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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Psychologin über Schreckensjahr 2024 "Wer psychisch gesund ist, spürt auch Angst"
Krisen, Kriege, Anschläge, wirtschaftliche, häufig auch private Sorgen – für viele war 2024 kein gutes Jahr. Was in solchen Zeiten helfen kann, erklärt eine Expertin.
Vieles kam im zu Ende gehenden Jahr zusammen: Schreckensbilder aus verschiedenen Teilen der Welt, Terror, Hungersnöte, Kriege, Flutkatastrophen, das Erstarken von Populisten und zuletzt der Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt, bei dem mehrere Menschen starben und Hunderte schwer verletzt wurden. Manche Menschen fühlen sich daher von den vergangenen Monaten entmutigt und erschöpft. Was in solchen Krisenzeiten helfen kann, erklärt hier die Psychologin Anja Lehmann von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Berliner Vivantes-Klinikum Am Urban:
Wir suchen einfache Antworten
"Der Gedanke, es gäbe auf die uns alle bewegenden, zum Teil existenziellen Lebensfragen Antworten und Lösungen für alle Probleme, ist zutiefst menschlich. Aber das ist nicht realistisch. Ungewisse Zeiten befeuern trotzdem die Suche nach klaren, einfachen Antworten und Handlungsanweisungen, denn das verspricht Sicherheit. Doch die meisten Probleme sind dafür zu komplex.
Aus Sicht einer Psychologin kann ich einige Einschätzungen geben, die vielleicht helfen, die eigene Situation einzuordnen und auch Mut machen.
Zum einen: Wir sollten die Fähigkeit, mit Krisen umgehen zu können, nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln oder sogar mit Wohlbefinden. Es ist nichts falsch mit Ihnen, wenn Sie in negativen Situationen negative Gefühle haben. Sie gehören zu uns als Menschen.
Wer psychisch gesund ist, spürt auch Angst
Nicht zu wissen, wie es weitergeht, macht Angst; jemanden zu verlieren tut weh; zu realisieren, dass wir sterben können und werden, ist überwältigend; zu erleben, wie wenig Einfluss man auf andere Menschen hat, macht traurig und hilflos.
Psychische Gesundheit bedeutet auch, traurig sein zu können, Angst zu spüren, Ohnmacht zu erleben und keine Angst vor diesen Gefühlen zu haben, weil sie nun mal zu einem vollen Leben dazugehören. Gefährlich wird es, wenn diese Gefühle alles sind, was Sie fühlen können.
Versagen Sie sich deshalb nie den Blick auf die kleinen und großen guten Momente am Tag und im Leben. Manchen hilft dabei ein Dankbarkeitstagebuch – kleine kurze Notizen am Ende des Tages darüber, was heute mal nicht schlecht war. Probieren Sie es mal aus, es ist eine Übungssache.
Zur Person
Anja Lehmann ist leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes-Klinikum Am Urban.
Machen Sie eine Pause
Wenn Sie traurig sind, weinen Sie und suchen Sie Trost, lassen Sie sich trösten, denn das zeigt, dass es Menschen gibt, die sich um Sie sorgen. Das ist Glück.
Wenn Sie überwältigt und überfordert sind, machen Sie eine Pause. Fliegen Sie in den Urlaub, wenn es nur dort Erholung gibt – Sie können die Klimakrise nicht allein lösen. Fliegen bleibt falsch, das wissen Sie und ich, aber dieses Mal haben Sie sich dafür entschieden, und sich schuldig zu fühlen, erschwert Ihre Erholung, die Sie so dringend brauchen und dann wären Sie umsonst geflogen.
Und vor allem: Bleiben Sie neugierig auf sich. Wie wir in Krisen reagieren, ist nicht vorhersagbar. Sie werden also auch Neues über sich lernen.
So wird das Miteinander besser
Meine Bitte an Sie für ein besseres Miteinander: Gehen Sie davon aus, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt einen guten Grund hat, sich so und nicht anders zu verhalten und dieser Grund ist fast nie: weil dieser Mensch doof ist oder etwas mit ihm nicht stimmt. Das nehmen Sie ja auch für sich in Anspruch.
Seien Sie gut zu sich und finden Sie Ihre Nische, in der Sie für diesen Moment die Welt ein kleines bisschen schöner machen können, für sich und/oder für andere.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen ein besseres 2025!"
Hinweis der Redaktion: Wenn Sie sich über die Feiertage einsam fühlen, können Sie auf diese Angebote zurückgreifen.
- Die Telefonseelsorge erreichen Sie rund um die Uhr unter 0800 1110111 oder 0800 1110222.
- Für Menschen ab 60 Jahren gibt es "Silbernetz", das vom 24. Dezember bis Neujahr jeweils bis um 22 Uhr unter 0800 4708090 erreichbar ist.
- Auch ein Tipp: die Onlinevermittlung keinerbleibtallein.net.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Anja Lehmann