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Zum journalistischen Leitbild von t-online.USA wollen Sicherheitszonen Flucht aus Gaza: "Wir werden sterben und nicht gehen"
Israel steht wohl kurz vor einem Einmarsch in den Gazastreifen. Die Bevölkerung wird zur Flucht aufgefordert. So ist die Situation.
Israel setzt seine Luftangriffe auf den Gazastreifen fort. Bisher sollen bereits über 1.500 Menschen bei den Angriffen aus der Luft getötet worden sein, wie es vom Gesundheitsministerium in Gaza heißt. Zudem seien laut den Vereinten Nationen bereits 400.000 Menschen aus dem Gazastreifen geflohen. Die Angriffe auf den Gazastreifen sind eine Reaktion auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober.
Vor dem Hintergrund einer möglichen Bodenoffensive hat das israelische Militär mehr als eine Million Menschen im Gazastreifen dazu aufgerufen, innerhalb von 24 Stunden in Richtung Süden zu fliehen. "Das Militär ruft alle Zivilisten von Gaza-Stadt auf, ihre Häuser zu ihrer eigenen Sicherheit und zu ihrem Schutz nach Süden zu verlassen", sagte Armeesprecher Jonathan Conricus am Freitag. Mehr zu einer möglichen Bodenoffensive lesen Sie hier.
Der Gazastreifen wird schnell zu einem Höllenloch und steht am Rande des Zusammenbruchs.
Philippe Lazzarini, Generalkommissar des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA)
Die Menschen sollen sich in ein Gebiet südlich des Wadis Gaza begeben, das etwa in der Mitte des nur 40 Kilometer langen Gebiets liegt. Alleine in Gaza-Stadt lebt rund ein Viertel der Bevölkerung des Gazastreifens. Insgesamt sind rund 1,1 Millionen Menschen von dem Aufruf betroffen, was etwa der Hälfte der Bevölkerung entspricht. Die Weltgesundheitsorganisation und die Vereinten Nationen stemmen sich gegen eine Massenevakuierung.
Israel setzt neues Ultimatum bis Samstagnachmittag
Die UNRWA ist seit 1949 im Gazastreifen aktiv. Sie leistet humanitäre Hilfe und bietet Schutz für palästinensische Geflüchtete. Doch die Organisation ist dabei nicht unumstritten. Es gibt regelmäßig Kritik daran, dass sie kein neutraler, humanitärer Akteur sei, sondern mit Konfliktgruppen sympathisiere oder sich für deren Zwecke instrumentalisieren lasse.
Ein Sprecher der Armee appellierte zwischenzeitlich erneut an die Zivilbevölkerung in Gaza, in den Süden des Gazastreifens zu fliehen. In einem Beitrag auf X, früher Twitter, teilte er eine Karte, die einen sicheren Fluchtkorridor anbieten soll. "Ich teile Ihnen mit, dass die israelische Armee zwischen 10 und 13 Uhr davon absehen wird, die vorgesehene Achse anzugreifen", schrieb Avichay Adraee. "Nutzen Sie zu Ihrer Sicherheit die kurze Zeitspanne, um vom nördlichen Gazastreifen und Gaza-Stadt nach Süden nach Khan Yunis zu ziehen." Einen Tag später erneuerte der Sprecher seinen Appell, den Norden zu verlassen. Alle aktuellen Entwicklungen lesen Sie im Newsblog.
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Hamas ruft dazu auf, sich der Evakuierung zu widersetzen
Nach der israelischen Aufforderung hatte die radikalislamische Hamas die Bevölkerung in Gaza-Stadt und dem Norden des Gazastreifens dazu aufgefordert, sich der Evakuierungsaufforderung zu widersetzen. Sie sollten zu Hause bleiben, sagte ein Sprecher des Hamas-Innenministeriums auf einer Pressekonferenz. "Wir werden sterben und nicht gehen." Auch die Moscheen rufen die Menschen dazu auf, ihre Wohnungen nicht zu verlassen.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas lehnt eine Evakuierung der Bevölkerung ebenfalls ab. Er bezeichnete die israelische Evakuierungsaufforderung für den nördlichen Gazastreifen als "angeordnete Vertreibung".
Die Terrorgruppe Hamas hat Unterstützer in der Bevölkerung des Gazastreifens. Doch längst nicht alle stehen hinter ihr. In einer im September durchgeführten repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung gaben 38 Prozent der im Gazastreifen Befragten an, die Partei der Hamas zu unterstützen. Von 59 Prozent der Befragten im Gazastreifen wurden die palästinensischen Behörden als eine Last für das palästinensische Volk wahrgenommen.
