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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wichtige Änderung ab Oktober Kommt jetzt die große Insolvenzwelle?
Die Corona-Krise stellt Tausende Firmen vor finanzielle Probleme. Deshalb hatte der Bund eine wichtige Regelung ausgesetzt: Unternehmen mussten nicht mehr anmelden, wenn sie zahlungsunfähig sind. Damit ist nun Schluss.
Galeria Karstadt Kaufhof, Maredo, Escada: Die Liste der Firmen, die in der Corona-Krise eine Insolvenz angemeldet haben oder vor der kompletten Pleite stehen, ist lang. Doch damit nicht genug: Einige Experten warnen bereits vor einer noch größeren Insolvenzwelle.
Gerade Unternehmen aus Branchen wie dem Einzelhandel, dem Tourismus oder der Autoindustrie könnten bald pleitegehen. Firmen, bei denen wegen des Virus Einnahmen in Milliardenhöhe wegblieben. Zehntausende Arbeitsplätze wären in diesem Fall bedroht.
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Die Befürchtung hängt mit einer Änderung der Gesetzeslage zusammen, die ab dem 1. Oktober gilt. Denn: Unternehmen, die vor einer Zahlungsunfähigkeit standen, mussten in den vergangenen Monaten keine Insolvenz anmelden.
Bis zum 30. September wurde die Pflicht zur Insolvenzanmeldung aufgrund der Krise ausgesetzt – und nun wieder eingeführt. Was das bedeutet, ob uns im Herbst wirklich eine große Insolvenzwelle droht: t-online beantwortet die wichtigsten Fragen um diese Regelung.
Was genau ändert sich ab Oktober?
Firmen müssen ab dem 1. Oktober wieder einen Insolvenzantrag beim zuständigen Amtsgericht stellen, wenn sie zahlungsunfähig sind. Als zahlungsunfähig gelten Unternehmen, wenn sie mindestens zehn Prozent ihrer Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Sie müssen dann binnen drei Wochen einen schlüssigen Finanzplan aufstellen. Wegen der Corona-Pandemie hatte der Bund diese Pflicht im März ausgesetzt. Die Ausnahme aber läuft nun aus.
Lediglich in Fällen der Überschuldung bleibt die Antragspflicht bis Jahresende ausgesetzt. Als überschuldet gilt eine Firma, wenn sie flüssig genug ist, um Rechnungen zu bezahlen, ihre Schulden aber so hoch sind, dass sie sie absehbar überfordern würden.
Allerdings: Mehr als 90 Prozent der Insolvenzen resultieren aus einer Zahlungsunfähigkeit, lediglich der Rest aus einer Überschuldung. Deshalb fürchten Experten eine Insolvenzwelle im Herbst.
Droht uns eine Insolvenzwelle?
Das ist die entscheidende Frage – und die am meisten umstrittene. Während vor allem Wirtschaftslaien stark davon ausgehen, sind viele Experten weniger überzeugt.
Der Vorsitzende des Verbands Insolvenzverwalter Deutschlands (VID), Christoph Niering, etwa stellte auf die staatlichen Maßnahmen wie das verlängerte Kurzarbeitergeld und die Überbrückungshilfen ab. Diese dürften viele Betriebe am Leben halten, die eigentlich vor der Pleite stünden, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Deshalb sei eine wahre Welle eher unwahrscheinlich.
Auch der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, glaubt nicht an Massenpleiten. Er sagte jüngst im Interview mit t-online: "Die Zahl der Insolvenzen wird zwar sicherlich etwas steigen. Eine richtige Insolvenzwelle aber wird es nicht geben."
Anders als Niering begründete er dies aber vielmehr mit der guten Eigenkapitalausstattung vieler Firmen. Das heißt: Die Unternehmen sind nicht so stark auf Kredite angewiesen, die etwa abgezogen werden können.
Besonders kleine Betriebe könnten betroffen sein
Das hat auch der Deutsche Sparkassen- und Giroverband in einer Umfrage unter deutschen Mittelständlern jüngst herausgefunden: Die Firmen haben demnach eine durchschnittliche Eigenkapitalquote von 39 Prozent – genug, um mögliche Verluste fürs Erste selbst wegzustecken.
Die Crux bei all dem: Bei diesem Wert handelt es sich um einen Durchschnitt. Das bedeutet, in Einzelfällen kann die Eigenkapitalausstattung viel geringer sein. Wo es der Fall ist, droht dennoch eine Insolvenz.
Zudem hat der Sparkassenverband in seine Befragung nur Firmen einbezogen, die einen Umsatz von mindestens 20 Millionen Euro haben. Kleinstbetriebe wie Kneipen, Restaurants oder Friseurläden fallen aus der Betrachtung heraus. Diese sind mitunter häufiger auf Bankkredite angewiesen.
Das würde auch zu aktuellen Zahlen passen. "Derzeit haben über 300.000 Unternehmen in Deutschland finanzielle Probleme", sagte Frank Schlein, Geschäftsführer der Wirtschaftsauskunftei Crifbürgel.
Wann kommt es zu einer Insolvenzwelle?
Fraglich ist auch, wann es zu einer Insolvenzwelle kommt. Einige Experten rechnen zwar damit, dass die Zahl der Insolvenzen Ende 2020 steigen wird. "Eine Insolvenzwelle wird kommen, weil das wirtschaftliche Umfeld viel rauer geworden ist", sagte Nikolaus von der Decken, Geschäftsführer der Wirtschaftsauskunftei Creditreform, jüngst dem "Hamburger Abendblatt".
Allerdings rechne er mit einer "echten Welle" erst 2021. Im Vergleich zu 2019 werde es einen Anstieg "im unteren zweistelligen Prozentbereich" geben.
Ökonom Steffen Müller vom Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) in Halle sieht das ähnlich. Er geht davon aus, dass es erst nächstes Jahr zu mehr Insolvenzen kommt. "Problematisch ist vor allem die extreme Verlängerung des Kurzarbeitergeldes bis Ende 2021", sagte er. Er rechne damit, dass diese Maßnahme die Zahl der Firmeninsolvenzen bis zum Auslaufen niedrig halten wird, so Müller.
Insolvenzexperte Niering verweist indes darauf, dass viele Geschäftsaufgaben im Stillen passieren. Gerade Inhaber von kleinen Kneipen, Reisebüros oder Einzelhandelsgeschäften dürften einfach zumachen, ohne bis zur Zahlungsunfähigkeit zu warten.
Drohen auch private Pleiten?
Wenn es zu einer Insolvenzwelle bei Geschäften kommt, gehen damit auch private Pleiten einher, sind sich Experten einig. Allerdings dauere es noch eine Weile, bis die Unternehmensinsolvenzen im Einzelfall in die Pleite von Verbrauchern münden, sagte Patrik-Ludwig Hantzsch von Creditreform. Ende 2021 oder Anfang 2022 werde man einen größeren Effekt bei den Privatinsolvenzen sehen.
Stärkster Auslöser für eine ausweglose Finanzlage sei Arbeitslosigkeit, so Hantzsch. Dies dürfte in der Corona-Krise etwa viele Solo-Selbstständige treffen oder Beschäftigte in den stark gebeutelten Branchen Gastronomie, Tourismus oder in der Luftfahrt.
Zudem sei die Autobranche – neben dem Einbruch durch die Virus-Pandemie – im Strukturwandel, was die Stellenstreichungen der Zulieferer zeigten. "Diese Leute werden mittelfristig auf der Straße stehen", so Hantzsch. Viele staatliche Hilfen liefen bis zur Bundestagswahl 2021, sagte der Creditreform-Experte. "Im Wahljahr wird man vieles dafür tun, wenig Arbeitslose zu bekommen." Das könnte sich danach womöglich ändern.
- Eigene Recherche
- schuldnerberatungen.org
- Handelsblatt: "Stichtag 1. Oktober: Experten erwarten erste Pleitewelle"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters