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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Chef Lars Klingbeil Seine Hoffnung ruht auf einer Zahl
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Die SPD schlittert bei der Wahl auf die 15-Prozent-Marke zu. Für die Parteispitze wäre es auch eine persönliche Schlappe. Trotzdem könnte einer gestärkt aus der Sache hervorgehen: Parteichef Lars Klingbeil.
Kaum zu glauben in diesen Tagen, aber es gibt sie noch: Veranstaltungen der SPD, auf denen gute Laune herrscht. Das liegt sicher auch an den 12 Grad Celsius, der Sonne und dem frühlingshaften Lüftchen, das durch Osnabrück an diesem Freitag weht. Doch vor allem ist es einem Mann geschuldet, der trotz des aktuellen Stimmungstiefs noch Säle füllt: Lars Klingbeil, Parteichef der Sozialdemokraten.
Rund 150 Leute sind am Freitag in das Theater am Domhof gekommen, zur Dialogreihe "Klingbeil im Gespräch". Hauptsächlich ältere Menschen, aber auch ein paar Studenten treiben sich herum. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD Osnabrück, Volker Witte, begrüßt den Parteichef und das Publikum euphorisch. Er sei ganz "baff" und "hoch entzückt" darüber, wie viele heute gekommen seien, sagt er.
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Wittes Ziel ist offenbar, die Stimmung gleich zu Beginn hochzupeitschen. Der CDU-Kandidat im Wahlkreis zittere, der von den Grünen ohnehin. "Wir sind in Schlagweite", konstatiert der Ortsvorsitzende – und prophezeit "eine große Überraschung".
Letzte Hoffnung: Unentschlossene
Doch jenseits von solch warmer Wahlkampfrhetorik glauben in der SPD nur noch wenige an eine Überraschung. Seit Monaten liegen die Genossen in den Umfragen bei 15 oder 16 Prozent, nichts scheint sich zu bewegen.
Die Hoffnung der Parteispitze beruht daher vor allem auf einer Zahl: 27 Prozent. So viele Menschen wissen jüngsten Erhebungen zufolge noch nicht, was sie wählen sollen. Ein riesiges Reservoir potenzieller SPD-Wähler, glauben die Parteistrategen.
Auch Klingbeil, der jetzt auf die Theaterbühne tritt und rund 20 Minuten spricht, nimmt die Zahl mehrmals in den Mund. Die Botschaft: Da geht noch was auf den letzten Metern.
An den Osnabrücker Wahlkreiskandidaten der SPD, Thomas Vaupel, der zuvor ein paar Grußworte gesprochen hat und jetzt mit Klingbeil auf der Bühne steht, verteilt er reichlich Vorschusslorbeeren. "Der Letzte, mit dem ich hier auf der Bühne stand, war Boris Pistorius bei der Landtagswahl 2022. Das ist ja ganz gut gelaufen", scherzt Klingbeil. Pistorius sei Innenminister geblieben und später Verteidigungsminister geworden. "Insofern ist die Bühne gar nicht so schlecht für dich."
Lachen im Saal. Auch Vaupel grinst, der Vergleich schmeichelt ihm. Pistorius ist nicht nur seit zwei Jahren der beliebteste Politiker des Landes, sondern wird vermutlich auch die Zukunft der SPD maßgeblich mitbestimmen. Kann die Magie der Osnabrücker Bühnenbretter auf Vaupel überspringen?
Gut gebrauchen könnte er sie: Nach der neuesten Wahlkreisprognose fehlen ihm nur noch wenige Prozentpunkte, um den CDU-Konkurrenten, einen gewissen Mathias Middelberg, einzuholen.
"Die Chinesen ballern Milliarden rein"
Klingbeils Hauptthema im Osnabrücker Theater ist die Industriepolitik: Er wisse, wie "wahnsinnig stark" die Industrie in der Region sei, und dass es vielen Betrieben nicht gut gehe. Umso wichtiger sei es, dass die nächste Regierung sich mehr um Industriearbeitsplätze im globalen Wettbewerb bemühe. "Ich will nicht, dass wir uns in die nächste Abhängigkeit von China reinbegeben", warnt der SPD-Chef.
Klingbeil betont die Bedeutung des "Made in Germany"-Bonus, mit dem der Staat den Unternehmen bei Investitionen in Deutschland zehn Prozent der Kosten erstatten soll. Ohne staatliche Subventionen könne Deutschland auf dem Weltmarkt nicht bestehen, so Klingbeil. "Die Chinesen ballern Milliarden rein."
Klingbeil arbeitet sich auch an der politischen Konkurrenz ab. So bestehe das Wirtschaftskonzept von Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz vor allem darin, dass er Windräder hässlich finde und die E-Mobilität sowie grünen Stahl infrage stelle. "Ich frage mich sowieso, wie man dem so viel wirtschaftspolitische Kompetenz zuschreiben kann", sagt Klingbeil über Merz. "Frage ich mich auch!", ruft jemand im Publikum dazwischen. Die Reizfigur Merz – sie funktioniert auch hier in Osnabrück.
"Jetzt seid ihr dran"
Doch Klingbeil übt auch Selbstkritik. Die letzten drei Jahre in einer SPD-geführten und letztlich gescheiterten Regierung lassen sich auch in einer SPD-Veranstaltung nicht wegreden.
Manchmal sei der Eindruck entstanden, dass sich die Sozialdemokratie mehr um das Bürgergeld gekümmert habe als um die arbeitende Mitte, sagt Klingbeil nachdenklich. Doch künftig soll es wieder mehr um die "Fleißigen und Anständigen" im Land gehen, verspricht er: "Jetzt seid ihr dran."
Drohende Wahlschlappe
Die Reihe "Klingbeil im Gespräch" betreibt der SPD-Chef seit Jahren. Gerade im Wahlkampf bewährt es sich als nützliches Format, um den Kontakt zur Parteibasis zu halten und Parteifreunde in ganz Deutschland mit gemeinsamen Auftritten zu unterstützen.
Klingbeil könnte sein dicht gestricktes Netzwerk in der SPD bald gut gebrauchen. Bei der Wahl am Sonntag droht der Noch-Kanzlerpartei eine historische Wahlschlappe. Sollte sie mit 15 oder 16 Prozent durchs Ziel rauschen, steht den Genossen eine Personaldebatte ins Haus.
Nach t-online-Informationen könnte das bereits am Sonntagabend der Fall sein: Nach der "Berliner Runde" mit den Spitzenkandidaten der Parteien, die um 21.15 Uhr endet, will sich das SPD-Präsidium mit Olaf Scholz im Willy-Brandt-Haus beraten. Bei einem besonders bitteren Ergebnis könnte das höchste Gremium der SPD noch in der Nacht personelle Konsequenzen ziehen. SPD-Chefin Saskia Esken steht schon länger parteiintern in der Kritik, als mögliche Nachfolgerin wird Saarlands Ministerpräsidentin Anke Rehlinger gehandelt.
Noch ist alles offen
Und Klingbeil? Eskens Co-Vorsitzender gilt zwar trotz der turbulenten letzten Monate als gesetzt für den Übergang. Das liegt auch daran, dass es in der SPD derzeit kaum jemanden gibt, der Klingbeil als Parteichef ersetzen könnte oder ernsthaft herausfordern würde. Ein Vakuum, das dem Niedersachsen in die Karten spielt. Das gilt allerdings nicht für jedes Szenario: Bei einem Ergebnis von 14 Prozent oder darunter dürfte es auch für Klingbeil brenzlich werden.
Wie t-online und "Tagesspiegel" kürzlich berichteten, hatte Klingbeil im vergangenen November, als die Kanzlerkandidaten-Debatte der SPD hochkochte, mehrmals versucht, Kanzler Olaf Scholz von einem Verzicht auf die Kandidatur zu überzeugen und stattdessen Pistorius einzuwechseln. Ob Klingbeil das nützt oder schadet, wird sich die nächsten Tage zeigen. Fest steht: Auch er muss die nächsten Tage um seine Karriere kämpfen.
"Warum sollte Saskia Esken für eine Wahlniederlage bestraft werden, aber nicht Lars Klingbeil? Beide tragen als Parteivorsitzende Verantwortung", sagt einer aus dem SPD-Vorstand. Heißt: Dass Esken alleine die Konsequenz für Wahlniederlage tragen soll, ist nicht für alle ausgemacht.
Anschlussfähig an alle Lager
In Osnabrück kämpft Klingbeil also auch für sich und die Möglichkeit, nach dem 23. Februar die Zukunft der SPD weiter mitzugestalten. Man merkt ihm die Leidenschaft an, mit der er für seine Positionen streitet, aber ebenso seine taktische Zurückhaltung bei umstrittenen Themen. Klingbeils Devise scheint dabei zu sein: Stets alle Strömungen der SPD ansprechen, bloß niemanden verprellen.
Die Passage zum Bürgergeld zeigt das ganz gut: Klingbeil sagt nicht, das Bürgergeld müsse grundlegend reformiert oder gar gekürzt werden, etwa um den Lohnabstand zu den Arbeitnehmern zu vergrößern. Sondern, dass die SPD sich neben den Bürgergeld-Beziehern künftig verstärkt um die arbeitende Bevölkerung kümmern werde. Die Botschaft: Keiner soll verlieren, manche nur mehr gewinnen.
Einer aus dem linken Parteiflügel sagt über den SPD-Chef: "Klingbeil redet eine halbe Stunde vor 100 Leuten und am Ende mögen ihn alle." Das liege auch daran, dass der Parteivorsitzende in der Öffentlichkeit allzu kantige Positionen meide, auch wenn er diese durchaus vertrete, etwa in der Verteidigungs- und Innenpolitik, so der Parteilinke zu t-online.
Sozialdemokratisches Uhrwerk
Klingbeil kommt zugute, dass der Kern der deutschen Sozialdemokratie auch in der Krise wie ein reibungsloses Uhrwerk operiert: Man hält zusammen, betont den gemeinsamen Kampf, hofft auf das Beste. Klingbeil versteht wie kaum ein Zweiter in der SPD, wie man dieses Uhrwerk am Laufen hält, wie man seine Bewegungen kontrolliert.
Das ist auch an diesem Freitagnachmittag in Osnabrück so. Der unbeliebte Kanzlerkandidat der SPD, die miesen Umfragewerte: So richtig scheint sich daran niemand zu stören. Man klatscht, lacht, hofft gemeinsam, trotz Umfrageloch und Winterwahlkampf. Solidarität ist die beste Jacke.
"Wann tun wir endlich was für die Arbeitnehmer?"
Nur einer stört die sozialdemokratische Lagerfeuerromantik. Stephan Soldanski von der örtlichen IG Metall klagt in der Fragerunde über wegbrechende Industriearbeitsplätze und fehlende Azubis. Ganze Wertschöpfungsketten seien in Gefahr, vom Handwerk bis zu den Dienstleistungen. "Die Leidtragenden sind die Beschäftigten", stänkert der stämmige Gewerkschafter ins Mikro, an Klingbeil gerichtet.
Auch der Industriestrompreis, den die SPD lange versprochen hatte, lasse auf sich warten. Soldanski, fast aufgebracht: "Wir hätten längst was auf den Weg bringen können. Wann tun wir endlich was für die Arbeitnehmer?"
Klingbeil versucht es mit einer Strategie der Umarmung: "Du rennst bei mir offene Türen ein", sagt er zum IG-Metall-Mann und verweist auf ein Beschlusspapier des SPD-Vorstands im vergangenen Oktober, das die Forderung nach dem Energiepreisrabatt für die Industrie enthalte.
Aber Klingbeils Antwort kann nur bedingt zufriedenstellen. Denn Menschen wie Stephan Soldanski treibt die Frage um: Wenn die SPD so viele sinnvolle Vorschläge zur Rettung der deutschen Wirtschaft in der Schublade habe – warum hat sie die nicht in den vergangenen drei Jahren umgesetzt, als sie die Regierung anführte? Ein Widerspruch, den auch Klingbeil an diesem Freitag in Osnabrück nicht auflösen kann.
- Eigene Beobachtungen in Osnabrück