Welche Schwierigkeiten könnte es bei der Evakuierung geben?
Bereits kurz nach dem Hamas-Angriff auf Israel versuchten Menschen aus dem Gazastreifen zu fliehen. Im Zuge der israelischen Gegenoffensive wurde eine Blockade des Gazastreifens verhängt. "Zuvor gab es zwei Grenzübergänge nach Israel, einen für den Warenverkehr und einen für den Personenverkehr. Beide sind seit Beginn der Terrorangriffe geschlossen", sagte Steven Höfner, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah, t-online. Seit Dienstag ist auch der einzige von Ägypten kontrollierte Grenzübergang bei Rafah infolge von israelischen Angriffen geschlossen. Mehr zu dem Grenzübergang lesen Sie hier.
Das 365 Quadratkilometer große Gebiet grenzt im Süden an die ägyptische Sinai-Halbinsel. Zum Vergleich, Köln hat eine Fläche von knapp über 400 Quadratkilometern. Der Norden des Gazastreifens, für den die israelische Warnung ausgesprochen wurde, ist der am dichtesten besiedelte Teil des Gazastreifens.
Höfner dazu: "Der Gazastreifen ist nicht groß. Es bleiben nur wenige Kilometer, die Menschen nach Süden gehen können. Es wäre also eine Verlagerung – keine wirkliche Flucht." Weiter im Süden würde es zudem an Unterkünften und Schutzräumen fehlen. "Im Süden des Gazastreifen befindet man sich immer noch mitten in einem Kriegsgebiet", sagt der Experte.
Im Gazastreifen wird die Situation von Tag zu Tag angespannter. Neben den Bombardierungen durch die israelischen Streitkräfte hat die Zivilbevölkerung dort auch mit Nahrungsmittelengpässen zu kämpfen. Experten gehen davon aus, dass der Gazastreifen sich rund zehn Tage selbst versorgen kann. Bereits seit sechs Tagen gibt es eine Blockade der Region. "Es droht eine Hungerkatastrophe", sagt Höfner.
Wie könnte eine mögliche Fluchtroute aussehen?
In einem Gespräch mit US-Außenminister Antony Blinken forderte Palästinenserpräsident Abbas die Einrichtung von humanitären Korridoren in den Gazastreifen, um ein humanitäres Desaster zu verhindern, wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa meldet. Ein solcher Korridor wäre aus der Sicht von Höfner sehr schwer umzusetzen.
"Ein Fluchtkorridor kann auch von Terroristen genutzt werden", so Höfner. Aufgrund dessen wird Ägypten wahrscheinlich auch sehr vorsichtig agieren. "Ein Fluchtkorridor nach Ägypten kann nur ein selektives Vorgehen bedeuten – offene Grenzen auf keinen Fall", sagt Höfner. Hintergrund ist die Verflechtung der ägyptischen Opposition rund um die Fraktion des ehemaligen Machthabers Mohammed Mursi mit der Hamas. Beide vertreten den Islamismus der Muslimbrüder. Höfner: "Präsident Sisi wird nicht das Risiko eingehen, dass Anhänger der Hamas nach Ägypten strömen könnten". Mehr über die Feinde Israels in Nord und Süd lesen Sie hier.
Steven Höfner: Er leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah. Das Büro ist für die Palästinensischen Gebiete zuständig. Aufgrund der Sicherheitslage musste er die palästinensische Autonomieregion zuletzt verlassen.
Vor dem Hintergrund der Lage im Gazastreifen gab US-Außenminister Antony Blinken bekannt, dass sich die USA in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen um die Schaffung von Sicherheitszonen bemühen würden. "Wenn es darum geht, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu versorgen, müssen wir sowohl dafür sorgen, dass sie nicht in Gefahr gerät, als auch dafür, dass sie Zugang zu Unterstützung erhält", sagte Blinken am Freitag in Katars Hauptstadt Doha. Wie diese Sicherheitszonen konkret aussehen könnten, wurde bisher nicht mitgeteilt.
Die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten ist durch eine Grenzanlage schwer gesichert. Es sollen nach israelischen Angaben auch Tunnelsysteme existieren, die unter anderem als Schmuggelrouten für die Hamas genutzt werden sollen. Angriffe in der Nähe des Grenzübergangs Rafah begründete die israelische Armee zuletzt mit der Existenz solcher Tunnel. Präsident Abd al-Fattah as-Sisi ließ nach seinem Amtsantritt viele dieser Tunnel fluten, auch "als Zeichen gegen die Hamas", so Höfner.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Gespräch mit Steven Höfner von der Konrad-Adenauer-Stiftung