Truppenkonzentration an der Grenze Der nächste Krieg könnte nur Tage entfernt sein
Der Konflikt im südöstlichsten Zipfel Europas droht weiter zu eskalieren: Während Beobachter vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff Aserbaidschans warnen, ergreift Armenien die Hand der USA.
So scharfe Worte gegen den Kreml hat es hier seit Jahrzehnten nicht gegeben: Es war "ein strategischer Fehler", sich eng an Russland zu binden. Mit diesem Satz hat Nikol Paschinjan, Premier im südkaukasischen Armenien, im Interview bei "La Repubblica" Anfang der Woche einen unsichtbaren Damm durchbrochen. Nun hat er nachgelegt: Am Mittwochmittag kündigte das Verteidigungsministerium des Landes eine Militärübung mit den USA an.
- Russlands Schwäche in Bergkarabach könnte die Chance sein – doch die EU zögert. Ein Gastbeitrag.
- 120.000 Menschen drohen in Bergkarabach zu verhungern. Und wie reagiert die Bundesregierung? Ein Kommentar.
Armenien, das lange mit Russland verbündet war, wendet sich damit endgültig von Moskau ab und dem russischen Erzfeind in Washington zu. Denn die Not ist groß: Die eigenen Landsleute, die im völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Bergkarabach leben, werden von dort aus belagert. Seit acht Monaten blockiert das Regime von Diktator Ilham Alijew die einzige Zufahrtsstraße, den sogenannten Latschin-Korridor, zwischen Armenien und der betroffenen Region um die Stadt Stepanakert.
Grundnahrungsmittel kommen seitdem keine mehr an, Medikamente auch nicht; inzwischen fehlt es den Menschen in Karabach an allem. Ein 40-jähriger Mann soll im August bereits verhungert sein, auch dem Rest der Bevölkerung droht der Hungertod.
Längst sprechen die Vereinten Nationen von einer humanitären Krise, der einstige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, bewertet das Vorgehen Aserbaidschans im Interview mit t-online bereits als Völkermord. Währenddessen scheint ein militärischer Angriff immer näher zu rücken.
Truppenbewegungen und Cargo-Flüge
Beobachter sprechen seit knapp 2 Tagen von massiven Truppenbewegungen auf der aserbaidschanischen Seite der Grenze: "Mit Ausnahme des Kriegs im Jahr 2020 haben wir in mehr als sieben Jahren unserer Berichterstattung nie so viele Videos von Social-Media-Nutzern aus Aserbaidschan gesehen, die Militärpersonal, Kolonnen und Truppenbewegungen zeigen", schreibt der "Nagorno Karabakh Observer" auf X, ehemals Twitter. Und ergänzt: "Schwer zu glauben, dass all das nur Übungszwecken dient." Auch von vermehrten Cargo-Flügen des Militärs ist die Rede, die seit einer Woche mutmaßlich Munition an relevante Stützpunkte liefern sollen.
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Einige Aufnahmen, die auf der Plattform geteilt werden, sollen außerdem zeigen, wie aserbaidschanische Panzer auf dem Weg nach Sjunik sind. Die armenische Provinz grenzt im Südosten an Aserbaidschan und ist eigentlich kein Teil des aktiven Konflikts. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben bisher nicht.
Kriegsgewinn als "Lebensziel" von Diktator Alijew
Erst vor einem Monat hatte der aserbaidschanische Präsident Alijew in einem Gespräch mit dem Sender Euronews betont, der jüngste offene Krieg gegen Armenien im Jahr 2020 habe sein Lebensziel erfüllt – einen großen Teil des mehrheitlich von armenischstämmigen Menschen bewohnten Bergkarabachs unter aserbaidschanische Kontrolle zu bringen. Der ethno-territoriale Konflikt um das Gebiet, der erstmals 1918 ausbrach, ist seit Zerfall der Sowjetunion wiederholt massiv aufgeflammt. Bisher sind ihm rund 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Internationale Vermittlungsversuche sind immer wieder gescheitert.
Auch aktuell beschuldigen sich beide Seiten, gegen die Bedingungen des 2021 vereinbarten Waffenstillstands verstoßen zu haben. Relevant dabei ist jedoch: Armeniens Militär ist dem seines Nachbarn deutlich unterlegen – ein Interesse daran, Aserbaidschan mit Angriffen zu provozieren, dürfte hier vermutlich deutlich geringer ausgeprägt sein als umgekehrt. Außerdem darf Baku sich der militärischen Rückendeckung der Türkei sicher sein. Berichte über Attacken auf einen Stützpunkt nahe dem armenischen Grenzdorf Sotk, das nicht einmal im Konfliktgebiet liegt, weisen darauf hin, dass gerade die Regierung von Aserbaidschan es auf eine weitere Eskalation anlegen könnte.
Zwar stammen diese Informationen aus dem Verteidigungsministerium in Eriwan, doch unabhängige Journalisten bestätigen vergleichbare Angriffe im vergangenen Jahr. Auch die zivile Beobachtermission der EU, die seit Januar im Land ist, zeigt sich besorgt über die zunehmende Spannung.
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Große Schritte Richtung Washington
Am Dienstagabend sprach Armeniens Außenminister Ararat Mirzoyan nach eigenen Angaben mit seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock über die Lage in der Region – womöglich auch, um sie vorab über die bevorstehende Kooperation mit den USA zu informieren.
Vom 11. bis 20. September soll das US-armenische Manöver "Eagle Partner 2023" stattfinden. Die geplanten Operationen sollen helfen, Konflikte zu stabilisieren, um bei der Erfüllung von friedensstiftenden Einsätzen zu helfen, teilte das armenische Verteidigungsministerium laut der staatlichen Nachrichtenagentur Armenpress einigermaßen verklausuliert am Mittwoch mit.
Der Schritt kommt nicht völlig überraschend, ist allerdings die bisher stärkste diplomatische Provokation in Richtung Russland. Von den, hiermit möglicherweise einstigen, Partnern in Moskau hatte man sich in Eriwan zuletzt verstärkt im Stich gelassen gefühlt. In den vergangenen Monaten hatte die Regierung sowohl die fehlende militärische Unterstützung seiner einstigen Schutzmacht als auch deren mangelnden Einsatz als Vermittler und Wächter des Waffenstillstands im Konflikt um Bergkarabach kritisiert. Aktuell betreibt Russland einen eigenen Militärstützpunkt im Land.
Anfang des Jahres hatte Premier Paschinjan bereits eine in Armenien geplante Militärübung des von Russland dominierten Militärbündnisses OVKS als "zwecklos" abgesagt. Im jüngsten Interview mit "La Repubblica" bezeichnete er das russische Heer dann als impotent und die Abhängigkeit Armeniens von den Russen als "strategischen Fehler". Kurz darauf ließ er humanitäre Hilfe in die Ukraine liefern, wie das US-amerikanische "Institute for the Study of War" berichtet.
Protest aus Moskau
Das gemeinsame Manöver mit den USA ist bisher wohl die schärfste Spitze Eriwans gegen den Kreml, der Armenien und Aserbaidschan einst jahrelang gleichermaßen mit Waffen belieferte. Seitens des US-Militärs hieß es am Mittwoch, dass 85 amerikanische Soldaten und 175 Armenier an der Aktion teilnehmen sollen. Unter den US-Soldaten seien auch Mitglieder der Nationalgarde des Bundesstaates Kansas, die seit 20 Jahren eine Ausbildungspartnerschaft mit Armenien unterhalte. Sie seien lediglich mit Gewehren bewaffnet und würden keine schweren Waffen einsetzen.
Trotz des geringen Umfangs der Übung äußerte sich Russland besorgt. Das Moskauer Präsidialamt kündigte an, das Manöver genau zu verfolgen. "Natürlich sind solche Nachrichten besorgniserregend, insbesondere in der gegenwärtigen Situation. Deshalb werden wir diese Nachricht eingehend analysieren und die Situation beobachten", so Kremlsprecher Dmitri Peskow.
- minorityrights.org: "Nagorno-Karabakh (unrecognized state)" (englisch)
- apnews.com: "Russia defends selling arms to both Azerbaijan and Armenia" (englisch)
- ohchr.org: "UN experts urge Azerbaijan to lift Lachin corridor blockade and end humanitarian crisis in Nagorno-Karabakh" (englisch)
- repubblica.it: "Il premier armeno Pashinyan: "La nostra dipendenza dalla Russia per la sicurezza è stata un errore strategico. In Nagorno Karabakh è in corso una pulizia etnica" (italienisch)
- euronews.com: "Azerbaijan's President Aliyev: 'I think it is right to be hopeful'" (englisch)
- azatutyun.am: "Nagorno-Karabakh Reports First Death From Hunger" (englisch)
- wienerzeitung.at: "Kaum Hoffnung auf Frieden am Südkaukasus"
- twitter.com: Kanäle von @NKobserver, @ArmeniaMODTeam, @301arm, @AraratMirzoyan
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, September 5, 2023"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und reuters