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Pflegeversicherung in der Krise: "Die Babyboomer haben Schuld!"


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Pflegeversicherung am Abgrund?
"Die Boomer müssen ihre Suppe selbst auslöffeln"


08.10.2024 - 12:56 UhrLesedauer: 4 Min.
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Eine Seniorin in einer Pflegeeinrichtung (Symbolbild): Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland könnten schon bald auf der Kippe stehen.Vergrößern des Bildes
Eine Seniorin in einer Pflegeeinrichtung (Symbolbild): Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland könnten schon bald auf der Kippe stehen. (Quelle: IMAGO/Malte Ossowski / SVEN SIMON)

Die finanzielle Lage der gesetzlichen Pflegeversicherung ist dramatischer als bislang öffentlich bekannt. Aber warum? Und wer ist überhaupt schuld an der Misere?

Die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung könnten im kommenden Jahr stärker steigen als bisher befürchtet. Grund ist unter anderem die schlechte Finanzsituation der Pflegeversicherung. Zwar ist noch nichts entschieden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte am Montag in Berlin aber eine "große Reform" an, die in wenigen Wochen vorgestellt werden solle. Es gehe dabei um die Finanzierung, etwa um die Beiträge und die Eigenbeteiligung in der stationären Pflege.

Aber warum ist die Situation der Pflegeversicherung in Deutschland so prekär? Wer hat Schuld daran? Und wie kann man die Probleme bereinigen? t-online beantwortet die wichtigsten Fragen.

Warum ist die Lage der Pflegeversicherung so prekär?

Weil die Zahl der Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen, seit Jahren steigt. Der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg erklärt t-online, dass die Gründe dafür zum einen demografischer Natur seien. Ursprünglich habe man gedacht, die Zahl der Pflegefälle im Vergleich zur Einführung im Jahr 1995 würde sich bis heute verdoppeln oder verdreifachen. "Damals wurde sich allerdings verkalkuliert", sagt Raffelhüschen.

"Die Erfinder des Ganzen haben nicht damit gerechnet, dass wir alle, die auch nur im Ansatz dement sind oder bei kleinen Alltagstätigkeiten Hilfe benötigen, auch noch mit unter den Schirm der Pflegeversicherung packen", sagt der Wirtschaftswissenschaftler.

Schuld an der Situation sei allerdings nicht nur der demografische Wandel in Deutschland, sondern auch die Politik. Durch die mehrfachen Umformulierungen der Pflegestufe sei die Zahl der Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen, noch einmal gestiegen, erklärt Raffelhüschen. "Das heißt, der demografische Verdopplungsprozess wurde durch politische Geschenke nochmals verdoppelt." Letztlich hat sich der Wert seit 1995 also vervierfacht.

Wer wird unter der drohenden Zahlungsunfähigkeit leiden?

Für Raffelhüschen sind die Leidtragenden ganz klar: "Die jungen Menschen werden diejenigen sein, die letzten Endes in die Röhre gucken." Schlimm daran finde er, dass der Kollaps der Pflegeversicherung schon bei ihrer Einführung 1995 vorhergesagt worden sei. "Wir als Wissenschaftler haben von Anfang an gewarnt, dieses Schneeballsystem zulasten künftiger Generationen überhaupt zu starten", sagt Raffelhüschen. Schließlich breite sich das System auf immer mehr Menschen aus, aber es gebe weniger aktuelle Beitragszahler.

Die Generation der heute etwa 30-Jährigen habe noch nicht vollends begriffen, dass die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland vor dem Kollaps stünden, führt der Wirtschaftswissenschaftler weiter aus. "Die Babyboomer sind zahlenmäßig überlegen. Das zweite Problem: Sie sind ziemlich langlebig. Hätten wir die Sterbetafeln der Vergangenheit, also der Generation der Großeltern der heute etwa 30-Jährigen, würden wir das Problem etwas ruhiger betrachten." Denn in dem Szenario wären weniger Menschen für eine lange Zeit pflegebedürftig. Dementsprechend weniger belastet wäre die Pflegeversicherung.

Es brauche nun dringende Reformen, um die deutschen Sozialsysteme zu retten, so Raffelhüschen: "Das alles ist eine angekündigte Katastrophe. Und das Schlimmste daran ist: Es sieht nicht danach aus, als hätte jemand den Mut, das meiner Generation so zu sagen", führt der 67-Jährige weiter aus.

Kann der Pflegeversicherung überhaupt das Geld ausgehen?

Das Geld könne der Pflegeversicherung gar nicht ausgehen, meint Raffelhüschen. "Was passiert, ist, dass Leistungen gekürzt oder die Beiträge erhöht werden." Allerdings gebe es in der derzeitigen Politik das sogenannte Leitungsprimat. "Sie merken es ja nicht nur an der Diskussion um die Pflegeversicherung, sondern auch in jener um die Rente", erklärt der Wissenschaftler. "Weder Arbeitsminister Hubertus Heil noch Karl Lauterbach wollen die Leistungen aus Angst um ihre Wählerstimmen einschränken, sondern nur deren Preise erhöhen."

Daraus ergebe sich in der Diskussion über Rente und Pflegeversicherung eine völlige Umkehr des Verursacherprinzips: "Wir halten an den Leistungen fest und sagen, die jungen Beitragszahler sind jetzt für die älteren verantwortlich", führt der Wirtschaftswissenschaftler weiter aus.

Wie kommt die Pflegeversicherung aus der Krise?

Statt der Leistungen müsste das Preisniveau der Pflegeversicherung gehalten werden, erklärt Raffelhüschen. "Wenn wir die Beiträge konstant halten, aber die Leistungen entsprechend dem demografischen Prozess runterfahren, dann haben wir eine generationengerechte Lösung."

Der Wirtschaftswissenschaftler erklärt, die Generation der Babyboomer sei eine Gefahr für die deutschen Sozialsysteme. "Die meisten in meinem Alter denken, sie hätten ein Problem. Das ist völliger Unfug – denn sie sind das Problem. Und wir, die das Problem sind, schieben die Last auf die Schultern derjenigen, die unsere Kinder sind und dafür wirklich nichts können."

Die Generation der Babyboomer habe einfach zu wenig Kinder in die Welt gesetzt, führt Raffelhüschen weiter aus. "Wir sollen die Suppe gefälligst selbst auslöffeln", sagt er.

Schreckt die Politik vor dem Angriff auf das Leistungsprimat zurück?

Raffelhüschen sieht nun die Politik in der Pflicht. "Sie müssen verstehen: Meine Generation ist zwar Problem und Verursacher dieses Problems zugleich, aber wir haben einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Wir sind in der Mehrheit, die junge Generation ist in der Minderheit."

Würde eine Bundesregierung nun das Leistungsprimat angreifen, müsste sie den politischen Prozess gegen die Mehrheit der Wähler im Land organisieren. "Dazu müsste man Mut haben", meint Raffelhüschen. "Das wäre der Mut, den damals Gerhard Schröder mit der Einführung seiner Agenda 2010 hatte. Das war ein mutiger Schritt – und diesen Schritt brauchen wir erneut. Aber wer diesen Schritt macht, riskiert viel."

Was muss jetzt konkret geschehen?

"Ein mutiger Schritt wäre es, die Pflegeversicherung bei dem Beitragssatz zu belassen, an dem sie derzeit ist", sagt Bernd Raffelhüscher. Zwar gebe es dann immer noch keine Gleichheit, weil Babyboomer zu Beginn ihres Lebens nichts für die Pflegeversicherung bezahlt hätten, aber die Last würde zumindest nicht weiter auf jüngere Menschen verteilt.

"Die Pflegefälle der Vergangenheit sind sicher arme Menschen, aber sie sind die Einführungsgewinnler eines neu begründeten Schneeballsystems", erklärt der Wissenschaftler. "Sie haben für die Leistung, die sie bekommen haben, nichts gezahlt."

Aus Sicht von Raffelhüscher müssten Pflegebedürftige die ersten sechs bis zwölf Monate ihrer Pflege selbst zahlen. Natürlich würden sich viele Babyboomer im Fall dieser Einführung darüber beschweren. "Dann muss man denen allerdings entgegenhalten, dass ihre Eltern die Pflege noch in Gänze selbst zahlen mussten. Warum sollen sie nicht mal ein halbes oder ganzes Jahr selbst zahlen?", schließt Bernd Raffelhüscher.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Bernd Raffelhüscher
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