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Zum journalistischen Leitbild von t-online.ADHS im Erwachsenenalter "Das ist keine Modekrankheit"
ADHS gilt als das Zappelphilipp-Syndrom im Kindesalter. Doch auch wesentlich ältere Menschen können betroffen sein. Eine Expertin gibt Auskunft.
Immer wieder outen sich Prominente wie Eckart von Hirschhausen oder Justin Bieber als Betroffene von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung). Die drei Hauptsymptome der Verhaltensstörung sind Unaufmerksamkeit (die Konzentrationsfähigkeit ist gestört), Hyperaktivität (also ein übersteigerter Bewegungsdrang) und Impulsivität (das Reagieren auf Reize, ohne darüber nachzudenken).
ADHS-Betroffene sind somit oftmals leicht abzulenken, unruhiger, ungeduldiger und unachtsamer, können sich schwer konzentrieren und erleben ihr Leben meist als chaotisch und unorganisiert. Was steckt hinter dem Rummel um die Störung? t-online fragte die Neurologin Carolin Zimmermann, eine Expertin für ADHS vor allem im Erwachsenenalter.
t-online: Frau Zimmermann, täuscht der Eindruck, oder haben die ADHS-Fälle in letzter Zeit stark zugenommen?
Carolin Zimmermann: Zumindest wird die Diagnose medial extrem gehypt. Und ich gehe davon aus, dass es sich überwiegend um Selbstdiagnosen handelt, speziell in den sozialen Medien. Denn eine echte ADHS geht mit Leidensdruck einher, auch und vor allem im Erwachsenenalter. Der mag bei den Prominenten jetzt weniger stark sein, denn sie bekommen in der Regel schnell Hilfe durch Fachärzte. Das bekommt Otto Normalbürger nicht immer. Bei ihnen nimmt ADHS einen oft sehr negativen Einfluss auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden. Das geht oft unter.
Sie haben also das Gefühl, in den Medien kommen die negativen Seiten der ADHS zu kurz?
Ja, das ist definitiv so. ADHS-Betroffene haben zwar auch ausgeprägte Stärken. Sie sind oft sehr kreativ, spontan, humorvoll, krisenerprobt und empathisch. Aber im Alltag überwiegen bei den meisten Betroffenen die negativen Seiten. Oftmals bekommen sie Probleme, etwa im Beruf oder in der Familie. 50 bis 60 Prozent der Betroffenen entwickeln in der Folge einer unbehandelten ADHS eine Depression, eine Angst- oder eine Suchterkrankung, und das erhöht den Leidensdruck noch einmal mehr.
Viele halten ja ADHS für eine Störung, die nur bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert wird. Was nicht stimmt. Wie hoch ist der Anteil bei Erwachsenen?
Die statistischen Zahlen sagen, dass mindestens fünf Prozent aller Kinder betroffen sind und zwischen zwei und drei Prozent der Erwachsenen, das heißt, dass etwas mehr als die Hälfte bis ins Erwachsenenalter Probleme haben.
Zur Person
Dr. Carolin Zimmermann ist Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde in München. Sie beschäftigt seit 20 Jahren mit ADHS bei Erwachsenen.
Woran liegt es, dass bei so vielen die Diagnose erst so spät gestellt wird?
Für lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass sich die Symptomatik bei Kindern verwächst und man hat sich nicht weiter um den Verlauf der Störung gekümmert, wenn man sie überhaupt im Kindesalter entdeckt hat. Viele Betroffene haben ja auch gelernt, sich anzupassen, nicht aufzufallen und versucht, ihren Weg zu finden.
Wenn dann aber Schwierigkeiten im Leben zu groß werden, mehrere Lebensereignisse zusammenkommen – positive und negative – dekompensiert das System und dann sucht man nach Erklärungen und Hilfe. Krankenkassendaten in Deutschland zeigen, dass die Diagnose ADHS bei Erwachsenen typischerweise Mitte 30 gestellt wird, was aus oben genannten Gründen plausibel erscheint.
Wie gehen Sie bei der Diagnose vor?
Es gibt gewisse Standards, die wir einhalten müssen. Dazu gehört ein Nachweis, dass die Probleme auch schon in der Kindheit bestanden, also dass es da bereits Schwierigkeiten gab, das heißt Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität oder Hyperaktivität.
Wenn die Betroffenen dann die Diagnose bekommen, wie reagieren sie?
Sie sind sie oft erleichtert, aber viele auch traurig, dass sie es nicht früher gewusst haben. Für viele ergeben die Probleme, mit denen sie sich ihr Leben lang herumgeschlagen haben, plötzlich Sinn und ich höre oft: "Wenn ich das früher gewusst hätte…"
Wie alt sind denn die Erwachsenen, die zu Ihnen in Behandlung kommen?
In der Regel zwischen 20 und 40. Aber ich habe auch Patienten über 60. Sie sehen immer wieder, dass zum Beispiel ihre Enkelkinder behandelt werden, und dann geht ihnen vielleicht ein Licht auf, dass sie ihr Leben lang mit ähnlichen Problemen gekämpft haben. Es kommen auch Eltern von diagnostizierten Kindern, die mir sagen: "Ich glaube, ich habe das auch."
Gibt es denn eine genetische Komponente für ADHS?
Man geht davon aus, dass ADHS zu 80 Prozent genetisch verursacht wird.
Kommt es einem nur so vor oder werden Kinder generell heute immer auffälliger?
Ja, das hat mit verschiedenen Entwicklungen zu tun. Zum einen werden die Anforderungen immer größer. Heute sollen die Menschen ja gerne mal alle Allrounder sein. Erwartungen und Leistungsdruck an Kinder sind enorm gestiegen, sodass jedes Kind, was nicht angepasst ist, als auffällig gilt.
Zum anderen wurden Eltern und Lehrer früher als Respektspersonen gesehen, sie hatten Autorität. Heute wird viel mehr auf die Kinder eingegangen und es werden weniger Grenzen gesetzt, was dazu führt, dass Kinder sich weniger anpassen müssen, was aber nicht unbedingt etwas mit ADHS zu tun hat.
Nicht jedes Kind, das sich auffällig und vielleicht aufsässig verhält, leidet unter ADHS. Und eines ist auch noch ganz wichtig zu betonen: Früher waren die Kinder den ganzen Nachmittag draußen und in Bewegung.
Spielt das denn bei ADHS eine Rolle?
Bewegung und Sport sind eine ganz wichtige Kompensationsmöglichkeit für ADHS. Dazu rate ich auch allen Erwachsenen.
Was hilft Betroffenen noch?
Eine Routine, klare Strukturen, klare Regeln, ein strukturierter Tagesablauf und gleichzeitig Abwechslung und neue Herausforderungen.
Und Medikamente?
Ja, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. In der Regel helfen diese Wirkstoffe sehr gut, etwa in Phasen, in denen man konzentriert lernen oder arbeiten muss.
Das heißt, man muss die Arzneimittel bei ADHS nicht lebenslang nehmen?
Einzelne Medikamente kann man durchaus phasenweise einsetzen. Etwa, wenn jemand im Studium konzentriert lernen muss, danach im Praktikum oder im Beruf werden sie dann oft nicht mehr gebraucht. Fest steht aber, dass die Einnahme von Medikamenten immer ärztlich begleitet werden muss.
Darin sehen Sie ein Problem?
Ja, wir haben einfach zu wenig Psychiater und Neurologen, die Wartezeiten auf einen Termin sind oft zu lang. Das kann für Menschen, die sich in Krisen befinden, sehr gefährlich sein. Auch in unserer Praxis fehlen die Kapazitäten.
Was ist noch problematisch?
Ich bin ja froh, dass Prominente, die sich öffentlich outen, zu einer Entstigmatisierung beitragen. Aber ADHS ist keine Modekrankheit, sondern eine neurobiologische Störung, die ernst genommen, sauber diagnostiziert und gegebenenfalls behandelt werden sollte. Sie eignet sich eigentlich nicht für so einen Medienrummel oder einen Hype. Mir werden – wie gesagt – zu sehr die positiven Auswirkungen der Störung auf Betroffene betont und zu wenig die Leiden, die ADHS verursacht.
Frau Zimmermann, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Carolin Zimmermann