Notstand in Frankreich Corona außer Kontrolle: Der Schock sitzt tief
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Schrecken ist für viele Franzosen groß. Das Land zählt aktuell mehr als 1,1 Millionen akute Corona-Infektionen. Präsident Macron reagiert zu spät mit dem zweiten Lockdown – und das wird teuer.
Krisen schweißen zusammen, besonders wenn es internationale Krisen sind. Deutschland und Frankreich sind in der Corona-Pandemie noch enger zusammengerückt, neben solidarischer Hilfe sind die Länder im engen Austausch, versuchen aus den jeweiligen Erfahrungen mit dem Virus und mit getroffenen Maßnahmen zu lernen.
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Besonders deutlich wurde diese enge Zusammenarbeit am Mittwochabend. In Berlin trat Kanzlerin Angela Merkel nach den Beratungen mit den Regierungschefs der Bundesländer vor die Presse, verkündete den sogenannten Wellenbrecher-Lockdown. Ein "Lockdown light", der eigentlich ein richtiger Lockdown ist – nur mit offenen Schulen, Kitas und Geschäften. Wenig später wandte sich auch Präsident Emmanuel Macron aus Paris an die französische Bevölkerung. Auch er verkündete einen zweiten Lockdown in Frankreich – mit massiven Ausgangsbeschränkungen, aber auch dort bleiben Schulen und Geschäfte geöffnet.
Frankreich hat den Beginn der zweiten Welle verschlafen
Die Prioritäten sind klar: Kinder und Jugendliche sollen weiterhin zur Schule gehen können und die Wirtschaft soll so weit wie möglich geschont werden. In diesen Punkten sind sich Deutschland und Frankreich einig. Macron habe sich zuvor mit den europäischen Partnern über Vor- und Nachteile dieser Maßnahmen abgestimmt, erklärte er in einer Fernsehansprache. Deutschland und Frankreich schlagen auch deswegen in der Pandemie einen ähnlichen Kurs ein.
Aber in Frankreich kam die zweite Welle der Pandemie viel früher an als in der Bundesrepublik, die Infektionszahlen sind um das Neunfache höher. Die drastische Notbremse von Macron kam zu spät und das wird die Zeit bis zum Ende der Krise verlängern. Die französische Regierung hat den Beginn der zweiten Welle verschlafen, während Krankenhäuser nun Alarm schlagen, ist auch der wirtschaftliche Schaden für das Land immens. Es sind auch politische Fehler, die zu diesem Notstand geführt haben. Fehler, aus denen Deutschland lernen muss, um nicht einen ähnlichen Weg einzuschlagen.
"Werden von der Pandemie überrollt"
Eigentlich wollte Macron einen zweiten Lockdown nach dem Frühjahr um jeden Preis verhindern. Damit ist er gescheitert. In seiner Ansprache benutzte er den Ausdruck "confinement", was auch mit Lockdown übersetzt werden kann. Sein Appell und seine Warnungen waren eindringlich: "Bleiben Sie so weit wie möglich zu Hause. Respektieren Sie die Regeln", sagte der Präsident. "Wir werden von der Beschleunigung der Epidemie überrollt."
Dieser Befund ist angesichts der massiv ansteigenden Zahl von Corona-Infektionen richtig, aber diese negative Entwicklung begann in Frankreich bereits Anfang September. Das Coronavirus breitet sich rasant im ganzen Land aus. Die Regierung setzte im Frühjahr auf strenge Maßnahmen, doch mit Beginn des Sommers wurden diese aufgehoben. Das Leben in Frankreich ging weiter – so, wie vor der Krise. Das führte zu einem zentralen Problem: Die Politik vermochte es nicht, die Bevölkerung für Abstands- und Hygienebestimmungen zu sensibilisieren. Ein großes Versäumnis, das sich nun rächt.
Erschreckender Anstieg der Neuinfektionen
Mittlerweile ist Frankreich das Land mit den weltweit zweitmeisten akuten Corona-Infektionen, hinter den USA. Im Land sind derzeit über 1,1 Millionen Covid-19-Fälle registriert, mehr als in Brasilien, Indien oder Spanien. Auch die Zahl der mit dem Virus Verstorbenen stieg laut Johns Hopkins University auf über 35.000. Aber besonders die Zahl der Neuinfektionen macht die dramatische Situation deutlich, in der Frankreich sich befindet.
In 24 Stunden wurden am Freitag 47.637 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet – am Sonntag erreichte Frankreich mit 52.037 Neuinfektionen einen Höchstwert. Die Infektionsketten sind aufgrund der großen Anzahl von Erkrankungen nicht mehr zurückzuverfolgen, ähnlich wie in Deutschland. Frankreich hat die Kontrolle in der Pandemie verloren.
Zur Einordnung: In Deutschland wurden am Freitag 18.681 Neuinfektionen gemeldet, auch das war ein Höchstwert. In der Bundesrepublik gibt es momentan insgesamt knapp über 143.000 akute Infektionen, in Frankreich sind es demnach neun mal so viele. (Stand 30. Oktober, 8 Uhr)
Drastische Maßnahmen
Während Frankreich einen früheren und drastischeren Verlauf der Pandemie als Deutschland im Herbst erlebte, blieben die Maßnahmen beider Länder auf Augenhöhe. Beide Länder mussten fast zur gleichen Zeit erkennen, dass sich mit regionalen Maßnahmen und nächtlichen Ausgangsbeschränkungen die Pandemie nicht eindämmen lässt. Kanzlerin Merkel mahnte an, dass man in Deutschland mit den Maßnahmen wieder vor die Kurve kommen müsse, um Kontrolle zurückzugewinnen. Das bedeutet auch: Frankreich liegt noch viel weiter zurück, es wird eine noch größere Kraftanstrengung nötig sein.
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Ab Freitag gelten nun verschärfte landesweite Maßnahmen. Macron wollte das Land mit seinen 67 Millionen Menschen aber vorerst nicht – wie im Frühjahr – weitgehend lahmlegen. Die Menschen sollen arbeiten, aber möglichst von zu Hause aus. Anders als im Frühjahr sollen die Schulen geöffnet bleiben. Bars, Restaurants und "nicht unentbehrliche Geschäfte" müssen jedoch schließen.
Bürger können sich wie im Frühjahr nicht mehr ohne Weiteres frei bewegen. Ausgangsbescheinigungen sollen wieder kommen. Menschen können auf die Straße gehen, wenn sie arbeiten, wichtige Einkäufe erledigen, einen Arzt aufsuchen oder frische Luft schnappen wollen. Auch Reisen in andere Regionen des Landes sind nicht ohne Weiteres möglich. Die Maßnahmen sollen wie in Deutschland bis zum 1. Dezember gelten, aber in Regierungskreisen ist man sich eigentlich schon jetzt bewusst, dass das wahrscheinlich nicht ausreichen wird. Schon jetzt wird eine Linie definiert, hinter die die Anzahl der Neuinfektionen zurückgehen muss, bevor es Lockerungen geben kann.
Verständnis und Angst in der Bevölkerung
Die Zahl der Tages-Neuinfektionen werde bis zum 1. Dezember nicht auf 5.000 zurückgehen, sagt Jean-François Delfraissy, der wissenschaftliche Berater der französischen Regierung. "Das kann ich Ihnen schon heute sagen. Wir werden mehr Zeit brauchen."
Angesichts der erschreckenden Zahlen gibt es in der französischen Bevölkerung mittlerweile Verständnis für strengere Maßnahmen. Aber die französische Regierung hat es besonders im Spätsommer versäumt, die Ernsthaftigkeit der Lage eindringlich zu kommunizieren. Deswegen sind nun viele Französinnen und Franzosen geschockt. "Es macht mir Sorgen, dass es überhaupt so weit kommen konnte, sagte einer Frau vor einem Pariser Krankenhaus der Nachrichtenagentur Reuters am Freitag. "Wir sind ja ein hochentwickeltes Land, das macht mir Angst."
Im Zentrum dieser Sorgen steht das französische Gesundheitssystem. Regierungssprecher Gabriel Attal sagte, auf den Intensivstationen der Krankenhäuser drohe in zwei Wochen eine ähnliche Lage wie beim Höhepunkt der ersten Epidemie-Welle im Frühjahr. Im Land sind schon jetzt über 20.000 Krankenhausplätze mit Covid-19-Patienten belegt, wie im Frühjahr müssen Menschen aus vollen Krankenhäusern in andere Teile des Landes gebracht werden.
