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Exil-Oppositioneller über Drohnen-Attacke auf Kreml: "Das war eine Warnung"


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Russischer Oppositioneller
"Dann können wir die Tage herunterzählen"

InterviewVon Clara Lipkowski

Aktualisiert am 07.05.2023Lesedauer: 8 Min.
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"Gemessen an dem, was die Menschen heute in Russland erleben, war das nicht rabiat": Garri Kasparow ist seit 20 Jahren aktiver Putin-Gegner. (Quelle: Eventpress Rekdal via www.imago-images.de)
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Lange war Garri Kasparow Schachweltmeister, heute kämpft er gegen Wladimir Putin. Ein Gespräch über Oppositionsarbeit im Exil, Drohnen über dem Kreml und die Notwendigkeit, warum die Ukraine siegen muss.

Garri Kasparow hebt das Wasserglas kurz ins Licht, bevor er einen Schluck nimmt. Das mache er immer so, sagt er. Er fürchtet um seine Sicherheit, denn russische Oppositionelle leben unter Diktator Wladimir Putin gefährlich, selbst wenn sie, wie er, im Exil sind.

Kasparow ist als sowjetischer Schachweltmeister in die Geschichte eingegangen, heute aber als Oppositioneller aktiv. Er lebt in New York und besucht Anfang Mai den Tegernsee, wo er beim Ludwig-Erhard-Gipfel den Freiheitspreis der Medien verliehen bekommt. Am Rande des Gipfels nimmt er sich in einem Nebensaal Zeit für ein Gespräch. An der Tür steht ein Leibwächter, das Wasser ist unbedenklich, es kann losgehen, auf Englisch.

t-online: Herr Kasparow, Sie haben den rabiaten Umgang mit Putinkritikern in Russland hautnah erlebt. Bei Verhaftungen, bei Demos. Einmal schlug man Ihnen, dem Schachweltmeister, sogar ein Schachbrett auf den Kopf.

Garri Kasparow: Ja. Das war 2005, eine klassische Provokation. Gemessen an dem, was die Menschen heute in Russland erleben, war das aber nicht rabiat. Das war ein junger Mann, mit Brille. Er öffnete das Brett, damit ich darauf unterschreibe. Ich fragte mich noch, warum hat er die Figuren drin gelassen? Mir dämmerte dann, damit das Brett schwerer ist. Es roch neu, er hatte es gerade erst gekauft, für genau diesen Zweck. Kurz danach kursierten Bilder von dem Schlag, gleich aus zwei Blickwinkeln. Putins Schergen haben nur darauf gewartet, wollten wohl, dass ich wütend werde und ihn schlage. Aber ich habe nichts unternommen und ihn laufen lassen.

Sie arbeiten seit 20 Jahren als russischer Oppositioneller gezielt gegen Putin. Heute ist der Kremlchef mächtiger denn je, er führt einen Krieg gegen die Ukraine. War all Ihr Bemühen vergebens?

Das hängt davon ab, wie man Erfolg misst. Als ich meinen Kampf im Jahr 2005 begann, nach dem Ende meiner Schachkarriere, war ich schon viele Jahre Putingegner und habe explizit vor ihm gewarnt. Ich wusste, dass ich einen schweren Kampf ausfechten werde, aber ich habe getan, was ich für richtig hielt. Für mein Land und mein Gewissen. Das endete im Exil.

Wie bei so vielen Oppositionellen.

Ja. Menschen, die mit mir friedlich auf der Straße demonstriert haben, sind jetzt größtenteils weg aus Russland. Andere sind im Gefängnis, so wie Alexej Nawalny, oder tot wie Boris Nemzow. Doch was ich getan habe, war richtig. Und sehen wir uns die Situation doch an: Die russische Opposition ist derzeit in ihrer besten Verfassung seit vielen Jahren.

Ist sie das? Man hört genau das Gegenteil.

Das ist sie. Die Opposition macht sich keine Illusionen mehr. Es gibt keinerlei Erwartungen mehr, dass wir diese Regierung positiv beeinflussen können. Der 24. Februar 2022 hat alle Illusionen getötet. Erst vor wenigen Tagen gab es in Berlin eine große Versammlung, geleitet von Michail Chodorkowski. Wir haben eine Erklärung unterzeichnet. Ja, sie ist schwach; natürlich kann so eine Erklärung nur ein Kompromiss sein. Aber sie enthält Schlüsselelemente, die uns als Opposition vereinigt, deswegen habe ich unterschrieben.

Sie fordern darin die komplette Befreiung der Ukraine …

… und die vollständige Rückgabe aller illegal annektierten Territorien. Und dazu zählen selbstverständlich auch Sewastopol und die gesamte Krim. Wir fordern Reparationszahlungen Russlands. Wir wollen, dass die Kriegsverbrecher vor ein Gericht gestellt und nach Russland entführte ukrainische Kinder wieder zu ihren Familien zurückgebracht werden. Putins Regime ist kriminell und muss liquidiert werden. Das alles ist da. Das ist ein großer Schritt vorwärts.

Wird es weitere gemeinsame Aktionen geben?

Ja. Im Juni ein weiteres Treffen in Brüssel, organisiert von der EU. Das Ziel ist, die russische Opposition mit den Chefs der EU zusammenzubringen, mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, der EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Das ist der nächste Schritt. Dann wird es um Nachkriegsszenarien gehen.

Der Krieg tobt aber noch weiter. Ist es dafür etwas zu früh?

Klar ist: Wir als Opposition sind abhängig von dem Sieg der Ukraine. Wir kämpfen nicht um Wählerstimmen, wir kämpfen für den Sieg. Und echte russische Patrioten müssen der Ukraine dabei helfen. Das ist die allererste Voraussetzung für jede Art von Veränderung in Russland.

Aber in der russischen Opposition gibt es verschiedene Lager und heftigen Streit. Manche suchen Nähe zu Alexej Wenediktow, den Chef des kremlkritischen Senders Echo Moskwy, der heute unter anderem Putin und dessen Sprecher, Dmitri Peskow, in Schutz nimmt. Auch Nawalny bleibt umstritten. Verstehen Sie, dass Menschen in der Ukraine der russischen Opposition wegen solcher Dinge nicht über den Weg trauen?

Das verstehe ich besser als irgendwer sonst. Denn ich bin wahrscheinlich die einzige Person, die niemals Deals mit dieser Regierung unterzeichnet oder verhandelt hat. Okay, abgesehen von den jüngeren Unterstützern, die wir haben. Aber: Oppositionsarbeit kann man nicht allein machen. Man braucht Verbündete. Deswegen ist die unterzeichnete Erklärung so wichtig. Jeder, der unterschreibt, ist ein Verbündeter. Es ist nicht an mir zu urteilen, was diese Menschen in der Vergangenheit gemacht haben.

Mit der Unterschrift verpflichten sie sich unseren Zielen, also lasst uns damit arbeiten! Ich hatte viele Diskussionen mit vielen von ihnen, mit Sergej Gurijew etwa, (ehemaliger Berater und Redenschreiber des früheren Interimspräsidenten Dmitri Medwedew, d. Red.) schon vor Jahren. Oder schauen Sie auf Alexej Nawalny ...

... dem unter anderem vorgeworfen wird, dass er die Rückgabe der Krim an die Ukraine infrage gestellt hat.

Ja. Aber er hat seine Einstellung über die Jahre grundlegend verändert. Es gibt russische Intellektuelle, die diese Deklaration nicht unterzeichnen. Aber wir haben klare Forderungen und ziehen dafür eine entsprechende Linie. Wer uns unterstützen will, muss sie überschreiten.

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(Quelle: IMAGO/Frank Hoermann / SVEN SIMON)

Garri Kasparow

Kasparow hat armenische und jüdische Wurzeln, besitzt einen kroatischen Pass, spricht Russisch und betrachtet sich als Russe. Er wuchs in der Aserbaidschanischen SSR auf und lebte lange in Russland. Von 1985 bis 2000 war er Schachweltmeister, 2005 beendete er seine Profikarriere. Seitdem ist er als russischer Oppositioneller aktiv. 2008 gründete er mit Boris Nemzow die außerparlamentarische Oppositionsbewegung Solidarnost. 2012 wurde er Vorsitzender des internationalen Rates der Human Rights Foundation (HRF). 2013 verließ er Russland. 2014 nahm er die kroatische Staatsbürgerschaft an. Er ist Gründer der "Renew Democracy Initiative" und Buchautor. Er lebt im Exil in New York.

Derzeit ist allerdings die Sorge vor einer weiteren Eskalation groß. War die Drohnenattacke auf den Kreml eine russische False-Flag-Operation, eine Täuschungsaktion Russlands unter falscher Flagge?

Ich vermute die Ukraine dahinter. Es war weniger eine Attacke, es war eine Warnung: Dass es die Ukraine bis zum Roten Platz schafft, dass ihre Drohnen bis zum Kreml reichen – und das alles nur wenige Tage vor dem 9. Mai, der Siegesparade der Sowjetunion über Nazi-Deutschland. Das sollte wohl einige russische Beamte nervös machen.

Es gibt aber doch auch einige gute Argumente für die False-Flag-Theorie.

Aber ehrlich, dass Russland so eine Provokation nutzt, um noch mehr Russen zu mobilisieren, um Kiew zu attackieren, um ukrainische Städte zu zerstören, halte ich für unwahrscheinlich. Denn Fakt ist ja: Russland zerstört bereits ukrainische Städte, es braucht keine weitere Provokation! Wollten sie in Russland die neue Mobilisierung rechtfertigen, würden sie russische Wohnhäuser bombardieren. Denn sobald russische Bürger sterben, kann sich Putin hinstellen und vollmundig Rache versprechen. Aber jetzt sieht diese Attacke auf Putin für normale Bürger so aus, dass er ein Ziel ist. Das schwächt Putin. Ich würde mein Geld darauf verwetten, dass es eine ukrainische Warnung war.

Sie haben den Zusammenbruch von Putins Regime für 2023 vorausgesagt. Stehen Sie immer noch dazu?

Also, ich muss ehrlich sagen, ich hatte erwartet, dass der Westen deutlich aggressiver Waffen liefert. Sicher ist: Das Putinregime wird nicht lange überleben, wenn erst einmal die ukrainische Flagge in Sewastopol gehisst ist. Dann können wir die Tage herunterzählen. Schon von dem Moment an, wenn ukrainische Truppen auf die Krim vordringen, wird das Regime brüchig.

Sie haben Kanzler Scholz' Zaghaftigkeit heftig kritisiert. Inzwischen werden Panzer geliefert, Waffen, Munition. Ist er immer noch zu langsam?

Meine Kritik zielte immer auf akute Lieferungen. Ich habe stets anerkannt, wie schwierig die ganze Debatte für jemanden wie ihn, aus seiner Generation, sein muss, mit der deutschen Geschichte im Hinterkopf. Die Debatte widersprach allem, was er seit Kindheitstagen gelernt hatte. Und dann dieser dramatische Wandel. Auch jetzt wünsche ich mir, dass er aggressiver vorginge, dass er schneller handelte, im Sinne der Ukraine. Aber am Ende des Tages verstehe ich die politischen Einschränkungen.

Das heißt, Sie sind jetzt zufrieden?

Der Trend geht in die richtige Richtung. Und deutsche Panzer kommen sogar schneller als die aus den USA. Man muss ja auch beachten: Er ist der Kanzler nach Gerhard Schröder und Angela Merkel. Niemand hätte danach eine revolutionäre Politik erwartet. Und geht man noch weiter zurück, hat er sogar die deutsche Politik der letzten 50 Jahre umgekrempelt, im Grunde seit der Ostpolitik von Willy Brandt. Dafür wird ihm die Geschichte Anerkennung zollen.

Ihr Mitstreiter und Ex-Oligarch Michail Chodorkowski hat relativ genaue Szenarien für ein Russland nach Putin vorgelegt. Ein Ziel: starker Föderalismus. Sie haben mögliche Gebietsverluste ins Spiel gebracht. Warum?

Kollabiert ein Imperium, gehen damit immer starke Separationsbestrebungen einher. In Tatarstan ist der Nationalstolz sehr ausgeprägt. In Baschkortostan ist es dasselbe. Seien wir realistisch: Zumindest sollte man darauf vorbereitet sein. Denn das russische Imperium wurde aus vielen Regionen geformt. Sollte der Nordkaukasus sich abtrennen wollen – oder Tschetschenien … Sagen wir es so: Würde ich sie ermutigen? Natürlich nicht. Würde Russland zerfallen, wäre das die schwierigste Lösung. Denn das Land würde höchstwahrscheinlich nicht in, beispielsweise 15 Demokratien zerfallen, sondern in ein paar Demokratien und vor allem in lokale Diktaturen; manche mit Zugang zu Nuklearwaffen.

Ein beunruhigendes Szenario.

Vor allem den USA bereitet das Sorge. Und dann ist da noch China: China würde Regionen zu seinen Satelliten machen und noch mächtiger werden. Für die geopolitische Stabilität wäre es hundertmal besser, Russland bliebe so intakt wie möglich. Deswegen macht Chodorkowski da einen guten Punkt: Ein starker Föderalismus würde bedeuten, auf gemeinsamem Boden zu leben und zu kooperieren.

Sie sagten mal, dass Sie einem Nachkriegsrussland zur Verfügung stünden. Aber nicht für ein politisches Amt. Mit was für einem Posten dann?

Ich werde nicht zur Wahl antreten. Und Russland wird nicht an Tag 1 nach dem Krieg wählen. Es wird eine Übergangsphase geben. Wann waren in Deutschland die ersten freien Wahlen nach dem Krieg? 1949?

Ja, 1949.

Das macht vier Jahre. In Russland wird es ähnlich sein. Für diesen Übergang müssen wir Russland vorbereiten und dabei kann ich eine wichtige Rolle spielen. Dann wird es um Verbindungen, Netzwerke, den Ruf unseres Landes gehen. Ich kann Michael Chodorkowski und anderen helfen, ein neues Russland aufzubauen, ein friedliches, das wirtschaftlich wächst und mit dem Westen arbeitet.

Also eher als Berater im Hintergrund?

Wir kennen die Struktur dieses Russlands nach Putin noch nicht.

Aber wer soll das neue Russland aufbauen? Hunderttausende haben das Land verlassen. Der Mittelstand? Die Propaganda frisst sich in das Innerste der Menschen, allen russischen Lebens.

Im Moment funktioniert die Propaganda, weil die Menschen glauben, dass sie den Krieg gewinnen. Deswegen ärgert es mich auch, wenn ich von westlichen Politikern höre: "Putin hat den Krieg schon verloren." Sagen Sie das mal Putin, er weiß das nicht! Und mehr als Hundertmillionen Russen wissen das auch nicht! Deswegen ist der Zeitpunkt der Niederlage so wichtig, der "1945-Moment". Der wird die absolute Desillusionierung.

Und Sie glauben, danach würden sich die Russen in Richtung Demokratie bewegen?

Ja. Nicht, weil sie von den westlichen Werten so überzeugt wären. Aber weil sie pragmatisch sind. Und diesen Pragmatismus berücksichtigt Chodorkowski in seinem Konzept. Und, übrigens, deswegen ist ein Tribunal gegen Putin auch so wichtig. Denn von einem offiziell anerkannten Kriegsverbrecher wenden sich enge Vertraute ab – und die Bevölkerung ebenfalls. Und suchen nach Alternativen.

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Sie leben in New York. Dort wird die Unterstützung für die Ukraine, für einen Krieg, der sehr weit weg ist, teils kontrovers diskutiert und auch Kürzungen der Militärlieferungen werden gefordert. Fürchten Sie, das könnte die Ukraine den Sieg kosten?

In den USA gibt es die Wählerstimmen am Rand, links wie rechts, und klar, es gibt Donald Trump. Aber ich sehe kein Risiko, dass Militärhilfen gekürzt werden. Was ich aber sehr wohl fürchte, ist, dass die Regierung von Präsident Joe Biden einen ukrainischen Sieg auf das Jahr 2024 hinauszögern könnte – wegen der dortigen Wahlen. Die USA könnten Waffenlieferungen verzögern, weil das besser in den politischen Kalender passt. Aber: Der Konsens der Unterstützung ist da. Im November oder Dezember kommen US-Panzer in die Ukraine.

Herr Kasparow, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Garri Kasparow am 4. Mai 2023
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