch in Deutschland. Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) – beide ausgesprochen russlandfreundlich – profitieren auch davon.
Dieser Trend wächst in Deutschland seit Jahren. Politiker der demokratischen Mitte haben das aber weitgehend ignoriert. Bereits 2017 war der russische Einfluss auf die Wahlen in Deutschland zu beobachten. Ein erster wichtiger Schritt war es damals, die russischsprachige Bevölkerung in Deutschland über Pro-Putin-Medien anzusprechen. Die AfD nutzte damals bereits Plattformen wie Twitter fernab der herkömmlichen Medien, um Einfluss zu gewinnen.
Haben Sie einen Ratschlag?
Jahre später ist es nun viel schwieriger, die Wähler noch zu erreichen. Aber es nicht unmöglich. Polen ist dafür ein gutes Beispiel. Mit Optimismus und gezielter Ansprache haben dort trotz ähnlicher Herausforderungen wie in Deutschland die gemäßigten Parteien zuletzt gewonnen. Die Unterstützung für die Ukraine angesichts der Erfolge von AfD und BSW zurückzuziehen? Das wäre das Schlimmste, was Deutschland tun könnte. Denn es würde all die pro-russischen Narrative bestätigen und die Anstrengungen des Kremls belohnen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine "Zeitenwende" verkündet. Aber in den Köpfen vieler Deutscher scheint sie bisher nicht angekommen zu sein. Warum?
Deutschland war ein großer Nutznießer des politischen und wirtschaftlichen Systems, das in den 1990er-Jahren geschaffen wurde. Handel mit Russland, China und der postsowjetischen Welt wurde möglich, ohne über Politik oder Sicherheit nachzudenken. Es herrschte die Vorstellung, dass Wirtschaft irgendwie apolitisch wäre. Man dachte sogar, für die Demokratisierung und Liberalisierung der Welt sei Handel etwas Gutes.
"Wandel durch Handel" à la Willy Brandt ist also endgültig gescheitert?
Es ist nun erwiesen, dass dieses Konzept so nicht funktioniert. Wirtschaft und Handel haben politische Implikationen. Die Russen nutzten das Finanzsystem zum eigenen Vorteil: Sehr wenige Menschen verschafften sich Reichtum, um an der Macht zu bleiben und einen autokratischen, sogar totalitären Staat zu schaffen. Auch die Chinesen verfolgen eine andere Agenda als wir. Sie wollten unser geistiges Eigentum stehlen, unsere Industriesysteme kopieren und darauf ihre eigene Vorstellung von Wirtschaft aufbauen. Wir befinden uns in einer neuen Phase – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik.
Kann Deutschland sich auf diese neue Phase einstellen?
Das hängt davon ab, ob Deutschland ein neues Gefühl für Sicherheitspolitik entwickeln kann. Es gibt militärische Bedrohungen, aber zugleich einen Informationskrieg und einen ideologischen Krieg. Die Welt ist nicht mehr neutral und die Deutschen müssen beweglicher werden, um sich wehren zu können.
Also sind wir am Scheideweg?
Ja. Die Welt, wie sie bis 2014 war, bis zur russischen Invasion der Krim, war nahezu perfekt auf Deutschland zugeschnitten. Deutschland war – wie gesagt – ein gewaltiger Nutznießer der Nachkriegszeit als auch der Zeit nach dem Kalten Krieg. Unter dem Nato-Schirm, ohne eigene Geopolitik, aber mit einer sehr mächtigen Wirtschaft. Diese Ära für Deutschland ist jetzt vorbei.
Wie können sich die liberalen Demokratien gegen die Autokraten wehren?
Es gibt viele Möglichkeiten. Erstens können wir gegen Kleptokratie vorgehen, indem wir Banken daran hindern, Geldwäsche zu erleichtern und anonyme Unternehmen daran zu hindern, Eigentum zu besitzen. Zweitens können wir das Internet regulieren – nicht durch Zensur, sondern indem wir die Algorithmen der sozialen Medien zur Prüfung öffnen und Plattformen zur Verantwortung ziehen für das, was sie veröffentlichen. Wir könnten auch die Regeln für Onlinewerbung ändern, wo Empörung derzeit Klicks und Einnahmen antreibt, um den Onlinediskurs demokratischer zu gestalten.
Noch etwas?
Es braucht einen ganzheitlicheren Ansatz für den Krieg in der Ukraine, indem wir wirtschaftliche Druckpunkte gegen Russland identifizieren und demokratische Verbündete oder sogar eine Koalition williger Nationen um diese Ideen herum organisieren. Wir müssen auch die Abschreckung neu überdenken – also wie man autokratische Aggression verhindert. Möglicherweise gelingt uns das, indem wir unser Denken über das Militär anpassen und unsere Verteidigungsproduktion erhöhen.
Wie steht es mit internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen?
Die internationalen Institutionen des 20. Jahrhunderts sind heute nicht mehr effektiv. Wir sollten uns darauf konzentrieren, Koalitionen williger Länder für spezifische Projekte zu schließen. Das alte Modell, bei dem jede Nation zustimmen muss, funktioniert nicht mehr. Jedes Land sollte auch seine wirtschaftlichen Verbindungen zu Autokratien neu bewerten anhand der Fragen: Dient das unseren Bürgern und verbessert das unsere Sicherheit?
Um die eigene Sicherheit zu verbessern, sollte man sich auf einen zukünftigen US-Präsidenten Trump vorbereiten. Womit müssen wir rechnen?
Trump war im Laufe der Jahre nur in wenigen Dingen konsistent. Eines davon ist seine Besessenheit von Russland. Das andere ist die Überzeugung, dass die USA Zeit und Geld mit ihren Alliierten verschwendet haben. Er schrieb schon in einem seiner Bücher: "Warum haben wir unsere Zeit im Zweiten Weltkrieg damit verschwendet, diese Menschen zu verteidigen?" Und Trump liebt die Idee von Zöllen, obwohl er die Wirtschaftlichkeit dahinter gar nicht versteht. In seiner ersten Amtszeit konnte er viele dieser Ideen nicht umsetzen, weil er nicht verstand, wie der Regierungsapparat funktioniert. Und er hatte Menschen um sich, die seine Ansichten über den Austritt aus der Nato oder die Ausrichtung auf Russland nicht teilten. Aber es könnte sein, dass er es in einer zweiten Amtszeit tut.
Halten Sie die Gefahr eines Nato-Ausstiegs für wahrscheinlich?
Für meinen Podcast "Autokratie in Amerika" habe ich John Bolton, Trumps ehemaligen Sicherheitsberater, interviewt. Er erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 2018, als er auf dem Weg zu einem Nato-Gipfel mit Trump war. Im Auto dreht sich Trump zu ihm und sagt: "Okay, John, wir werden heute Geschichte schreiben. Wir treten aus der Nato aus." Sofort riefen sie Verteidigungsminister James Mattis an. Gemeinsam überzeugten sie Trump irgendwie davon, dass ein Nato-Austritt schlecht für seine Umfragewerte sei. Aber Trumps Instinkt ist ein Nato-Austritt.
Trump scheint insbesondere von Deutschland besessen zu sein. Warum eigentlich?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens mochte er Angela Merkel nicht. Diese Antipathie beruht wohl zum Teil auf seinem Sexismus und seiner Abneigung gegen mächtige Frauen in der Politik. Aber er scheint auch besessen von deutschen Autos zu sein. Trump fragt sich ständig: "Wie kommt es, dass jeder Mercedes fährt?" oder “Warum gibt es keine Chevrolets in München?" Die simple Antwort ist: Mercedes ist ein großartiges Auto, ein Chevrolet eher nicht. Ich besitze übrigens kein Automobil.
Frau Applebaum, wir danken für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Anne Applebaum via Videokonferenz