Nowitschok-Anschlag auf Nawalny Experte: "Kein ideales Gift, um jemanden zu töten"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jetzt steht es fest: Der Kremlkritiker Alexej Nawalny ist vergiftet worden. Doch wer steckt dahinter? Und wird er wieder gesund? Das erklärt der Toxikologe Martin Göttlicher im Interview mit t-online.
Der russische Regierungskritiker Alexej Nawalny ist gezielt vergiftet worden – und zwar nicht mit irgendeinem Gift: Der chemische Nervenkampfstoff "Nowitschok", den Experten in Nawalnys Körper nachweisen konnten, ist ein Nervengift aus sowjetischer Entwicklung. Es ist derselbe Stoff, mit dem der russische Ex-Agent Sergej Skripal und seine Tochter im März 2018 vergiftet wurden.
Martin Göttlicher kennt sich mit chemischen Nervenkampfstoffen besonders gut aus. Er leitet das Institut für Toxikologie des Helmholtz Zentrums in München. Im Interview erklärt er, was "Nowitschok" in einem Körper auslöst, unter welchen Spätfolgen Nawalny möglicherweise dauerhaft leiden könnte – und weshalb sich die Täter für dieses Gift entschieden haben könnten.
t-online.de: Experten in der Berliner Charité ist es gelungen, den chemischen Nervenkampfstoff "Nowitschok" zweifelsfrei im Körper von Alexej Nawalny nachzuweisen. Wie schwierig ist das?
Martin Göttlicher: Das ist sehr schwer, aber es ist möglich. "Nowitschok" hemmt ein wichtiges Enzym: die Cholinesterase. Dieses Enzym kann man aus dem Körper isolieren, über ein hochempfindliches Massenspektrometer lässt sich nachweisen, wenn noch Reste des Wirkstoffs daran hängen. Das ist eine gängige und präzise Methode – die möglicherweise auch jetzt zum Erfolg geführt hat.
Seit dem Anschlag liegt Nawalny im künstlichen Koma und muss beatmet werden. Ist es möglich, dass er sich davon vollständig wieder erholt? Oder könnte er langfristige Schäden behalten?
Beides ist möglich. Eigentlich kann man Acetylcholin, also den Botenstoff im Nervensystem, der nicht mehr abgebaut werden kann, gut mit Gegengiften behandeln. Es gibt aber die Sorge, dass langfristige Schäden bleiben: zum Beispiel eine Muskelschwäche oder eine Gedächtnisstörung. Und bei solchen schweren Behandlungen ist es immer möglich, dass es noch zu Komplikationen kommt. Momentan ist alles offen. Nach etwa drei Wochen sollte klar sein, wie es für Herrn Nawalny ausgehen wird. Sich von so einer Vergiftung vollständig zu erholen, kann aber lange dauern: ein halbes oder auch ein ganzes Jahr.
"Nowitschok" ist ja ein sowjetischer Nervenkampfstoff. Wer hat Zugang zu so einem Stoff und wer kann ihn herstellen?
Da kann man nur spekulieren. Die Grundchemie dieser Stoffe ist bekannt. Um "Nowitschok" herzustellen, braucht man einen guten Chemiker, sehr gute Instrumente, aber keinen Hochsicherheitstrakt. Man braucht aber vor allem jemanden, der bereit ist, viel Energie in die Herstellung zu investieren. Das muss nicht unbedingt ein Staat sein. Aber es braucht eine gewisse Logistik dafür – und dass das langfristig unentdeckt bliebe, wäre wirklich schwer.
Wie wird so ein Gift denn verabreicht? Und wie lange dauert es, bis es wirkt?
Kampfstoffe wie "Nowitschok" sind so entwickelt, dass sie sehr leicht in den Körper kommen: zum Beispiel durch die Haut, durch die Luft oder über den Magendarmtrakt. Sie sind darauf optimiert, dass man die Vergiftung möglichst nicht so einfach behandeln kann. Im Fall Nawalny heißt das, dass ihm das Gift kurze Zeit vor seinem Zusammenbruch verabreicht wurde: wenige Stunden, vielleicht sogar nur Minuten zuvor.
Bisher sieht es so aus, als würde Alexej Nawalny den Anschlag überleben. Auch Sergej Skripal und seine Tochter sind wieder genesen. Ist so ein Gift schwer zu dosieren – oder hatte man gar nicht vor, sie umzubringen?
"Nowitschok" ist kein ideales Gift, um jemanden zu töten. So ein Angriff ist vor allem eine massive Drohung. "Nowitschok" ist weniger tödlich als andere Stoffe, aber dafür ist es einfach handhabbar. Vielleicht hat man sich für eine relativ unkomplizierte Methode entschieden – mit ungewissem Ausgang.
- Gespräch mit Martin Göttlicher