Bürgerkrieg in Syrien Rebellen nehmen symbolträchtige Stadt ein
Die islamistischen Rebellen in Syrien sind wohl nur wenige Kilometer von Homs entfernt. Arabische Länder sollen Assad zum Verlassen Syriens drängen.
Die islamistischen Kämpfer in Syrien rücken offenbar weiter rasant im Land vor. Nach ihrer Einnahme der Großstädte Aleppo und Hama im Nordwesten des Landes befänden sich die Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) und ihre Verbündeten nur noch fünf Kilometer von der Stadt Homs entfernt, erklärte am Freitag die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dscholani bekräftigte das Ziel, Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen.
Syrische Quellen berichten außerdem von ersten Kämpfen in der Hauptstadt Damaskus. Es soll Schüsse in der Nähe von Assads Präsidentenpalast und Explosionen am Verteidigungsministerium gegeben haben. Außerdem soll Rauch aus dem Gebäude des Staatsfernsehens aufsteigen. Währenddessen nutzen auch die kurdischen Streitkräfte das Chaos für weitere Geländegewinne.
Nach einem Bericht des "Wall Street Journal" haben ägyptische und jordanische Diplomaten Assad geraten, das Land zu verlassen und eine Exilregierung einzurichten. Die Frau des syrischen Diktators soll sich ebenso wie seine drei Kinder bereits in Russland befinden, ein Schwager soll in den Vereinigten Arabischen Emiraten Zuflucht gesucht haben.
Berichte: Auch Daraa eingenommen
Die islamistischen Rebellen haben zuvor bereits die Kontrolle über die südliche Stadt Daraa erlangt, den Ausgangspunkt des Aufstands gegen Präsident Baschar al-Assad im Jahr 2011. Es ist die vierte Stadt, die seine Streitkräfte innerhalb einer Woche verloren haben. Rebellenkreisen zufolge einigte man sich auf einen geordneten Rückzug des Militärs aus Daraa.
Ein Abkommen gewährt Armeeangehörigen sicheren Durchzug in die etwa 100 Kilometer nördlich gelegene Hauptstadt Damaskus. Daraa, das vor Beginn des Bürgerkriegs vor 13 Jahren mehr als 100.000 Einwohner hatte, ist als Wiege des Aufstands von symbolischer Bedeutung. Es ist die Hauptstadt einer Provinz mit rund einer Million Einwohnern, die an Jordanien grenzt.
Sicherheitskräfte der Regierung hätten zuvor Posten und Stützpunkte verlassen, berichtete die Beobachtungsstelle, die mit einem Netz aus Informanten das Kriegsgeschehen im Land verfolgt. Die Aufständischen riefen demnach Angehörige der syrischen Streitkräfte zum Überlaufen auf.
Armee und pro-iranische Gruppen ziehen sich zurück
Nach Angaben der Beobachtungsstelle haben sich die Regierungstruppen auch aus der Stadt Homs zurückgezogen. Regime-treue Milizen seien jedoch weiterhin in der drittgrößten Stadt Syriens stationiert. Syrische Militärkreise wiesen die Berichte über einen Truppenrückzug zurück. Die syrischen Streitkräfte seien weiterhin in Homs und Umgebung präsent. Das Militär hatte zuvor bereits ähnliche Berichte dementiert, als die Rebellenoffensive die Stadt Hama erreicht hatte. Militärblogger berichten, dass die Rebellen außerdem die Stadt Salamiyah westlich von Homs eingenommen hätten.
Homs ist nach Damaskus und Aleppo die drittgrößte Stadt des Landes. Auf dem Weg Richtung Homs seien die HTS und ihre Verbündeten in die Städte Rastan und Talbisseh eingedrungen, erklärte die Beobachtungsstelle. Es sei eine "völlige Abwesenheit" von Truppen der Assad-Regierung in diesen beiden Städten festzustellen gewesen.
Sollten die Islamisten auch Homs einnehmen, würde dies die Verbindung zwischen der im Süden gelegenen Hauptstadt Damaskus und der Mittelmeerküste abschneiden. An der Küste liegen zahlreiche Hochburgen der Assad-Familie.
Am Freitag zog sich laut der Beobachtungsstelle die Armee auch aus der im Osten des Landes gelegenen Stadt Deir Essor zurück. Die "Regimekräfte" hätten sich gemeinsam mit Anführern verbündeter pro-iranischer Gruppen "plötzlich" aus Deir Essor und dessen Umland zurückgezogen, ganze Konvois mit Soldaten bewegten sich in Richtung Zentralsyrien, teilte der Chef der Beobachtungsstelle, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP mit.
Auch die iranische Armee hat offenbar begonnen, Militärkommandeure und Personal aus Syrien zu evakuieren. Laut eines Berichts der "New York Times" sind unter den Ausgereisten auch hochrangige Kommandeure der mächtigen iranischen Quds-Brigaden, dem externen Zweig des Korps der Revolutionsgarden. Auch Angehörige der Nationalgarde, einige iranische Diplomaten, deren Familien und iranische Zivilisten wurden evakuiert, so iranische Beamte.
Russen-Jets bombardieren Rebellen
Das syrische Verteidigungsministerium erklärte seinerseits, es habe in der Provinz Hama "Fahrzeuge und Versammlungen" von "Terroristen" beschossen. Dabei seien Artillerie, Raketen und syrische wie russische Kampfflugzeuge zum Einsatz gekommen, hieß es.
Angesichts des Vorrückens der Islamisten äußerten die in Teilen von Nordsyrien herrschenden kurdischen Kräfte ihre Bereitschaft zu Gesprächen. Die Offensive deute auf eine "neue politische und militärische Realität" hin, sagte der Anführer der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Maslum Abdi, vor Journalisten. Die SDF wollten ihre "Probleme" mit der HTS und der ihr nahestehenden Türkei "durch Dialog" lösen.
Durch die jüngsten Kämpfe wurden nach Angaben der UNO 280.000 Menschen in die Flucht getrieben. Wie der Chef der Notfallkoordination des Welternährungsprogramms (WFP), Samer Abdel Jaber, erklärte, könnte diese Zahl auf 1,5 Millionen steigen. Laut der Beobachtungsstelle für Menschenrechte verließen alevitische Syrer aus Furcht vor den Islamisten "massenhaft" ihre Wohnviertel in Homs.
Jordanien und Irak fordern Bürger zur Ausreise auf
Jordaniens Regierung hat im Zuge der Eskalation im syrischen Bürgerkrieg ihre Staatsbürger zur Ausreise aufgefordert. Laut einer Erklärung des Außenministeriums sollen jordanische Staatsangehörige so schnell wie möglich das Nachbarland verlassen. Aus Sicherheitsgründen wurde am Freitag bereits einer von zwei Grenzübergängen geschlossen.
Auch der Irak rief seine Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich bei den diplomatischen Vertretungen zu registrieren, sollten sie die Ausreise planen. Eine explizite Aufforderung sprach Syriens östliches Nachbarland Irak aber nicht aus, wie aus einem Bericht der Staatsagentur INA hervorgeht. Das US-Außenministerium forderte ebenfalls Bürger auf, das Land zu verlassen, solange es noch kommerzielle Flüge gebe.
Rebellen-Anführer: Ziel ist "Sturz des Regimes"
HTS-Anführer al-Dschulani bekräftigte in einem Interview mit dem US-Sender CNN das Ziel seiner Gruppierung, Assad zu stürzen. "Wenn wir über Ziele sprechen, bleibt das Ziel der Revolution der Sturz dieses Regimes. Es ist unser Recht, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen", sagte al-Dschulani.
Nach Jahren verhältnismäßigen Stillstands im syrischen Bürgerkrieg hatten vor einer Woche die HTS und mit ihr verbündete Gruppierungen die Großoffensive im Nordwesten des Landes gestartet. Es sind die intensivsten Kämpfe seit vier Jahren. Der Bürgerkrieg war im Jahr 2011 durch Proteste gegen Assad ausgelöst worden.
Kurden-Streitkräfte kontrollieren wichtige syrische Stadt
Neben der HTS und ihren Verbündeten haben auch die von Kurdenmilizen angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) Geländegewinne verzeichnet. Aktivisten zufolge konnten die kurdischen Streitkräfte eine strategisch wichtige Stadt in Ostsyrien unter ihre Kontrolle bringen. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte, nahmen die SDF Dair as-Saur am Freitag ein. Regierungstruppen hatten sich demnach zuvor zurückgezogen.
Die Stadt, früher Hochburg der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen Syrien und dem Irak. Im Jahr 2017 wurde sie von der syrischen Armee mit Unterstützung Russlands zurückerobert.
Erdoğan hofft auf Rebellen
Angesichts des Vormarschs der islamistischen Regierungsgegner wollen sich am Samstag die Außenminister der Türkei, des Iran und Russlands treffen. Das Treffen werde in der katarischen Hauptstadt Doha im sogenannten Astana-Format stattfinden, hieß es aus Kreisen des Außenministeriums in Ankara. Das Astana-Format ist eine Plattform für Verhandlungen über die Zukunft Syriens.
Die Außenminister von Iran, Irak und Syrien trafen sich bereits am Freitag. Der syrische Außenminister Bassam al-Bassagh warf den Feinden seiner Regierung vor, "die politische Landkarte neu zeichnen" zu wollen. Zwar sicherte der iranische Außenminister Abbas Araghtschi zu, die verbündete Assad-Regierung mit "jeglicher Unterstützung" zu versorgen.
Der Iran und Russland sind wichtige Verbündete Assads. Die Türkei teilt eine lange Landgrenze mit Syrien und hat fast drei Millionen Flüchtlinge von dort aufgenommen. Ankara unterstützt seit Jahren Aufständische im Norden Syriens, bemühte sich jedoch in den vergangenen Monaten um eine Annäherung an die Regierung des Nachbarlandes.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan drückte am Freitag seine Hoffnung auf einen problemlosen Vormarsch der Islamisten in Syrien aus. Er erklärte: "Idlib, Hama, Homs und natürlich das Ziel, Damaskus: Der Vormarsch der Oppositionellen geht weiter. Wir wünschen uns, dass dieser Vormarsch ohne Zwischenfälle fortgesetzt wird."
Die Bundesregierung brachte ihren Wunsch zum Ausdruck, dass es eine "politische Lösung" für Syrien geben wird. Assad sei der "Kopf eines Regimes, das in der Vergangenheit vor nichts zurückgeschreckt hat" und "ein furchtbarer Massenmörder", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts.
- bild.de: "Fällt Assad noch heute?" vom 6. Dezember 2024
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP