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BVMW-Präsident Ohoven: "Die wachsende Europaskepsis macht mir große Sorge"


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Mittelstandspräsident Ohoven
"Die wachsende Europaskepsis macht mir große Sorge"

InterviewVon Sabrina Manthey

Aktualisiert am 05.04.2019Lesedauer: 8 Min.
Mario Ohoven: Der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) beteiligt sich an der Kampagne "Grenzenlos" für die Europawahl.Vergrößern des Bildes
Mario Ohoven: Der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) beteiligt sich an der Kampagne "Grenzenlos" für die Europawahl. (Quelle: Jürgen Heinrich/imago-images-bilder)
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Deutschland hat wie kein anderes Land von der europäischen Integration profitiert. Doch das Projekt Europa wankt. Warum Brüssel es seinen Kritikern oftmals leicht macht und was der Mittelstand von den Institutionen der Europäischen Union erwartet.

In Kürze können 500 Millionen EU-Bürger über die Zusammensetzung des EU-Parlamentes bestimmen. Insgesamt 96 der künftig 705 EU-Parlamentarier werden aus Deutschland entsandt. Eine große Chance für die Wähler, die Zukunft der Europäischen Union mitzugestalten, betont Mario Ohoven, Präsident des Verbandes mittelständischer Wirtschaft (BVMW).

Im Interview mit t-online spricht der BVMW-Präsident über die Bedeutung von Europa für die deutsche Wirtschaft und den Bürger. Eine politische und wirtschaftliche Abschottung könne nicht die Antwort auf die Fragen der Gegenwart sein, so Ohoven. Es brauche ein Bekenntnis für Europa und die Institution EU-Parlament. Ein in die Zukunft gerichtetes Denken sei auch für Deutschland gefragt, um den Gefahren einer Rezession entgegenzusteuern.

t-online.de: Sehr geehrter Herr Ohoven, an der letzten Europawahl beteiligten sich europaweit weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten. 17 Prozent der Deutschen finden, Deutschland wäre außerhalb der EU besser aufgehoben. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft beteiligt sich an der Kampagne "Grenzenlos" für die Europawahl. Warum ist Ihnen dies so wichtig? Was bedeutet Europa für die mittelständische Wirtschaft?

Mario Ohoven: Die Europäische Union ist mit über 510 Millionen Einwohnern der größte Binnenmarkt weltweit und gleichzeitig unser Friedens- und Wohlstandsgarant. Europa ermöglicht uns ein nie zuvor gekanntes Maß an Freiheiten – für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Deutschland lebt vom Export, deshalb profitiert gerade unser Mittelstand vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenwachsen Europas.

Es reicht aber nicht aus, den Menschen nur die wirtschaftlichen Vorteile der EU in Euro und Cent vorzurechnen, wir müssen vielmehr ihre Herzen erreichen. Im Mittelstand haben wir den Grundsatz "nicht meckern, sondern machen". Das gilt auch für die geringe Wahlbeteiligung. Anstatt dies nur zu beklagen, haben wir deshalb beschlossen, aktiv für die Teilnahme an der Europawahl zu werben. Ich bin zuversichtlich, dass wir diesmal eine höhere Wahlbeteiligung haben werden.

Auf der anderen Seite gibt es die "neue Faszination des Autoritären" in Europa, wie Bundespräsident Steinmeier es nennt. Eine Faszination, die zu einer politischen und wirtschaftlichen Abschottung führen kann. Wie steht es Ihrer Meinung nach um die EU: Stehen wir vor einem politischen Neustart oder steuern wir auf den Zerfall zu?

Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. Politische und wirtschaftliche Abschottung war und ist für den Mittelstand kein gangbarer Weg. Denn eine Politik, die die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet und Freihandel ablehnt, nutzt kurzfristig wenigen und schadet langfristig allen.

Europa muss politisch weiterdenken und sich vor allem weiterentwickeln, um eine Antwort auf diese Entwicklungen geben zu können. Hier meine ich eine demokratisch besser legitimierte Währungsunion, die Schaffung einer echten Europäischen Verteidigungsunion und ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, das alle Mitgliedsländer einbindet, kurz: Subsidiarität und Eigenverantwortung statt EU-Superstaat.

Apropos Eigenverantwortung: Diese soll in Europa stärker gelebt werden, fordern Sie. Welche Erwartungen haben Sie an den Mittelstand und den EU-Bürger?

Politiker, aber auch Unternehmer suchen die Schuld für Fehlentwicklungen allzu oft bei EU-Institutionen. Auch der nationale Gesetzgeber schiebt gern Brüssel die Verantwortung für eigene unpopuläre Entscheidungen zu. Brüssel wiederum macht es seinen Kritikern leicht, weil zum Beispiel immer wieder gegen das Prinzip der Subsidiarität verstoßen wird. Zur Eigenverantwortung gehört auch, dass endlich Schluss sein muss mit den teils offenen, teils verdeckten Versuchen einer Vergemeinschaftung der Schulden oder der Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung.

Mario Ohovencoremedia:///cap/blob/content/85516752#data ist seit gut 30 Jahren im Bereich Vermögensanlagen tätig. 1998 wurde der gelernte Banker zum Präsidenten des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW) gewählt.

Der Wirtschaftsverband vertritt seit seiner Gründung im Jahr 1975 national und international die Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen und Selbständige.

Die Europaskepsis vieler Bürger gründet auch auf dem Empfinden, dass das einstige Versprechen von "Frieden, Freiheit und Wohlstand" wankt. Die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit nimmt zu. Der Kapitalismus, so scheint es, kann sein Versprechen nicht mehr halten?

Die wachsende Europaskepsis macht mir große Sorge. Deutschland hat wie kein anderes Land von der europäischen Integration profitiert: über 70 Jahre Frieden, der Wegfall von Grenzen sowie Wohlstand durch die wirtschaftliche Integration Europas.

Auf der anderen Seite sehen die Menschen bei uns im Lande, dass ihre Löhne und Gehälter oft nicht mehr mit dem Wachstum der privaten Vermögen Schritt halten. Daran ist aber nicht "die EU" oder "der Kapitalismus" Schuld, sondern in erster Linie eine verfehlte Steuerpolitik und steigende Sozialabgaben. Im Ergebnis erodiert die Mitte der Gesellschaft. Nur zwei Beispiele: Vor 60 Jahren fiel man erst beim 20-fachen des Durchschnittseinkommens unter den Spitzensteuersatz, heute reicht das 1,3-fache. Die Kapitalerträge der Superreichen werden dagegen pauschal mit 25 Prozent besteuert. Das fördert die Ungleichheit – und damit den Verdruss.

Bleiben wir bei den Steuern. Anhand von Modellen der Steuervermeidung sparen multinationale Konzerne Abgaben in Milliardenhöhe. Es gibt verschiedene Vorstöße, das Steuerdumping in der EU einzudämmen. Für wie effektiv halten Sie diese?

Die EU-Mitgliedsländer müssen gemeinsam eine faire und angemessene Besteuerung für alle Unternehmen sicherstellen. Das Problem dabei ist, dass Entscheidungen über Steuern in der EU nur einstimmig gefällt werden können. Wir plädieren deshalb für die Einhaltung des Kodex des Rates der EU zur Vermeidung "schädlichen Steuerwettbewerbs". Nationale Alleingänge oder Insellösungen mehrerer Mitgliedstaaten verzerren nur den Wettbewerb zugunsten ausländischer Konkurrenten.

In diesem Zusammenhang scheinen aber auch die Vereinigten Staaten von Europa in weite Ferne gerückt. Das ist auch nicht Ihre Vorstellung von Europa. Warum nicht?

Dafür gibt es mehrere gute Gründe. Zunächst einmal dürfen die europäischen Institutionen nicht regeln, was Länder oder Regionen besser leisten können. Das in der EU verankerte Prinzip der Subsidiarität muss daher wieder stärker in den Fokus gerückt werden. Erst wenn ein Problem auf der unteren Ebene nicht lösbar ist, sollte es auf der nächsthöheren Ebene behandelt werden.

Zudem muss die Haushaltshoheit der Länder auch weiterhin erhalten bleiben. Eine Vergemeinschaftung von Schulden führt direkt in eine Transferunion, aber nicht zu einer wirtschaftlichen Stärkung der hoch verschuldeten Mitgliedsländer.

Das bedeutet, jede Regierung ist und bleibt für die eigenen Finanzen verantwortlich. Weiter fordern Sie, Banken nicht erneut auf Kosten der Steuerzahler zu retten. Was, wenn nun ein Staat oder eine Bank in Schieflage gerät?

Unser Verband, der BVMW, spricht sich dafür aus, den Europäischen Stabilitätsmechanismus als Kriseninstrument zu stärken. Die Kommission sollte ihm die Überwachung der nationalen Haushalte der EU-Mitgliedstaaten übertragen.

Wir sind strikt dagegen, dass Banken auf Kosten des Steuerzahlers gerettet werden. Stattdessen sollten die Aktionäre und Bankengläubiger in die Pflicht genommen werden.

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Der Mittelstand fordert ein Signal für einen "wirtschaftspolitischen Aufbruch". Was sind die vordringlichsten Aufgaben?

Unser Verband hat die wirtschaftspolitischen Positionen des Mittelstands in einem Unternehmerprogramm zur Europawahl 2019 zusammengefasst. Das Wichtigste ist, dass wir unsere gemeinsamen europäischen Werte nicht nur als Monstranz vor uns hertragen, sondern sie leben.

Was die Erwartungen der Mittelständler an die EU betrifft, beschränke ich mich hier auf Kernforderungen. Der Mittelstand, als Grundpfeiler der europäischen Wirtschaft, muss bei allen EU-Gesetzgebungsverfahren eingebunden werden und zwar von Anfang an. Dem Subsidiaritätsprinzip gehört wieder Geltung verschafft, die Freizügigkeit muss verteidigt werden. Und noch ein praktischer Punkt: Die EU-Förderprojekte sollten die Gründungsförderung stärker fokussieren. Sonst gehen Europa à la longue die Unternehmer aus.

Stichwort Freizügigkeit – der Austritt Großbritanniens aus der EU rückt näher. Eine Einigung ist weiter nicht in Sicht. Ist der deutsche Mittelstand für einen ungeordneten Brexit gewappnet?

Wann und wie der Brexit kommt, steht momentan in den Sternen. Eines ist jedoch klar: Der Brexit kennt nur Verlierer. Umso mehr ist es unsere Aufgabe als Verband, den Mittelstand so gut wie möglich für den Tag X zu wappnen, und genau das tun wir seit Langem mit Analysen, Expertenseminaren und Informationsveranstaltungen für die Unternehmer.

Die Mittelständler selbst treffen aber auch Vorsorge. So wissen wir aus Umfragen, dass mehr als zwei Drittel Gespräche mit Kunden und Lieferanten über mögliche Auswirkungen führen. Jeder zweite investiert in Schulungen im Zollrecht, vier von zehn Unternehmern überprüfen ihre Wertschöpfungs- und Lieferketten sowie bestehende Verträge auf potenzielle Risiken durch den Brexit. Und immerhin 12 Prozent denken konkret über einen Rückzug aus dem britischen Markt nach.

Blicken wir auf Deutschland: Führende Wirtschaftsforschungsinstitute und die Bundesregierung haben ihre Wachstumsprognosen für Deutschland gesenkt. Wie schätzen Sie die Lage des deutschen Mittelstands im Jahr 2019 ein?

Da muss man unterscheiden, wie die Mittelständler in unserer aktuellen Umfrage ihre eigene wirtschaftliche Lage einschätzen, und welche Entwicklung sie für die deutsche Wirtschaft insgesamt in diesem Jahr erwarten.

