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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Netzagentur-Chef Müller "Das ist eine völlig neue Welt"
Der Winter geht zu Ende und die Gasspeicher sind voll. Wie kann das sein? Und warum haben wir uns alle so verrückt gemacht? Fragen an den Chef der Netzagentur, Klaus Müller.
Bis zum Herbst war er so etwas wie der Christian Drosten der Gaskrise. Kaum ein Tag verging, ohne dass Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, vor leeren Gasspeichern warnte, vor einer Gasmangellage und ihren Folgen: kalte Wohnungen, horrende Rechnungen, Fabrikschließungen.
Auch im Interview mit t-online sagte Müller noch im August, dass selbst im optimistischsten Szenario die Einspeicherungsziele kaum zu schaffen sind: "Einen Füllstand von 95 Prozent zum 1. November verfehlen wir in all unseren Szenarien." Und: Zumindest regional sei im Winter die Rationierung von Gas durchaus möglich.
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Heute, ein halbes Jahr später, wissen wir: Nichts dergleichen ist passiert. Die Speicher sind voll, die Wohnungen warm, alles noch mal gut gegangen. Doch warum eigentlich? Und wieso haben sich Müller und seine Kollegen offenbar so stark verrechnet? Ein Resümee des Winters und ein Ausblick – auch auf andere drängende Fragen der Energiewende.
t-online: Herr Müller, wie viel Spaß macht es Ihnen, den Teufel an die Wand zu malen?
Klaus Müller: Gar keinen.
Und wieso haben Sie es dann vergangenes Jahr ständig gemacht?
Wir hatten im letzten Jahr eine Situation, in der Unternehmen in Deutschland und auch in Europa große Angst hatten, in der sich viele Menschen aus guten Gründen gesorgt haben. Putin hat uns seit dem Sommer Schritt für Schritt den wichtigsten Gaszufluss abgedreht – und parallel sind wir mit historisch niedrigen Speicherständen aus dem Winter 21/22 gekommen. Wir wussten nicht, wie der nächste Winter werden würde. Deshalb war es damals richtig, auf die schlimmstmögliche Situation hinzuweisen und dafür vorzusorgen.
Das Ansprechen des pessimistischsten Szenarios ist das eine. Aber selbst mit Blick auf Ihre optimistischste Prognose könnte man meinen, dass Sie in der Schule schlechte Mathe-Noten hatten. Wie konnten Sie sich so stark verrechnen?
Niemand hat sich verrechnet. Nur sind die Dinge deutlich besser gelaufen, als wir befürchten mussten.
Was meinen Sie damit – warum sind die Gasspeicher jetzt so unerwartet voll?
Erstens: Wir haben erheblich Gas eingespart und mussten deshalb weniger aus den Speichern entnehmen. Der Winter ist milder ausgefallen, als wir erwarten mussten. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Dadurch konnten wir alle tatsächlich viel Gas sparen. Zudem hat die Industrie ihren Gaseinsatz für die Produktion reduziert. Allein in Deutschland beträgt das Minus gegenüber den Vorjahren rund 20 Prozent. Andere Länder waren sogar noch sparsamer, was zum zweiten Faktor führt.
Nämlich?
Wir haben viel weniger Gas ins Ausland weitergeleitet als wir das ursprünglich annahmen. Nach Osteuropa, aber auch nach Frankreich floss fast gar nichts mehr. Und drittens: Wir haben sehr stabile Gasimporte verzeichnet. Und dann haben auch die schnell fertig gebauten LNG-Terminals eine Rolle gespielt. Insgesamt würde ich darum sagen: Die Mathematik war richtig und unsere gemeinsamen Anstrengungen sowie günstige Umstände haben uns geholfen.
Dennoch: Glauben Sie, dass Ihnen nach diesen völlig verfehlten Prognosen noch einmal irgendwer die nächsten Warnungen abkauft?
Wie gesagt: Die Prognosen waren nicht verfehlt. Und ja, die Menschen werden zuhören.
Was macht Sie da so sicher?
Wenn es ernst wird, hören die Menschen immer zu – weil sie echte Sorgen umtreiben. Umgekehrt wissen wir seit der Corona-Pandemie von den Kollegen des Robert Koch-Instituts aber natürlich auch um das Präventions-Paradoxon: Kommt es zu einer Gasmangellage, sind wir schuld an den harten Einschnitten und möglicherweise Jobverlusten. Kommen wir, wie nun geschehen, drumherum, wirft man uns Alarmismus vor. Das ist ein schmaler Grat. Und doch würde ich es immer wieder so machen.
Wer hat denn jetzt am meisten Gas gespart – die Industrie oder die privaten Haushalte?
Die Industrie hat bereits seit dem Sommer kontinuierlich Gas eingespart. Die privaten Haushalte haben erst im Spätherbst angefangen zu sparen, weil es ja erst dann kühl wurde. Dann aber hat sich gezeigt: In den Wochen, in denen es zwischen fünf und zehn oder gar 15 Grad Celsius warm war, haben sie überdurchschnittlich viel gespart, zum Teil bis zu 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Als es draußen knackig kalt war, gingen die Einsparungen zurück, teils verbrauchten die Deutschen dann sogar etwas mehr Gas als in den Vorjahren.
Künftig soll viel Gas in Flüssigform an den neuen LNG-Terminals ankommen. Kritiker sagen: Die Kapazitäten, die wir da aufbauen, sind viel zu groß – in Mecklenburg-Vorpommern wollen viele den Terminalbau vor Rügen stoppen. Was denken Sie darüber?
Stand heute haben wir drei schwimmende Terminals: Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Lubmin. Von Überkapazitäten sind wir also meilenweit entfernt. Mir machen die Diskussionen um den Stopp für den LNG-Terminalbau große Sorgen. Denn wir wissen nicht, ob die künftigen Winter wieder so mild werden. Und wir wissen nicht, was Putin tut.
Aber der hat uns doch eh schon das Gas abgedreht.
Richtig. Aber Russland liefert immer noch Erdgas nach Südosteuropa. Das heißt: Putin kann Gas weiter als Waffe einsetzen. Stellt er auch dort die Pipeline ab, richtet sich der Blick in der EU schnell auf uns in Deutschland, auf unsere Flüssiggasterminals. Flüssiggas und die LNG-Terminals, die jetzt noch kommen sollen, sind also unsere Versicherung gegen kalte Winter und gegen russische Aggressionen. Auch wenn wir sie vielleicht nicht immer brauchen, ist es dennoch gut, sie zu haben. Ich werbe deshalb ausdrücklich dafür, an der Planung und dem Bau der sechs LNG-Terminals festzuhalten.
Dass wir sie nicht brauchen, liegt auch daran, dass die Gasspeicher jetzt am Ende dieses Winters so gut gefüllt sind. Ist die Gasversorgung im kommenden Winter nicht allein damit schon so gut wie gesichert?
Das könnte man meinen, aber dem ist nicht so. Eine Gasmangellage ist auch im nächsten Winter nicht unmöglich. Natürlich haben wir dieses Jahr deutlich bessere Voraussetzungen, um sie zu vermeiden. Aber wir müssen dafür schon noch etwas tun. Wenn es im nächsten Winter sehr kalt wird, werden wir sehen, wie schnell die Speicher sich leeren. Wir müssen deshalb auch weiterhin Gas sparen – was sich für jeden Einzelnen ja nicht zuletzt auch finanziell lohnt.
Klaus Müller, Jahrgang 1971, leitet die Bundesnetzagentur seit März 2022. Zuvor war er lange im Verbraucherschutz tätig, zuletzt acht Jahre als Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV). Müller ist langjähriges Mitglied bei den Grünen. Für sie war er von 2000 bis 2005 als Umwelt- und Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein Mitglied im rot-grünen Kabinett von Heide Simonis.
Die Neukunden-Preise für Gas sind zuletzt auf 10 Cent pro Kilowattstunde gefallen, so viel wie kurz vor Putins Überfall auf die Ukraine. Wird es dabei denn nicht bleiben?
Das ist schwer zu sagen. Sicher ist: Die Zeiten niedriger Preise für russisches Gas sind vorbei. Und Gas wird wahrscheinlich nicht wieder so billig wie noch vor zwei Jahren, als Verbraucher um die 6 Cent je Kilowattstunde zahlten.
Warum?
Bis zum vergangenen Jahr hat das russische Pipelinegas den Preis bei uns niedrig gehalten, er unterlag kaum den Kräften von Angebot und Nachfrage am Weltmarkt. Das ist jetzt anders. Wie in vielen Ländern schon immer werden auch wir uns künftig an stärkere Schwankungen gewöhnen müssen, etwa wenn Chinas Fabriken mehr Gas brauchen. Das ist eine völlig neue Welt, in der die Energiewende übrigens noch viel drängender wird.
Um genau die ringt in Berlin auch die Ampelkoalition: Es geht um Heizungen, E-Autos und neue Windkrafträder. Was denken Sie, überfordern die Politiker die Menschen in Deutschland?
Zunächst einmal: Die Klimakrise ist da, sie ist jetzt spürbar – nur eben bei uns noch relativ moderat und nicht so stark wie jetzt schon etwa in Pakistan, im Sudan oder in Teilen der USA. Das muss die Politik den Menschen erklären. Mein Eindruck ist, dass das auch gelingt und die meisten die Klimakrise längst begriffen haben. Viele Netzbetreiber werden gerade überrannt von Menschen, die in Solarenergie investieren wollen. Das ist super. Umso mehr aber muss die Politik dann auch den Rahmen dafür schaffen, nicht zuletzt durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze.
Für viel Aufregung sorgte zuletzt das Gasheizungsverbot. Nach dem Koalitionsgipfel will die Ampel nun wasserstofffähige Gasheizungen erlauben. Ist das mit Blick auf die Gasnetze überhaupt möglich?
Offensichtlich sind sich ja alle Experten einig: Wärmepumpen sind in den meisten Gebäuden heute schon installierbar. Fernwärme ist ebenfalls eine bewährte Form zu heizen. Holzpellett-Systeme haben Nebenwirkungen wie zum Beispiel den Platzbedarf. Ob sich dann noch eine weitere Heizart am Markt bewährt, wird man sehen müssen – aber noch hat sich das nicht gezeigt.
Das beantwortet aber nicht meine Frage nach den Netzen.
Lassen Sie es mich so sagen: Deutschland ist noch nicht einmal so weit, ein Wasserstoffnetz zwischen den Industriegebieten geplant zu haben. Wir stehen da noch ganz am Anfang. Das Engagement der Beteiligten dreht sich jetzt erst einmal darum, überhaupt Wasserstoff in großen Mengen zu beschaffen und zwischen den Abnehmern zu verteilen, die jetzt schon darauf angewiesen sind. Ich werbe sehr dafür, dass wir uns beim Wasserstoff auf die Industrie konzentrieren, die ihn heute und morgen braucht.
Eine weitere Idee der Ampel ist der Ausbau der Solar- und Windkraft entlang von Autobahnen. Was sagen Sie zu diesem Vorschlag?
Das halte ich für eine gute Idee. Wenn ich mit Akteuren im Energiemarkt spreche, klagen alle über zu wenig Flächen für den Bau von Windrädern und Solarparks. Jeder Quadratmeter hilft – und entlang von Straßen und Autobahnen dürften die Anlagen weniger Menschen stören als in der Nähe von Häusern.
Auf den Autobahnen sollen bis 2030 rund 15 Millionen E-Autos fahren, deren Batterien "reibungslos und komfortabel" geladen werden sollen. Dafür wiederum nimmt die Ampel auch die Netzbetreiber in die Pflicht. Wie realistisch ist es, dass das in sieben Jahren klappt?
Ich bin zuversichtlich, dass die Stromnetze schon bald in der Lage sind, die Elektromobilität im großen Stil zu ermöglichen. Das verlangt an Autobahnen andere Lösungen als beim Laden zu Hause oder am Arbeitsplatz. Wir arbeiten gerade an einem Regulierungsvorschlag, der darauf hinwirkt, dass jeder sicher sein kann, dass seine heimische Wallbox zum E-Auto-Tanken auch angeschlossen wird und auch immer eine Mindesttank-Möglichkeit garantiert ist.
Aber genau die sind doch das Problem: Wenn abends alle gleichzeitig ihr E-Auto aufladen, bricht doch das Netz zusammen, oder?
Das kommt auf die Zahl der Elektroautos an, ist aber derzeit noch nicht überall ausgeschlossen, ja.
Und dann stellen die Betreiber den Strom ab und die Batterie bleibt leer.
Nein, so wird es nicht kommen. Um das zu vermeiden, muss es notfalls möglich sein, dass die Betreiber die Stromzufuhr dimmen. Das werden wir als Regulierungsbehörde aber nur dann erlauben, wenn die Stromnetze nachweislich überlastet sind – als lediglich vorbeugende Maßnahme ist dieser Schritt dagegen ausgeschlossen. Zugleich gilt: Wenn lokal gedimmt werden muss, müssen die Netze an den entsprechenden Stellen unverzüglich ausgebaut werden.
Wie leicht wird uns das gelingen?
Das wird sich jetzt zeigen. Ich wünsche mir in allen Kommunen und Ländern denselben Spirit, den jetzt auch die Bundesregierung gezeigt hat: Wir brauchen eine Beschleunigung des Netzausbaus vor Ort. Dafür wiederum brauchen wir die nötigen Kapazitäten in den Behörden, Verständnis bei den Menschen und große Anstrengungen seitens der Unternehmen, die das Ganze umsetzen.
Herr Müller, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Interview mit Klaus Müller am 29. März 2023