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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Jeden Tag brennt etwas" Diese Schlacht entscheidet über das Schicksal des Donbass
Der Kampf um Sjewjerodonezk wird immer unerbittlicher: Für beide Kriegsparteien steht in der strategisch wichtigen Stadt viel auf dem Spiel. Manch eine Szene erinnert an das Drama in Mariupol.
Ist der Donbass im Osten der Ukraine bald komplett in russischer Hand? Das Schicksal der Region entscheide sich mit der Schlacht um Sjewjerodonezk, meint der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Seit rund drei Wochen toben dort schwere Kämpfe.
In der russischen Propaganda ist bereits vom "nächsten Mariupol" die Rede. "Das ist ein sehr brutaler Kampf, sehr hart, vielleicht der schwierigste in diesem ganzen Krieg", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft am Donnerstag.
Was steckt hinter diesen Aussagen – und wie beeinflusst der Kampf um Sjewjerodonezk den weiteren Verlauf des Krieges?
Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Wie ist die militärische Lage in Sjewjerodonezk?
Die Stadt ist nach Angaben des ukrainischen Regionalgouverneurs inzwischen "weitgehend" unter russischer Kontrolle. Das Industriegebiet gehöre allerdings noch der Ukraine, sagte Serhij Gajdaj. Klar ist jedoch: Sjewjerodonezk steht kurz vor der Eroberung durch russische Soldaten. Unter ihnen sollen auch Kämpfer aus Tschetschenien sein.
Örtlichen Behörden zufolge gibt es heftige Straßenkämpfe. Das russische Militär nehme jene Viertel unter Beschuss, die noch unter ukrainischer Kontrolle seien, sagte Gouverneur Gajdaj. Russische Truppen zerstörten "alles, was zur Verteidigung genutzt" werden könne. Der ukrainische Generalstab teilte mit, dass die Russen mit Artillerie und Mehrfachraketenwerfern angriffen. Ukrainische Soldaten wurden zuletzt an den Rand von Sjewjerodonezk zurückgedrängt.
Der Regionalgouverneur sprach bei der Verteidigung der Stadt von einer "Mission Impossible". Die ukrainischen Streitkräfte müssten sich möglicherweise bald zurückziehen. Gajdaj betonte jedoch, ein Rückzug aus Sjewjerodonezk würde nicht bedeuten, dass die Soldaten die Stadt endgültig aufgäben.
Er sieht einen Ausweg: Mit westlichen Waffensystemen könnte die Ukraine die Stadt schnell wieder unter ihre Kontrolle bringen. In einem am Donnerstag veröffentlichten Interview sagte Gajdaj: Sobald die ukrainische Armee über Artillerie mit großer Reichweite verfüge, etwa über Langstreckenraketen, "um Duelle mit russischer Artillerie austragen zu können, können unsere Spezialkräfte die Stadt in zwei bis drei Tagen säubern".
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte am Dienstag erklärt, die russischen Kämpfer hätten die Wohngebiete der Stadt voll unter Kontrolle. Die russische Armee versuche nun noch, das Industriegebiet und die umliegenden Siedlungen zu erobern.
Auch im Visier der russischen Armee ist die Stadt Lyssytschansk, die durch einen Fluss von Sjewjerodonezk getrennt ist. Sie steht ebenfalls unter schwerem Beschuss, soll aber noch in ukrainischer Hand sein. Die Angaben aus dem Kriegsgebiet ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Wie ist die humanitäre Lage in Sjewjerodonezk?
Olexander Stryuk, Bürgermeister der Stadt und Chef der lokalen Militärverwaltung, äußerte große Sorge. "Ständige Bombenangriffe" erschwerten die Versorgung, vor allem mit Trinkwasser, berichtete er vergangene Woche. In der Stadt gebe es seit mehr als zwei Wochen keinen Strom.
In Sjewjerodonezk sollen seit Beginn des Krieges rund 1.500 Menschen ums Leben gekommen sein, unter den Opfern seien Soldaten und Zivilisten, berichtete Stryuk. Zahlreiche Menschen seien geflüchtet, etwa 10.000 jedoch geblieben – vor allem ältere Menschen und deren Betreuer sowie Menschen, denen das Geld für einen Neuanfang fehlt.
"Jeden Tag gibt es Bombenangriffe, jeden Tag brennt etwas", sagte der Rentner Jurij Krassnikow aus Lyssytschansk der Nachrichtenagentur AFP. "Es gibt niemanden, der mir hilft", klagte er. Er habe versucht, zur Stadtverwaltung zu gehen, "aber es ist niemand da, alle sind weggerannt. (...) Wo soll ich mit 70 Jahren hin?".
Inzwischen soll eine Evakuierung der verbliebenen Bürgerinnen und Bürger nicht mehr möglich sein, sagte der Bürgermeister von Sjewjerodonezk. Einst zählte die Stadt 130.000 Einwohnerinnen und Einwohner.
Präsident Selenskyj zufolge wurde die gesamte kritische Infrastruktur zerstört. 90 Prozent der Häuser sollen nicht mehr bewohnbar sein, bei 60 Prozent lohne sich der Wiederaufbau nicht, sagte Gouverneur Gajdaj. Er beschuldigte die russische Armee, gezielt auf Krankenhäuser und Zentren für die Verteilung humanitärer Hilfe zu zielen. Russland weist diese Vorwürfe jedoch zurück. Auch diese Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Was zeichnet Sjewjerodonezk aus?
In der Stadt sind mehrere Chemieunternehmen angesiedelt, sie gilt deshalb als wichtige Industriestadt für die Ukraine. Vergangene Woche wurde bei Angriffen eines der größten Chemiewerke getroffen. Aus der Fabrik Asot soll Salpetersäure ausgetreten sein. Das Einatmen des Gas-Dampf-Gemisches kann unter Umständen zum Tod führen. Auf Fotos war eine große, orangefarbene Rauchwolke zu sehen. Selenskyj bewertete die Attacke auf die Chemiefabrik als "schlichtweg verrückt".
Auch in dieser Woche hielt der Beschuss der Fabrik an. Vier Menschen seien getötet worden, berichtete Gouverneur Gajdaj am Donnerstag auf Telegram. Inzwischen wird die Anlage nach ukrainischen Angaben von rund 800 Zivilisten als Luftschutzbunker genutzt – darunter seien etwa 200 Fabrikangestellte, um die hochexplosiven Chemikalien auf dem Gelände zu sichern. Die Situation erinnert an das Drama im Asowstal-Werk in der Hafenstadt Mariupol. Eine vergleichbare Einkesselung durch russische Truppen drohe derzeit jedoch nicht, heißt es.
Von russischer Seite wird immer wieder der Vorwurf geäußert, die Ukrainer hätten die Zivilisten in die Keller gelockt und das Gelände dann vermint. Belege dafür gibt es nicht.
Sjewjerodonezk ist zudem dafür bekannt, dass dort vor 18 Jahren der erste Versuch unternommen wurde, die Ukraine zu spalten. Am 28. November 2004 trat in der Stadt der "Allukrainische Kongress der Abgeordneten aller Ebenen" zusammen, an dem hauptsächlich Vertreter der prorussischen "Partei der Regionen" teilnahmen. Sie drohten mit der Ausrufung eines autonomen Staates mit Charkiw als ihrem Zentrum. Die Autonomie sollte die acht östlichen und südlichen Regionen der Ukraine sowie die Krim und Sewastopol umfassen. Es blieb bei der Drohung.
Der zweite Anlauf erfolgte 2014. Nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte, besetzten lokale Separatisten gemeinsam mit Kosaken aus Russland die drei benachbarten Städte Sjewjerodonezk, Lyssytschansk und Rubischne. Die ukrainische Armee befreite die Region wenig später wieder. Daraufhin wurde Sjewjerodonezk zum Zentrum der militärisch-zivilen Verwaltung der Region.
Wie wichtig ist die Eroberung für die russische Strategie?
Die Stadt ist von großer strategischer Bedeutung für Russland. Mit ihrer Eroberung käme der Kreml der kompletten Kontrolle über die gesamte Ostukraine einen Schritt näher – und damit auch einem wichtigen Ziel der von Präsident Wladimir Putin angeordneten Invasion.
Die durch einen Fluss getrennten Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk sind die letzten in der Region Luhansk, die Russland noch nicht komplett erobert hat. Sie stellen eine Verbindung zu anderen Gebieten in der Ukraine her. Lyssytschansk ist nach Einschätzung des Regionalgouverneurs Gajdaj schwerer einzunehmen, da die Stadt auf einer Anhöhe liegt.
Schon mehrfach hat das russische Militär im Laufe des Feldzugs mit Schwimmbrücken erfolglos versucht, den Fluss Siwerski Donez, von dem die Stadt Sjewjerodonezk ihren Namen hat, zu überqueren, berichteten die Militärexperten des Institute for the Study of War (ISW). Um den Fluss nicht überqueren zu müssen, habe die russische Armee eine Offensive in Komyschuwacha gestartet, das südlich von Lyssytschansk liegt.
Hätten die russischen Streitkräfte Erfolg, könnten sie das Gebiet Luhansk sichern und sich stärker auf das angrenzende Gebiet Donezk konzentrieren, heißt es aus Großbritannien. Von Sjewjerodonezk aus könnte Putins Armee auch weiter nach Westen in Richtung Kramatorsk vordringen.
Der Raum Slowjansk-Kramatorsk ist die Operationszentrale der ukrainischen Streitkräfte im Donbass. Kramatorsk ist eine der letzten großen Industriestädte, die im Donbass noch vollständig von Kiew kontrolliert werden. Russlands Außenminister Sergej Lawrow nannte die Einnahme des Donbass zuletzt eine "bedingungslose Priorität" für sein Land.
Welche Folgen hätte die Eroberung Sjewjerodonezks?
Gouverneur Gajdaj zufolge haben sich bereits einige ukrainische Truppen aus Sjewjerodonezk zurückgezogen, um nicht eingekesselt zu werden. Das ISW sieht hinter dem Truppenabzug Kalkül. Kiews Militärplaner hätten mehr Reserven und Ressourcen für die Verteidigung der Stadt bereitstellen können. Dennoch sei die Rückzugentscheidung strategisch vernünftig, so die Experten.
"Die Ukraine muss mit ihren begrenzten Ressourcen sparsam umgehen und sich darauf konzentrieren, kritisches Terrain zurückzugewinnen, anstatt Boden zu verteidigen, dessen Kontrolle nicht über den Ausgang des Krieges entscheiden wird", heißt es vonseiten des ISW. Damit widerspricht das Institut teilweise jedoch Selenskyjs Aussage, die Schlacht um Sjewjerodonezk entscheide über das Schicksal des Donbass.
Außerdem ziehe Moskau für die Eroberung der Region Reserven von anderen Frontabschnitten ab, etwa aus dem Raum Cherson, heißt es aus dem ISW. Die ukrainische Armee könnte die Gunst der Stunde nutzen und womöglich dort Gelände zurückgewinnen.
Tatsächlich verzeichneten die ukrainischen Kämpfer zuletzt Erfolge in der Region: Am Donnerstag teilte das ukrainische Verteidigungsministerium mit, bei einer Gegenoffensive sei Territorium zurückerobert worden. Russland habe Soldaten und Material verloren. Bei ihrem Rückzug würden die russischen Truppen Gelände verminen und Barrikaden errichten. Die Berichte ließen sich nicht unabhängig prüfen.
Zugleich zahlt auch Russland einen hohen Preis für die Eroberung der Region Sjewjerodonezk: "Ukrainische Verteidiger haben russischen Angreifern in der Nähe von Sjewjerodonezk bereits schreckliche Verluste zugefügt", so die Experten. Auch Präsident Selenskyj sagte, die Ukraine füge "dem Feind große Verluste zu".
Wenn Russland den schwierigen und blutigen Kampf in Sjewjerodonezk gewinne, werde es ihm allerdings keine ernsthaften wirtschaftlichen oder militärischen Vorteile bringen, erklärte der ukrainische Militärkorrespondent Illia Ponomarenko im US-Magazin "Forbes". Angesichts der Art der russischen Kriegsführung würden die Industriekomplexe in der Region, darunter auch das Asot-Werk, während Straßenkämpfen dem Erdboden gleichgemacht.
"Die Produktionsanlage war eine wirtschaftlich bedeutende Ressource für Sjewjerodonezk und die Region Luhansk, und es wäre klug gewesen, wenn die russischen Streitkräfte die Produktionskapazitäten der Anlage erhalten und unter ihre Kontrolle gebracht hätten", meinen die US-Militärforscher.
Die Asot-Fabrik sei zwar insgesamt weniger produktiv als das Stahlwerk in Mariupol, aber seine Zerstörung sei Teil des systematischen Versagens der russischen Armee, die wirtschaftlichen und industriellen Kapazitäten der besetzten Gebiete wirksam zu kontrollieren, so die Experten.
Eine weitere Offensive hält das ISW nach der Eroberung des Donbass derweil für unwahrscheinlich. "Wenn die Schlacht um Sjewjerodonezk vorbei ist, egal welche Seite am Ende die Stadt kontrolliert, wird die russische Offensive auf operativer und strategischer Ebene wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht haben." Moskau werde zusätzlich zu den hohen Verlusten viele Kämpfer brauchen, die das Gebiet sichern. Kräfte für weitere Angriffe wären dann vorerst nicht mehr verfügbar.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien erstmals am 2. Juni 2022 auf t-online.
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
- ISW: Ukraine conflict updates (englisch)