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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Brisante Wirtschaftsdaten Die Pleitewelle kommt ins Rollen
Vom kleinen Mittelständler bis zum großen Konzern: Die Reihe an Insolvenzen reißt nicht ab. Eine aktuelle Studie geht davon aus, dass es auch 2024 so weitergeht.
Die deutsche Wirtschaft strauchelt, aus den Unkenrufen sind mittlerweile handfeste Zahlen geworden: Viele Unternehmer können den Betrieb nicht aufrechterhalten, die Zahl der Insolvenzen hat deutlich zugenommen.
Auch in den kommenden Monaten wird es wohl nicht besser, wie eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln und des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) zeigt, die t-online exklusiv vorliegt. Die Forscher gehen davon aus, dass noch mehr Betriebe schließen müssen. Zuletzt machte die Insolvenz der Signa-Gruppe, Konzernmutter der Kaufhauskette Galeria Karstadt Kaufhof, Schlagzeilen – und löste Sorgen über die künftige Gestaltung deutscher Innenstädte aus (mehr dazu lesen Sie hier).
Co-Autor und BVR-Volkswirt Gerit Vogt fügt hinzu: "Der von uns prognostizierte weitere Anstieg der Unternehmensinsolvenzen ist aus einzelwirtschaftlicher Sicht ein schlechtes Zeichen, da diese häufig mit Arbeitsplatz- und Forderungsverlusten einhergehen." Dennoch gehörten Insolvenzen in Marktwirtschaften dazu.
Die Insolvenzquote lag im Jahr 2022 bei 48 Fällen je 10.000 Unternehmen. Für dieses Jahr rechnen die Autoren nun mit einer Quote von 58 Fällen. In absoluten Zahlen hieße das: rund 17.400 Insolvenzen, ein Anstieg um 19 Prozent zum Vorjahr.
Gesamtwirtschaftliche Lage zeigt Auswirkungen
Für ihre Einschätzung haben die Studienautoren die Insolvenzquote der vergangenen Jahre ermittelt und hochgerechnet, wie sie sich entwickeln könnte. Bei ihren Berechnungen beziehen sie mehrere Faktoren mit ein, die die Zahl der Unternehmensinsolvenzen beeinflussen könnten. So steigt die erwartete Anzahl von Insolvenzen etwa an, wenn das prognostizierte Bruttoinlandsprodukt niedriger ausfällt. Im konkreten Fall rechnen sie mit einem Rückgang des BIP um 0,25 bis 0,4 Prozent für 2023. Der Umfang staatlicher Hilfen hat ebenfalls einen Einfluss.
Einer der wichtigsten Faktoren ist aber die gesamtwirtschaftliche Lage. Damit meinen die Autoren mit Bezug auf 2023 das Zusammenspiel aus erhöhter Inflation und daraus resultierender verminderter Kaufkraft sowie den angehobenen Leitzins der Europäischen Zentralbank, der Investitionen vor allem im Baugewerbe verteuert. Hinzu kommen schwächere Exporte, Lieferengpässe und Fachkräftemangel.
Insolvenzen seit 2009 zurückgegangen
Bisher war die Entwicklung eher in eine andere Richtung gegangen: Seit 2009 war die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen immer weiter zurückgegangen. Die Wende kam dann 2022, die allerdings noch mit den verzögerten Insolvenzen der Corona-Zeit erklärt werden konnte. Immerhin waren zwischenzeitlich die Meldefristen für Insolvenzen ausgesetzt worden. Umfangreiche Unternehmenshilfen sorgten von 2020 bis 2022 zusätzlich für niedrigere Insolvenzmeldungen.
Doch die aktuellen Zahlen lassen sich damit nicht mehr erklären. Allein im Juni 2023 wurden 1.548 Insolvenzanträge von den deutschen Amtsgerichten gemeldet, was einem Anstieg um 35,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat entspricht. Im ersten Halbjahr 2023 wurden insgesamt 20,5 Prozent mehr Insolvenzen gemeldet als im Vorjahr.
Experte nennt drei Gründe
"Der Anstieg der Insolvenzen im laufenden Jahr um etwa ein Fünftel gegenüber 2022 ist im Wesentlichen auf drei Gründe zurückzuführen", sagt Klaus-Heiner Röhl, Co-Autor der Studie und Ökonom am IW.
"Erstens eine Normalisierung des Insolvenzgeschehens nach den sehr niedrigen Zahlen während der Corona-Pandemie, zweitens eine Reaktion auf die aktuelle wirtschaftliche Schwächephase und drittens die kräftig gestiegenen Zinsen, die vor allem hoch verschuldete Unternehmen etwa im Immobiliensektor belasten", führt er weiter aus.
Große Unternehmen stärker betroffen
Interessant ist dabei auch, welche Branchen und welche konkreten Unternehmen besonders betroffen waren. Zum einen spielte die Unternehmensgröße eine Rolle.
Vor allem bei größeren Unternehmen war der Anstieg der Insolvenzzahlen in diesem Jahr deutlich zu spüren. Das zeige sich unter anderem daran, dass die Summe der Gläubigerforderungen aus Unternehmensinsolvenzen höher ausfällt. Im Juni 2023 stiegen die Forderungen im Vorjahresvergleich von knapp 0,8 auf gut 1,9 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2023 erhöhten sich die Forderungsausfälle um 69,7 Prozent auf rund 13,9 Milliarden Euro. Wenn größere Unternehmen pleitegehen, bedeutet das auch einen höheren Verlust an Arbeitsplätzen.
Baugewerbe, Handel und Dienstleistungsunternehmen seien traditionell stärker betroffen, so die Autoren. Doch in den vergangenen Jahren zeigte sich das nicht unbedingt in den Zahlen. Im Verkehr, Handel und Gastgewerbe stagnierten die Insolvenzzahlen zuletzt auf niedrigem Niveau. Im Dienstleistungsbereich sah es ähnlich aus. Erst 2023 stiegen in all diesen Bereichen die Insolvenzzahlen wieder an. Einzig im Handwerk gab es bereits 2022 mehr Insolvenzen als noch 2020. Bei den ansteigenden Insolvenzen steche nun aber keine Branche besonders hervor.
Mehr Insolvenzen im Jahr 2024 erwartet
Ein Ende der Entwicklung ist erst mal nicht in Sicht. Auch für 2024 rechnen die Wissenschaftler mit einer steigenden Anzahl von Insolvenzen.
Für die deutsche Wirtschaft ist das ein erschreckendes Zeichen. Denn Insolvenzen gehören zwar zu einem Wirtschaftssystem dazu, doch müssen ihnen entsprechende neue Unternehmensgründungen gegenüberstehen. Die Zahl der Firmenpleiten bereitet den Forschern dabei weniger Sorgen als mangelnde Reformen. "Sollte die Unternehmensdynamik so niedrig bleiben wie zuletzt, droht der deutschen Wirtschaft eine Zementierung überholter Strukturen", so Studienautor Vogt.
"Noch keine dramatische Insolvenzwelle"
"Momentan sehen wir aber trotz der Zunahme noch keine dramatische Insolvenzwelle", sagt Röhl. In "konjunkturell normalen Zeiten" sollte die Insolvenzquote ihrer Auffassung nach bei 76 Fällen liegen. In absoluten Zahlen entspräche das 23.000 Unternehmensinsolvenzen im Jahr. Davon ist ihre prognostizierte Quote für 2023 von 58 Fällen noch weit entfernt.
Die beiden Studienautoren leiten aus ihren Ergebnissen eine Reihe von Forderungen ab: Die staatlichen Hilfen der vergangenen Jahre müsse man zurückfahren und stattdessen gezieltere Unterstützung zur Transformation der Wirtschaft leisten. Mit Letzterem meinen sie vor allem schnellere "Genehmigungsverfahren, Bürokratieabbau und eine investitionsfreundliche Unternehmensbesteuerung".
- IW-Studie: "Unternehmensinsolvenzen auf dem Weg nach oben"
- Statement von Klaus-Heiner Röhl (IW)
- Statement von Gerit Vogt (BVR)