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Bergkarabach: Russlands Schwäche als Chance für die EU – doch sie zögert


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Konflikt im Kaukasus
Russlands Schwäche könnte die Chance sein – doch die EU zögert

MeinungGastbeitrag von Stephan Malerius, Konrad-Adenauer-Stiftung

Aktualisiert am 07.09.2023Lesedauer: 4 Min.
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Russische Soldaten an der Grenze zu Bergkarabach: Seit der Krieg im November 2020 durch das von Russland vermittelte Waffenstillstandsabkommen beendet wurde, sind dort etwa 2.000 Soldaten der russischen "Friedenstruppen" stationiert. (Quelle: IMAGO/Marut Vanyan / Le Pictorium)
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Rund 120.000 Armenier sind in akuter Gefahr, vertrieben oder ausgehungert zu werden. Ein Eingreifen der EU wäre zwingend erforderlich. Doch ist der politische Wille dazu da?

Als sich die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans Ende April zu einer längeren Verhandlungsrunde in den USA trafen, erklärte der amerikanische Außenminister Antony Blinken im Anschluss auf einer Pressekonferenz fast euphorisch, ein Friedensabkommen zwischen den beiden seit Jahrzehnten verfeindeten Staaten sei "in Sicht". Man befinde sich auf dem letzten Kilometer eines Marathons, und der sei bekanntlich immer der schwerste.

Dieser verhaltene Optimismus ist mittlerweile verflogen; es scheint so, als seien die Läufer "zurück auf Start". Und das, obwohl sich der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew in der Zwischenzeit mehrfach in Brüssel getroffen haben; Anfang Juni haben sogar Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf dem Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) in Chisinau die beiden persönlich dazu ermuntert, mit europäischer Unterstützung die Ziellinie zu überqueren.

Zu den größten Hürden bei den Verhandlungen um ein Friedensabkommen zählen der Austausch von Kriegsgefangenen, die Demarkierung der Grenzen und die Anerkennung der territorialen Integrität der jeweils anderen Seite. Im Kern geht es jedoch um die Zukunft der bis zu 120.000 Armenier, die immer noch in Bergkarabach leben, einer nahezu ausschließlich von Armeniern bewohnten Region, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Sie sind jetzt in akuter Gefahr, entweder vertrieben oder ausgehungert zu werden.

Stephan Malerius: Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS).
Stephan Malerius: Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). (Quelle: Ispirato.md)

Zum Autor

Stephan Malerius ist Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Der Slawist und Germanist leitete zuvor das Auslandsbüro Belarus der KAS mit Sitz in Litauen und war Teamleiter eines EU-geförderten Projektes zur Stärkung der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft mit Sitz in Kiew.

Zweiter Bergkarabach-Krieg ist Ausgangspunkt für aktuelle Eskalation

Ausgangspunkt der aktuellen Eskalation war der zweite Bergkarabach-Krieg, in dessen Folge Aserbaidschan sieben armenisch besetzte Pufferzonen sowie etwa ein Drittel von Bergkarabach selbst unter seine Kontrolle bringen konnte. Der Krieg wurde im November 2020 durch ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen beendet. Dessen zentraler Punkt sah die Stationierung von einer etwa 2.000 Mann starken russischen "Friedenstruppe" vor, die die Einhaltung des Waffenstillstands, den Austausch von Gefangenen und vor allem den ungehinderten Zugang aus der Republik Armenien in den immer noch von Armeniern kontrollierten Teil von Bergkarabach über die einzige Verbindungsstraße, den sogenannten Latschin-Korridor, gewährleisten sollte. Diese Verpflichtungen erfüllen die russischen Soldaten nicht.

Die offensichtliche politische und militärische Schwächung Russlands seit der Invasion der Ukraine nutzte Aserbaidschan zunächst, um im Dezember 2022 einen Teil des Korridors durch von der Regierung in Baku beauftragte Umweltaktivisten zu blockieren und dann im April 2023 am Eingang zum Korridor einen Kontrollpunkt zu errichten. War es in dieser Zeit noch möglich, die armenische Bevölkerung in Bergkarabach durch das Rote Kreuz oder – gegen einen horrenden Aufpreis – durch die russischen Truppen notdürftig zu versorgen, schloss Aserbaidschan im Juli auch diesen Weg.

Die totale Blockade des Latschin-Korridors führt nun zu einer akuten Versorgungsnotlage der in Bergkarabach lebenden Armenier. Es fehlt vor allem an Babynahrung, Medikamenten und Hygieneartikeln, auch Benzin und Gas gibt es gar nicht oder nur selten, es wird bereits über erste Fälle von Menschen berichtet, die verhungert seien. Aserbaidschan bietet unterdessen an, die Menschen vom eigenen Territorium über Agdam, das im Osten Bergkarabachs liegt und unter aserbaidschanischer Kontrolle steht, zu versorgen – ein Angebot, das die Armenier in der Region als "vergiftet" ablehnen.

Die KAS ist eine der CDU ideell nahestehende Denkfabrik, die sich unter anderem für die europäische Verständigung einsetzt.

Streit über Versorgungsrouten spiegelt Urgrund des Konflikts

In dem Streit über die Versorgungsrouten spiegelt sich der Urgrund des gesamten Konfliktes, der mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre gewaltsam ausbrach: Aus aserbaidschanischer Sicht ist der Latschin-Korridor ein Symbol der Unabhängigkeit von Bergkarabach, in dem die Armenier über Jahrzehnte selbst gewählte Verwaltungsstrukturen (einschließlich Polizei und Gerichtswesen) besaßen. Da die Region wieder vollständig ein Bestandteil von Aserbaidschan werden soll, muss er geschlossen bleiben.

Für die Armenier in Bergkarabach steht eine Versorgung über Agdam symbolisch für eine Aufgabe der Selbstbestimmung und eine Unterordnung unter das Diktat des Regimes von Alijew, was sie kategorisch ablehnen. In dieser Unvereinbarkeit steckt auch ein systemischer Konflikt: Das autoritäre Aserbaidschan will, nachdem es bereits 2020 mit einem Krieg die Realitäten in der Region verändert hatte, nun auch mit Gewalt sein anerkanntes Recht auf territoriale Integrität vollumfänglich geltend machen. Für die armenische Bevölkerung von Bergkarabach, die an eine weitgehend demokratische Verfasstheit ihres Gemeinwesens gewohnt war, ist es unvorstellbar, in einem zentralistischen und extrem repressiven Staat zu leben, wie es Aserbaidschan unter Alijew ist.

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist also auch ein Systemkonflikt, in dem die autoritäre Seite – wie Russland in der Ukraine – versucht, mit roher Gewalt eine ausschließlich für sich annehmbare Lösung herbeizuführen. Aber anders als in der Ukraine ist es im Südkaukasus immer noch möglich, eine erneute militärische Eskalation sowie eine umfassende humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Vieles hängt dabei von Europa ab. Die Aufrufe, den Latschin-Korridor zu öffnen, prallen offenkundig an Alijew ab und sind nicht ausreichend.

EU muss zwingend Stärke zeigen

Die EU muss (und kann) der Regierung in Baku unmissverständlich klarmachen, dass sie eine erneute gewaltsame Änderung der Situation in der Region oder eine ethnische Säuberung in Bergkarabach nicht akzeptiert und dass sie auch bereit ist, wirtschaftliche Abkommen mit Aserbaidschan infrage zu stellen. Allein, momentan scheint dazu der politische Wille zu fehlen.

Was Brüssel verstanden zu haben scheint, ist, dass die Rolle Russlands, das über 30 Jahre lang den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan geschürt und jeden Versuch, ihn zu lösen, aktiv unterwandert hat, nachhaltig geschwächt ist. Das Mandat der russischen "Friedenstruppen" läuft 2025 aus. Aserbaidschan hat bereits angekündigt, es nicht verlängern zu wollen, und Armenien hat mittlerweile vollends verstanden, dass es von Russland weder Unterstützung noch Schutz erwarten kann.

Es bietet sich also die Gelegenheit, gemeinsam die jahrzehntelang in der Region dominierende destruktive Einflussmacht loszuwerden. Europa muss sich nun politisch bereit zeigen, das entstehende Vakuum als eine neue konstruktive Ordnungsmacht zu füllen.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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