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Zum journalistischen Leitbild von t-online.G20-Gipfel auf Bali Das hätte wirklich niemand erwartet
Wladimir Putin verliert – nicht nur Gebiete im Ukraine-Krieg, sondern auch international seine letzten Freunde. Beim G20-Gipfel auf Bali wird Russland weiter in die Ecke gedrängt.
Eigentlich hatten viele mit einer diplomatischen Katastrophe gerechnet. Doch die Stimmung auf dem G20-Gipfel in Indonesien ist ausgelassen wie lange nicht mehr. Vor dem ersten gemeinsamen Mittagessen stehen viele Staats- und Regierungschefs in Grüppchen zusammen, das Panorama ist traumhaft schön:
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Weißer Sandstrand, tropische Blumen, bunte Sträucher – es ist schwül und bei Temperaturen von mehr als 30 Grad Celsius verzichten viele Gipfelteilnehmer auf das obligatorische Jacket. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Krawatte und Jacket abgelegt und lacht gemeinsam mit dem kanadischen Staatschef Justin Trudeau. Lediglich Recep Tayyip Erdoğan sitzt auf seinem Platz und schaut etwas verdrossen drein; neben ihm seine Übersetzerin, der türkische Präsident spricht kein Englisch.
Klar: Die Gräben in der G20-Gemeinschaft sind noch immer tief. Ukraine-Krieg, Handelskonflikte und die Pandemie haben das gegenseitige Misstrauen zwischen einigen Staaten in den vergangenen Jahren deutlich vergrößert.
Die G20-Familie, so schien es vorab, ist kaputt. Das Treffen jetzt auf Bali gleicht einer Familientherapie: In Indonesien werden wichtige Weichen gestellt – auch wenn offen ist, ob die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sie dann auch nutzen.
Das wichtigste Signal, das von dem Gipfel ausgeht – so viel ist schon an Tag zwei klar –, ist die kalte Schulter, die die 19 anderen Staaten Russland zeigen. Die politische Rückendeckung für Kreml-Chef Wladimir Putin und seinen Überfall auf die Ukraine erodiert. Russland fürchtet international den Zusammenbruch der politischen Front und macht auf Bali Zugeständnisse, die vor Wochen noch undenkbar gewesen wären.
Entwurf der Abschlusserklärung ist Abrechnung mit Putin
Deutlich wird das im Abschlusspapier für den Gipfel, dessen Entwurf t-online vorliegt. Um viele der Punkte, so bestätigen es Diplomaten vor Ort, sei hart gerungen worden. Schlussendlich aber gab es dann einen Durchbruch, gegen den anfänglichen Widerstand Russlands. Die wichtigsten Punkte im Überblick:
- Konkret wird in dem Entwurf aus einer Resolution der Vereinten Nationen zitiert, mit der Russland aufgefordert wird, die Kriegshandlungen einzustellen und seine Truppen aus der Ukraine sofort abzuziehen. "Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste", heißt es in dem Entwurfspapier.
- Zudem steht dort, dass der Krieg nach Auffassung der meisten G20-Mitglieder die Probleme der Weltwirtschaft verstärkt und zum Beispiel das Wachstum schwächt und die Inflation steigen lässt.
- Auf Russlands Position wird vor allem mit einem Satz eingegangen: "Es gab andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage."
- Das bedeutet auch: Russland akzeptierte, dass der russische Angriff klar als Krieg bezeichnet wird – und nicht – wie von Putin benannt – als "militärische Spezialoperation".
- Diplomaten zufolge stimmte Russland zu, dass nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, sondern auch die Drohung damit als unzulässig bezeichnet wird. Auch das ist ein Erfolg für den Westen.
Sollten dieser Entwurf der Abschlusserklärung von allen G20-Mitgliedern wirklich unterzeichnet werden, käme das einer wahren Abrechnung mit Putins Krieg und den Folgen für die Weltgemeinschaft gleich, die daraus erwachsen sind.
China und USA stellen Gleise
Aber wie war die G20-Gemeinschaft überhaupt in der Lage, so plötzlich Kompromisse in den großen Streitfragen zu finden? Darüber kann letztlich nur gemutmaßt werden, denn schon seit Wochen vor dem Treffen auf Bali verhandelten im Hintergrund die Unterhändler der G20-Staaten – die sogenannten Sherpas – und versuchten, Lösungen zu finden. Offenbar mit Erfolg für den Westen.
Die Weichen für eine mögliche Einigung setzten dabei vor allem die USA und China. Der chinesische Präsident Xi Jinping und US-Präsident Joe Biden verkündeten am Gipfelvortrag nach ihren ersten persönlichen bilateralen Gesprächen, dass die Volksrepublik und die Vereinigten Staaten ihre Beziehungen verbessern möchten. Das Treffen der beiden fing mit einem Handschlag vor laufenden Kameras an, den viele ob der Symbolkraft im laufenden Handelskrieg eher als Paukenschlag wahrnahmen.
Die Botschaft von Biden und Xi ist klar: Zwar sind die Konflikte zwischen den rivalisierenden Supermächten groß, aber sie sollen die Welt nicht in einen Weltkrieg stürzen.
Die USA sehen sich selbst und China dabei als die ordnungsgebenden Mächte in einer multipolaren Welt, die in Zukunft mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit entstehen wird. Biden verhandelte mit Xi deshalb auf Augenhöhe – zeigte gleichzeitig laut eigenen Angaben aber auch rote Linien der USA auf.
Für China ist umgekehrt die Anerkennung durch die dominierende Supermacht USA ein wichtiger Meilenstein auf dem eigenen Weg zur eigenen globalen Dominanz. Außerdem kennen sich Xi und Biden lange, sie vertrauen sich, auch wenn die Länder in vielen Fragen Rivalen sind und Konflikte austragen. Zwar löst dieses Vertrauen nicht die Konflikte, doch es weckt Hoffnung auf einen verantwortungsvollen Umgang mit der allgemeinen Weltlage.
Auch Xi steht unter Druck
Dieses Bild von der verantwortungsvollen Supermacht wiederum ist wichtig für den Umgang mit Russland. Rückendeckung für den Kriegsaggressor Putin, einen Mann, der mit Nuklearwaffen droht? Das passt nicht zum Selbstverständnis Xis. Zudem muss Chinas Staatschef aufpassen, dass er nicht selbst im Kreise der G20-Nationen isoliert wird – hatten doch Biden und auch Scholz gerade erst asiatische Länder besucht und damit ihren Anspruch auf mehr Einfluss in der Region betont.
Verkürzt gesagt gilt: Xi würde Putin fallen lassen, wenn das im nationalen Interesse Chinas sein sollte – auch wenn es bislang noch nicht ganz so weit ist.
Derzeit verurteilt die chinesische Führung nicht einmal den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Deswegen ist die mögliche Abschlusserklärung des G20-Gipfels auch noch kein Grund für Freudensprünge. Dennoch entwickeln sich die Dinge aus Sicht des Westens in die richtige Richtung.
Staaten können sich nicht mehr hinter China verstecken
Immer klarer scheint zu werden, dass Russland den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen kann, und allein militärische Misserfolge wie in Cherson schmälern die Bereitschaft einiger Staaten, Putins Angriffskrieg zu ignorieren. Wer möchte am Ende auf der Seite eines Kriegsverbrechens stehen?
Für China dagegen dürfte nun ein Akt der Pendeldiplomatie beginnen. Einerseits wird Xi versuchen, die Beziehungen mit dem Westen zu verbessern, um am Ende nicht nur mit Putin in einer Ecke zu stehen.
Doch wenn China Abstand zu Russland nimmt, könnte das wiederum Sogwirkung haben. Momentan gibt es viele Länder wie zum Beispiel Indien, die vor allem nationale Interessen im Blick haben und aus wirtschaftlichen Gründen Putins Invasion nicht verurteilen. Diese könnten sich dann nicht mehr hinter China verstecken – und müssten Farbe bekennen.
Für Putin dürfte der Gipfel auf Bali damit zum Albtraum werden. Eigentlich hatte er seine Teilnahme abgesagt, um sich vor Ort die drohende politische Ohrfeige zu ersparen. Mit der Abschlusserklärung bekommt er sie nun offenbar doch.
- Eigene Recherche beim G20-Gipfel auf Bali
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa