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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Situation im Westjordanland "Wir schlagen unsere Feinde mit beispielloser Kraft"
Neben dem Gazastreifen steht auch das Westjordanland unter palästinensischer Kontrolle. Auch hier kommt es immer wieder zu Zusammenstößen. Wie könnte sich die Militäroperation auf das Gebiet auswirken?
Am vergangenen Samstag richtete die Terrororganisation Hamas das schlimmste Blutbad unter Zivilisten seit der israelischen Staatsgründung an. Nach dem Angriff der Islamisten im Grenzgebiet zum Gazastreifen holte Israel zum Gegenschlag aus. Seitdem fliegt das Militär Luftschläge auf Ziele im Gazastreifen. Zudem könnte es zu einer Bodenoffensive der israelischen Truppen in dem Gebiet im Süden des Landes kommen.
Zur palästinensischen Autonomieregion zählt nicht nur der Gazastreifen im Süden. Auch das Westjordanland – im englischen Sprachraum Westbank genannt – im Osten und Ost-Jerusalem gehört zur palästinensischen Verwaltungszone. Seit den Terrorattacken der Hamas vor einer Woche kam es im Westjordanland immer wieder zu Zusammenstößen.
Die israelische Armee führt verstärkt Razzien in dem Gebiet durch. Nach eigenen Angaben wurden dabei in der vergangenen Woche 280 Palästinenser festgenommen. Bei 157 soll es sich den Angaben zufolge um Anhänger der Hamas handeln. Mehr zur Hamas lesen Sie hier. Bei den Zusammenstößen waren neben dem israelischen Militär auch Siedler beteiligt. Bisher sollen dabei 54 Palästinenser im Westjordanland und Ost-Jerusalem getötet worden sein. 1.100 weitere sollen verletzt worden sein. Die Informationen wurden vom Gesundheitsministerium in Ramallah bereitgestellt.
Experten vermuten, dass nicht nur im Gazastreifen, sondern anschließend auch im Westjordanland eine Militäroperation bevorstehen könnte. Diese sei notwendig, um die Terrororganisation Hamas endgültig zu zerstören. Ob die israelische Armee das bewerkstelligen könnte, darüber sind sich die Fachleute jedoch nicht einig. Was würde eine Eskalation der Lage im Westjordanland für Israel bedeuten?
Über 50 tote Palästinenser im Westjordanland, in einer Woche – Das ist eine sehr hohe Zahl.
Steven Höfner
Wie ist die Situation in der Westbank?
Israel zeigt im Westjordanland eine starke Sicherheitspräsenz. Der Staat verfügt über ein Netzwerk an Kontrollpunkten in der Region. Teils sind die Posten permanent, teils temporär.
Eine genaue Anzahl werde von den Sicherheitskräften aber nicht bekannt gegeben, wie der arabische Fernsehsender Al-Jazeera schreibt. Außerdem würden neue Ad-hoc-Posten oft ohne Vorankündigung über Nacht entstehen.
Insgesamt leben in den Palästinensischen Gebieten rund 5,35 Millionen Menschen, 2,2 Millionen davon im Gazastreifen und 3,1 Millionen im Westjordanland. Das Westjordanland ist in drei Zonen unterteilt: A, B und C. Die Zonen regeln die Zuständigkeit der Behörden von Palästina und Israel.
Die Zonen im Überblick:
- Zone A: Circa 18 Prozent des Westjordanlands befinden sich in dieser Zone. Hier sind auch die meisten größeren palästinensischen Städte. Kontrolle über Sicherheit und Ziviles haben hier die palästinensischen Behörden.
- Zone B: Circa 22 Prozent des Westjordanlands liegen in dieser Zone, in erster Linie Dörfer und Kleinstädte. Innere Sicherheit und Zivilangelegenheiten regeln hier Palästinenser und Israelis zusammen.
- Zone C: Circa 60 Prozent des Westjordanlands liegen in dieser Zone. Hier befinden sich israelische Siedlungen, Militärübungsgelände und Naturschutzgebiet. Innere Sicherheit und Zivilangelegenheiten obliegen hier ausschließlich Israel.
Was könnte die Offensive im Gazastreifen für das Westjordanland bedeuten?
Die Eskalation im Süden Israels, rund um den Gazastreifen, könnte sich auch auf die Westbank auswirken. Mit Blick auf eine drohende Bodenoffensive im Gazastreifen geht der Sicherheitsanalyst Zoran Kusovac davon aus, dass es für das israelische Militär schwer werden könnte, alle Stützpunkte in der Westbank aufrechtzuerhalten. Seine Analyse wurde bei Al-Jazeera veröffentlicht.
Kusovac schätzt, dass die israelische Armee allein 50.000 Soldatinnen und Soldaten benötigt, um alle Kontrollpunkte in der Westbank aufrecht zu halten. Das sei ein Drittel der Armeestärke in Friedenszeiten. Für den Einsatz direkt in den Siedlungen rechnet der Experte mit 30.000 bis 50.000 Einsatzkräften.
Insgesamt würden hier also bis zu 100.000 Soldaten benötigt. Die veränderte Gemengelage, die sich daraus ergibt, könnte die israelische Besetzung von Teilen des Westjordanlands auf die Probe stellen, meint Kusovac. Zuletzt hatte Israel zusätzlich 300.000 Reservisten eingezogen. Auch aus anderen Ländern sind Israelis in das Land im Nahen Osten gereist, um sich an der Militäroffensive zu beteiligen.
Westjordanland: Folgt der Angriff nach der Offensive in Gaza?
Am Freitag äußerte sich Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu erneut zu der militärischen Offensive. "Wir schlagen unsere Feinde mit beispielloser Kraft", so der Ministerpräsident. Und weiter: "Ich betone, dass dies erst der Anfang ist." Ziel Israels sei es, die Hamas zu zerstören. Netanjahu sprach davon, dass seine Armee den Kampf zwar gewinnen werde, dieser aber Zeit brauchen würde. "Ich werde unsere Pläne nicht näher erläutern, aber ich sage Ihnen, das ist erst der Anfang", so der Präsident.
Steven Höfner leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah. Das Büro ist für die Palästinensischen Gebiete zuständig. Aufgrund der Sicherheitslage musste er die palästinensische Autonomieregion zuletzt verlassen.
"Die Hamas zu zerstören, bedeutet notwendigerweise auch eine groß angelegte Militäroperation im Westjordanland", sagte Steven Höfner, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah, t-online. Aufgrund der Sicherheitslage verließ Höfner zuletzt selbst die palästinensische Autonomieregion. Vor seiner Abreise habe er eine "sehr angespannte Stimmung" in der Hauptstadt der Westbank, Ramallah, wahrgenommen. Menschen hätten sich bereits auf harte Wochen vorbereitet und beispielsweise Vorräte eingekauft.
Höfner: "Viele Menschen haben Angst, dass es als Nächstes das Westjordanland trifft." Anders als im Gazastreifen gibt es aus dem Westjordanland noch einen offenen Grenzübergang, über den Menschen nach Jordanien können. Diese Option würden laut Höfner bereits einige Palästinenser nutzen. Allerdings gäbe es auch viele, die nicht fliehen wollen. "Ich würde nicht davon ausgehen, dass alle Palästinenser die Flucht ergreifen würden", so Höfners Einschätzung.
- lpb-bw.de: "Die Geschichte Palästinas"
- aljazeera.com: "Analysis: Israel’s Gaza invasion could test its occupation of the West Bank"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters und dpa
- Interview mit Steven Höfner