Geht es um das eigene Unternehmen, zeigen sich die Unternehmer für 2019 in ihrer ganz großen Mehrheit, nämlich zu fast 90 Prozent, optimistisch. Ein völlig anderes Bild ergibt sich, wie gesagt, bei der Prognose zur Konjunktur: Mehr als jeder zweite Mittelständler sieht Deutschland auf dem Weg in die Rezession.

Wie realistisch ist die Gefahr für Deutschland, in diesem Jahr in eine Rezession abzugleiten?

Die Rezessionsgefahr ist – leider – real. Ich habe bereits im Dezember auf einer Pressekonferenz vor dem drohenden Abschwung in 2019 gewarnt. Die Vorzeichen sind nicht mehr zu übersehen: Das globale Wachstum geht zurück, ein harter Brexit droht, Handelssanktionen greifen um sich, und unser bisheriger Wachstumsmotor, die Automobilindustrie, ist ins Stottern geraten.

Außerdem dämpft der anhaltende massive Fachkräftemangel die Wachstumsaussichten. Über 90 Prozent der Mittelständler haben Schwierigkeiten, offene Positionen zu besetzen, das ist ein trauriger Rekordwert. Vor diesem Hintergrund halte ich Wachstum und Wohlstand für äußerst gefährdet.

In der Haushaltspolitik Deutschlands fordern Sie ein Umsteuern. Konkret: Zukunftsinvestitionen sollen Vorrang vor Sozialkonsum haben. Bedeutet das, bei den Sozialausgaben den Rotstift anzusetzen und wenn ja, wo?

Die Bundesregierung muss dringend umsteuern, denn der Bundeshaushalt weist eine bedenkliche Schieflage auf. Mit 57 Prozent sind die Sozialausgaben der bei Weitem größte Einzelposten, der Anteil der Investitionen liegt dagegen bei knapp 11 Prozent. Die Nettoinvestitionsquote betrug 2017 nur noch 2,1 Prozent; damit rangierte Deutschland im internationalen Vergleich unter ferner liefen.

Um nicht missverstanden zu werden, es geht nicht darum, bei Sozialausgaben jetzt den Rotstift anzusetzen. Die große Koalition darf nur nicht weiter wie bisher Sozialgeschenke nach dem Gießkannenprinzip verteilen. Deutschland ist bei den Energiepreisen, Steuern und Sozialleistungen Spitze, bei Investitionen, Digitalisierung und Unternehmensneugründungen aber eher Schlusslicht.

Wir brauchen mehr Wagniskapital, damit Deutschland wieder Gründerland wird, mehr Forschungsförderung und vor allem: Bei Digitalisierung und künstlicher Intelligenz müssen wir endlich klotzen, nicht länger kleckern. Kurz gesagt, der Mittelstand erwartet von der Bundesregierung einen haushaltspolitischen Kurswechsel und eine klare Wachstumsstrategie gegen den Abschwung.

Angela Merkel war die erste Frau an der Spitze der CDU. Sie ist die erste Kanzlerin der Bundesrepublik und regiert seit 2005 ununterbrochen das Land. Wie bewerten Sie die Ära Merkel?

Die Bilanz der Bundeskanzlerin fällt aus meiner Sicht durchwachsen aus. Frau Merkel hat Deutschland sicher durch die Finanz- und Eurokrise navigiert, für diese Leistung verdient sie zweifellos unseren Respekt. Anders sieht es etwa bei den Themen Flüchtlinge oder Europa aus. Da vermisse ich Realitätssinn und in die Zukunft weisende Impulse.

Das gilt auch und besonders für die Wirtschaftspolitik. Während die letzte Unternehmenssteuerreform bei uns mehr als zehn Jahre zurückliegt, haben die USA und andere wichtige Industrieländer die Steuern für Unternehmen teilweise erheblich gesenkt oder planen dies. Hier müsste die Bundeskanzlerin sofort handeln, notfalls auch auf Kosten des Koalitionsfriedens. Ich fürchte allerdings, der deutsche Mittelstand wird auch die letzten Jahre der Ära Merkel darauf vergeblich warten.

Herr Ohoven, vielen Dank!

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