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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krise in der Türkei Der verspottete Erdonaut
Im Schatten der Corona-Pandemie festigt Präsident Erdoğan seine Macht. Dafür will er zum Mond fliegen und befeuert einen Konflikt mit Studenten in der Türkei. Aber die Wirtschaftskrise hält an.
Es ist erneut eine große Erdoğan-Show. Nach Brücken, Moscheen, einer U-Bahn und Palästen ist vergangene Woche die nächste große PR-Kampagne angelaufen. Recep Tayyip Erdoğan will die Türkei zum Mond schießen – oder anders gesagt: Die Türkei hat vor, den Mond zu erobern. "In der ersten Phase wollen wir Ende 2023 in der Erdumlaufbahn eine türkische Hybridrakete zünden, damit den Mond erreichen und eine Mondlandung durchführen", erklärte der türkische Präsident am Dienstag. Dabei ist das türkische Mondprogramm – wie so oft beim Präsidenten – vor allem eines: das nächste Feigenblatt Erdoğans, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
Der offizielle Start des türkischen Raumfahrtprogramms fällt in eine Zeit großer politischer Umwälzungen in der Türkei. Außenpolitisch wird die Regierung durch den Machtwechsel in den USA zur Abkehr vom ständigen Konfrontationskurs der letzten Jahre gezwungen. Innenpolitisch ringt das Land noch immer mit einer Wirtschaftskrise – durch die Corona-Pandemie und durch den Verfall der Lira. Erdoğan bekommt diese Probleme bislang nicht in den Griff, die Kritik an seiner Politik wächst im Land. Im Kampf um seine Macht setzt der türkische Präsident erneut auf Spaltung.
Erdoğan erntet Spott und Kritik
In der gegenwärtigen Finanzkrise hat die Türkei momentan eigentlich nicht das Geld für Mondabenteuer, auch deshalb ließ Erdoğan wahrscheinlich die Kostenfrage offen. Teile seiner Anhänger reagierten mit Jubel auf das Raumfahrtprogramm und folgten im Netz dem Aufruf Erdoğans, ein eigenes türkisches Wort für Astronaut zu finden.
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In den sozialen Netzwerken überwogen allerdings Hohn und Spott, besonders die Opposition in der Türkei übte scharfe Kritik. Engin Altay von der kemalistischen CHP sagte Medienberichten zufolge, mit dem veranschlagten Budget schaffe man es höchstens auf den Mount Everest, "höher kommt man damit nicht".
Ein Politiker der pro-kurdischen HDP, Ömer Faruk Gergerlioğlu, twitterte ein Foto, auf dem eine Müllsammlerin zu sehen ist, die zwei Kinder auf ihrem Müllsack transportiert. Er kritisierte sinngemäß, dass die Türkei auf den Mond fliegen wolle, aber nicht die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung absichern könne.
Wirtschaftskrise verschärft Armut
In der Tat halten die großen wirtschaftlichen Probleme in der Türkei an. Im Zuge der Corona-Pandemie und des Absturzes der Lira stieg die Rate der Firmenpleiten um 43 Prozent an, Schätzungen zufolge liegt die Arbeitslosenquote bei knapp 20 Prozent. Weitere Warnzeichen: Laut einer Umfrage der Gewerkschaft DISK sind sieben von zehn Menschen in der Türkei verschuldet, 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Die steigende Armut im Land wird zunehmend zum Sinnbild des politischen Versagens des Präsidenten, auch deshalb hüllt sich Erdoğan dazu in Schweigen. Stattdessen plant er allein im Jahr 2021 zwei neue Paläste, Kosten: umgerechnet über 80 Millionen Euro. Hinzu kommen das Raumfahrtprogramm und Kriegsbeteiligungen in Syrien, Libyen und Bergkarabach. All das kann sich das Land momentan eigentlich nicht leisten.
Der Lira-Verfall konnte zwar seit Januar etwas gebremst werden, aber die Inflation bleibt trotz zuletzt starker Leitzinserhöhungen der Notenbank auf hohem Niveau. Im Januar habe die Inflationsrate bei knapp 15 Prozent gelegen, teilte das nationale Statistikbüro mit. Zu Beginn des Jahres ist die türkische Inflationsrate damit so hoch wie seit August 2019 nicht mehr. In den vergangenen Monaten versuchte die Notenbank durch mehrfache und zum Teil sehr starke Zinserhöhungen, den Anstieg in den Griff zu bekommen. Erdoğan hatte sich in den Jahren zuvor mehrfach für niedrige Zinsen ausgesprochen.
Außenpolitischer Kuschelkurs
Mit großen Propaganda-Initiativen von derartigen Problemen abzulenken, ist seit Langem Erdoğans Strategie. Das gab auch sein Schwiegersohn und Ex-Finanzminister Berat Albayrak vor zwei Jahren preis. Um die Reihen seiner Anhänger geschlossen zu halten, sucht sich der türkische Präsident außerdem immer wieder Konflikte im In- und Ausland. Sein Kalkül: Den Patriotismus in der Türkei zu nähren, um sich dann als erster Verteidiger seines Landes gegenüber den zahlreichen Feinden präsentieren zu können.
Die Liste der Länder, Volksgruppen und Machthaber, mit denen er in den letzten fünf Jahren Streit hatte, ist lang: Griechenland, Frankreich, Zypern, Armenien, die Europäische Union, Israel, Deutschland, die USA und allgemein Christen. Für seinen Machterhalt opferte er den Friedensprozess mit der kurdischen PKK, und für die Etablierung der Türkei als Regionalmacht schickte Erdoğan Soldaten nach Libyen, Syrien und Bergkarabach. Diese Strategie – mit Patriotismus zum Machterhalt – funktionierte stets.
Aber die ständigen Konflikte führten auch zum Absturz der Lira, weil Erdoğan in seinen 20 Jahren an der Macht den wirtschaftlichen Aufschwung seines Landes durch ausländische Devisen und Kredite finanzierte. Um den Verfall der eigenen Währung zu bremsen, setzt der Präsident nun auf einen Kurswechsel in der Außenpolitik. Das liegt auch am Machtwechsel in den USA: Donald Trump waren die Konflikte in der Mittelmeerregion größtenteils egal – von Joe Biden befürchtet die Türkei nun andere Töne.
Deshalb setzt Erdoğan momentan auf einen außenpolitischen Kuschelkurs. Auch mit der EU und Griechenland findet man im Mittelmeerkonflikt langsam zueinander.
Eine neue Gezi-Eskalation?
Da kommen für den Präsidenten andere innenpolitische Konflikte, die von der Wirtschaftskrise ablenken, gelegen. In Istanbul protestieren Studierende und Akademiker der renommierten Boğaziçi-Universität sowie Unterstützer seit mehr als einem Monat gegen die Einsetzung des neuen Rektors Melih Bulu, der durch Erdoğan bestimmt wurde und der Regierungspartei AKP nahesteht.
Die Schärfe, mit der die türkische Regierung auf die Studierendenproteste reagiert, offenbart, wie sehr man den öffentlichen Fokus darauf verlagern möchte. Die Jugendlichen seien "Mitglieder von Terrororganisationen", sagte Erdoğan. Sie besäßen keine nationalen und moralischen Werte der Türkei, und seien darauf aus, das Büro des Rektors zu besetzen.
Man werde niemals zulassen, dass in der Türkei Terroristen herrschten und man werde das Nötige dagegen tun, erklärte der Präsident. "Dieses Land wird keinen Gezi-Aufstand mehr in Taksim erleben und es auch nicht zulassen." Erdoğan äußerte sich zudem erneut abwertend über lesbische, schwule, bisexuelle und Transmenschen (LGBT). "LGBT, so etwas gibt es nicht", sagte er.
Erdoğan nimmt mit seinen Äußerungen Bezug auf die regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013. Eigentlich würde dem Präsidenten aber ein Aufstand, den er einfach in den Griff bekommen könnte, sogar in die Karten spielen. Neben einem Ablenkungsmanöver könnte die Regierung im Schatten der Proteste auch die staatliche Kontrolle über soziale Netzwerke und Messengerdienste erhöhen. Zwei Fliegen, eine Klappe.
Spaltung der Opposition
Aber die Studierendenproteste sind nicht der einzige Grund, weswegen die Macht Erdoğans gefestigter ist als noch im Jahr 2020. Mitte letzten Jahres diskutierte das Land noch über eine Spaltung der AKP. Namhafte Politiker wie der ehemalige Präsident Abdullah Gül, Ex-Premierminister Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan traten aus und gründeten eine neue Partei. Die AKP sah sich außerdem einer geschlossen Opposition gegenüber.
Das hat sich nun geändert. Auch einer der wichtigsten Gegner des Präsidenten hat die Gründung einer eigenen politischen Partei angekündigt. "Ich gehe einen anderen Weg", sagte Muharrem İnce. Er hatte mit der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) bei der Präsidentschaftswahl 2018 30,6 Prozent der Wählerstimmen erhalten.
Die von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründete sozialdemokratische CHP hatte sich zuletzt über den Kurs des derzeitigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu zerstritten. Drei ehemalige Abgeordnete hatten im Januar die Partei verlassen. İnce kritisierte die Parteiführung für ihren Widerstand gegen die türkische Außenpolitik in der Region und gegen die Unterstützung der Türkei für Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien um die Region Bergkarabach.
Damit hat der Bergkarabach-Feldzug die Opposition gespalten. İnce deutete an, erneut für das Amt des Präsidenten kandidieren zu wollen. Die nächsten Präsidentschaftswahlen in der Türkei sollen im Juni 2023 stattfinden. Das dürfte die CHP, zweitgrößte Partei im Land, wichtige Stimmen kosten. Die Dominanz der AKP scheint momentan nicht in Gefahr.
Bis zur nächsten Wahl sind es allerdings noch über zwei Jahre. Viel wird für Erdoğan davon abhängen, ob er und seine Regierung die Wirtschaftskrise in den Griff bekommen. Das braucht allerdings Zeit – und tägliche Nachrichten über die derzeit missliche Lage helfen da kaum. Somit dürfte sich der türkische Präsident in jedem Fall über neue Berichte über sein Mondabenteuer freuen – selbst wenn sie von Hohn und Spott begleitet werden.
- Türkei will in den Weltraum: Erdogans Mondfahrt (Tagesschau)
- Türkisches Weltraumprogramm: Erdoğan träumt vom Mond (Spiegel)
- Türkei: Auf zum Mond! (Süddeutsche)
- Wirtschaftskrise in der Türkei: Kein Ausweg in Sicht (Deutsche Welle)
- Türkei: Erdogan gegen WhatsApp (Frankfurter Rundschau)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und afp