"Wenn das so weitergeht, fahren wir gegen die Wand"
"Die Lage hat sich seit März nicht geändert, sie hat sich sogar verschlechtert“, meinte Bertrand Martin, der Direktor des Krankenhauses Victor-Dupouy im Pariser Vorort Argenteuil, in der Tageszeitung "Parisien". Der Sommer sei tatenlos verstrichen.
Die "Parisien" zitierte außerdem einen Arzt in einer Whatsapp-Gruppe: 15 Patienten lägen auf dem Gang, das Personal sei müde, weil man bis um vier Uhr morgens Dienst habe. "Wenn das so weitergeht, fahren wir gegen die Wand."
Die Kritik kontert die französische Regierung meist damit, dass sie die Intensivbetten im Land um 15 Prozent erhöht habe. Aber das reicht nicht aus, weil es in Frankreich immer noch nicht genug medizinisches Personal gibt. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Frankreich auch deswegen eher wenig Vertrauen in die Corona-Politik der Staatsführung.
65 Prozent der Befragten waren laut einer Umfrage von Anfang Oktober der Meinung, dass der Präsident, die Regierung und die Gesundheitsbehörden keine Lehren aus der ersten Welle der Pandemie gezogen haben. Außerdem glaubten 55 Prozent , dass Macron seit dem Ausbruch der Krise mit Blick auf die sanitären Maßnahmen "keine guten Entscheidungen getroffen" hat.
Doch ähnlich wie in Deutschland ist die Eindämmung der Pandemie von den politischen Maßnahmen, dem richtigen Zeitpunkt der Einschränkungen und von der gesellschaftlichen Akzeptanz und Umsetzung der Regeln abhängig. Wie in der Bundesrepublik gibt es auch in Frankreich in allen Bereichen Versäumnisse.
Deutschland sollte von Frankreich lernen
Frankreichs Regierung hat momentan die Kontrolle über die Pandemie verloren, das System der regionalen Eindämmung ist gescheitert. Eben weil es an zu vielen Stellen die Vernunft im Sommer nicht gab. Das liegt einerseits an der politischen Kommunikation der Regierung, andererseits aber auch an der Sorglosigkeit vieler Menschen.
Das Scheitern der französischen Corona-Politik liegt daran, dass zu lange mit strengeren Maßnahmen gewartet wurde. Das Ping-Pong-Spiel der französischen Regierung zwischen Lockdown und großer Freiheit nach dem Frühjahr hat nicht funktioniert, weil es in der Bevölkerung kaum Verständnis für sehr strikte Maßnahmen gibt – trotz alarmierender Infektionszahlen. Dieses Problem scheint sich mittlerweile ein wenig aufzulösen, aber angesichts der Infektionszahlen und Todesopfer im Land kam diese Erkenntnis zu spät – für viele Opfer der Pandemie und für die französische Wirtschaft, deren Leistung laut OECD in diesem Jahr um knapp 9,5 Prozent sinken soll.
Deutschland und Frankreich haben als Nachbarn und als Partner in der Europäischen Union eine starke Verbindung. Besonders in Krisen, besonders nach den Ereignissen zwischen beiden Ländern in der Geschichte. Neben Solidarität mit ihren Nachbarn hat die Bundesrepublik vor allem die Verantwortung, aus den Geschehnissen in Frankreich, Großbritannien oder Spanien zu lernen. Denn wie im Frühjahr kam die zweite Welle der Pandemie in Deutschland vergleichsweise spät an. Der Grund dafür ist nicht ein überlegenes Gesundheitssystem in der Bundesrepublik, es war schlichtweg Glück.
Aber dieses gilt es nun zu nutzen, um in die Nachbarländer zu schauen, die wie Frankreich schon früher betroffen waren. Um zu helfen und um von wirkungsvollen und wirkungslosen Maßnahmen zu lernen. Denn eines ist klar: Deutschland ist in der Corona-Pandemie nicht mehr das gallische Dorf in Europa.
- Eigene Recherche
- Wirtschaft mit Problemen: Krise legt Frankreichs Schwächen offen (Tagesschau)
- Corona-Notstand in Frankreich: "Wenn das so weitergeht, fahren wir gegen die Wand" (FAZ)
- Corona-Krise: Daten zur Krankenhausbelegung in Europa (TU Berlin)
- Unter Armutsgrenze: Corona in Frankreich: Armut erreicht Mittelschicht (Frankfurter Rundschau)
- Pandemie: Frankreich verzeichnet mehr als eine Million Infektionen (Reuters)
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa