NS-Täter Christian Wirth "Alle Juden umgelegt"
Sie nannten ihn den "wilden Christian". Gnadenlos und effizient organisierte Christian Wirth den Holocaust im besetzten Polen. Das Vernichtungslager Belzec war sein erstes Experimentierfeld im Judenmord.
Von Marc von Lüpke
Franz Stangl war entsetzt. "Mein Gott, der Geruch", erinnerte sich der SS-Offizier an seinen Besuch in Belzec im Frühjahr 1942. "Er war überall." Eigentlich wollte Stangl den Kommandanten des Vernichtungslagers Belzec in seinem Büro antreffen. Stattdessen fand er Christian Wirth an einem anderen Ort. "Er stand auf dem Hügel", so Stangl. "Direkt bei den Gruben". Von dort sah er schließlich, was Wirth begutachtete: "Tausende Leichen".
Wirth war schlechter Laune, hatte man Stangl gewarnt. Eines der Massengräber drohte überzulaufen. Ein SS-Mann aus Belzec klärte Stangl über den Grund auf. "Sie hätten zu viele Leichen hineingelegt und der Verwesungsprozess verlaufe zu schnell", erinnerte sich Stangl. "Das Ergebnis war, dass die sich ansammelnde Flüssigkeit die Leichen nach oben über den Rand der Grube drückte."
"Geruch des Todes"
Über dem Vernichtungslager schwebte der "Geruch des Todes", wie der Historiker Robert Kuwalek in seinem Buch über das Vernichtungslager schrieb. In Zügen, die die Gegend passierten, hielten die Passagiere die Fenster geschlossen, noch im neun Kilometer entfernten Städtchen Tomaszów Lubelski beschwerten sich die deutschen Besatzungsbeamten über den Gestank.
Historiker schätzen, dass die SS bis zu 500.000 Juden in Belzec umgebracht hat. Die meisten im Zeitraum vom 17. März 1942, als die ersten großen Deportationen Richtung Belzec begannen, bis hin zum 11. Dezember 1942, als der letzte Zug mit jüdischen Opfern dort eintraf. "Ein Lager wie Belzec hatte nur einen Zweck", erklärt der Historiker Nikolaus Wachsmann" im Interview. "Alle ankommenden Juden zu ermorden."
"Charakterlich einwandfrei"
Christian Wirth war der Mann, der diesen Massenmord dirigierte. Gnadenlos, effizient und unbestechlich. Geboren wurde Wirth am 24. November 1885 als Sohn eines Küfermeisters in Württemberg. Wirth wurde Säger, dann Soldat, schließlich Polizist. Im Ersten Weltkrieg fand der spätere SS-Mann sein eigentliches Talent: Wirth war ein hervorragender Organisator, der als Unteroffizier die riesigen Materialmengen für den Bau von Schützengräben verwaltete.
Nach Kriegsende wieder in den Polizeidienst zurückgekehrt, war Wirth von Anfang an ein Gegner der demokratischen Weimarer Republik. Erst als Mitglied der NSDAP, dann der Deutschnationalen Volkspartei, ab 1930 schließlich wieder als Nationalsozialist. Der Polizist genoss einen Ruf als "charakterlich unbedingt einwandfrei", darüber hinaus als "geistig sehr gewandt und beweglich, sehr energisch, sehr ausdauernd."
"Probevergasung"
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte das SS-Mitglied Wirth seine organisatorischen Fähigkeiten bei einem ersten Massenmord erproben. Schon vor Kriegsbeginn hatte die NS-Führung beschlossen, "lebensunwertes Leben" zu "vernichten". Den sogenannten "Euthanasie-Morden" fielen bis 1942 mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen wie auch Psychiatriepatienten zum Opfer. In den Tötungsanstalten Grafeneck in Württemberg, Brandenburg bei Berlin und Hartheim bei Linz baute Wirth das bürokratische Rückgrat der Mordaktion auf.
Und lernte das Werkzeug der Massenvernichtung kennen, dem später auch Hunderttausende Juden zum Opfer fallen sollten: Im Januar 1940 wohnte Wirth einer "Probevergasung" von Kranken bei. Moralischen Skrupeln seiner Untergebenen begegnete er mit dem Hinweis, dass ja ohnehin nur umgebracht würde, "was nicht zu retten" sei. Bald stieg Wirth zum "Inspekteur" aller sechs Mordanstalten der "Euthanasie-Aktion" auf.
"Christian der Grausame"
Wirth war allerdings alles andere als ein Schreibtischtäter. Kurzerhand erschoss er persönlich vier Patientinnen in Hartheim, weil sie möglicherweise an Typhus erkrankt waren - und keine Pfleger anstecken sollten. Seinen eigenen Mitarbeitern drohte Wirth an, sie ebenfalls hinzurichten, falls sie in der Öffentlichkeit berichten würden, was in den Tötungsanstalten vor sich ging. Seine Erfahrungen aus der "Euthanasie-Aktion" nutzte Wirth bald bei seiner neuen Aufgabe in Polen.
Selbst bei seinen eigenen Leuten war der überzeugte Nationalsozialist gefürchtet. Er sei an "Brutalität, Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit" nicht zu überbieten, beschrieb ihn der SS-Mann Franz Suchomel aus dem Vernichtungslager Treblinka. Als "Christian den Grausamen" oder auch als den "wilden Christian" titulierten ihn seine Untergebenen hinter vorgehaltener Hand.
"Männle, ich bring dich um"
Selbst wenn die Dämonisierung Wirths nach dem Kriegsende durch seine Mittäter der eigenen Entschuldung gedient haben mag – tatsächlich scheint Wirth ein äußerst brutaler Charakter gewesen zu sein. Mit den Worten "Männle, ich bring dich um" oder "Sie Düppel, ich mach Sie kaputt" bedrohte er selbst SS-Leute. Als ein Untergebener nach Meinung Wirths bei der Erschießung von Juden zu zögerlich vorging, bemerkte er: "Am liebsten hätte ich ihn gern selbst in die Grube hineingeschossen."
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 setzte das NS-Regime nach und nach die systematische Vernichtung der europäischen Juden in Gang. Im November 1941 begann auf Anweisung Heinrich Himmlers der Bau des Vernichtungslagers Belzec an der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze. "Aktion Reinhard", oder auch "Reinhardt", taufte die SS den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung im unter deutscher Verwaltung stehenden polnischen Generalgouvernement. Wahrscheinlich steht der Name im Zusammenhang mit dem SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, einem der maßgeblichen Organisatoren des Holocaust.
Um die Weihnachtstage 1941 traf der Antisemit Wirth in Bełżec ein. Dort sollte er nun den Judenmord perfektionieren. Dazu setzte er die "erfahrenen" Mitarbeiter der "Euthanasie-Morde" ein. Bei einer Ansprache erklärte ihnen Wirth, dass nun "alle Juden umgelegt" würden. Rund 90.000 Menschen brachten Wirth und seine Leute in Belzec allein im "Probebetrieb" vom März bis zur Jahresmitte 1942 um. Zunächst mordete die SS in den Gaskammern mittels Kohlenmonoxid aus Gasflaschen. Weil sich das als zu kostspielig erwies, nutzten die Täter später Motorenabgase. Beim Bau der zwei weiteren Todeslager Treblinka und Sobibór nutzte die SS die Erfahrungen aus Belzec.
Verbesserung des Mordprozesses
Wirth "verbesserte" den Mordprozess in Belzec unablässig. Zu Sommeranfang 1942 wurde das Vernichtungslager umgebaut. Neue Gaskammern ersetzten die alten, um noch mehr Menschen in noch kürzerer Zeit zu töten. Endlos war die Zahl an Zügen, die Juden nach Belzec transportierten. Trauriger Rekord war ein Transport, der 5.000 Juden auf einmal in das Vernichtungslager beförderte. In der Regel schoben Arbeiter zunächst jeweils zehn bis zwölf Waggons an die Rampe, in jeden Wagen waren bis zu 120 Menschen gepfercht: hungrig, durstig und verängstigt. Um die Opfer über das wahre Ziel des Lagers zu täuschen, spielte oft ein Orchester aus jüdischen Gefangenen.
Manchmal hielt ein Deutscher, bisweilen Wirth selbst, eine Rede, dass die Neuankömmlinge zur Arbeit eingesetzt würden. Aller Habseligkeiten beraubt, trieb man die Juden in aller Eile zur Gaskammer, die als "Dusche" getarnt war, um keinen Widerstand aufkommen zu lassen. Männer wurden in der Regel zuerst hinein gezwungen: Die Deutschen fürchteten einen Aufstand, falls sie mitbekommen sollten, wie ihre Frauen und Kinder umgebracht wurden.
"Kreischen und Schreien"
Nur drei Männer sollten Wirths Todesfabrik überleben. Einer von ihnen war Rudolf Reder, der die Aufgabe hatte, die Leichen aus der Gaskammer zu holen. "Ich hörte, wie die Türen zugeschoben wurden, das Kreischen und Schreien, ich hörte verzweifeltes Rufen auf Polnisch, Jiddisch; das Gewimmer der Frauen und Kinder ließ einem das Blut gefrieren", erinnerte sich Reder.
Die Gaskammern betrachtete der Lagerleiter Wirth als seine Meisterleistung. Die erste dieser Todeseinrichtungen maß zunächst zwölf mal acht Meter und war unterteilt in drei Räume. Hierein trieb die SS bis zu 600 Menschen. Wieder und wieder. Zwanzig Minuten lang stellten die Deutschen nach dem Verriegeln der Türen den Motor an, tödliches Kohlenmonoxid strömte hinein. Die meisten Opfer waren bereits nach einer Viertelstunde tot. Wer noch lebte, wie kleine Kinder, die am Boden lagen, wurde meist von sogenannten Trawniki, nicht-deutschen "Hilfswilligen", mithilfe ihrer Bajonette umgebracht.
Ein Massengrab namens Lazarett
Wirth beteiligte sich als Leiter des Lagers persönlich daran, die Opfer unter Einsatz seiner Peitsche in Richtung der Gaskammern zu treiben. Härte war das Ideal, das er seinen Männern vorlebte. Persönlich demonstrierte er ihnen, wie Juden richtig umzubringen waren. Zum Beispiel diejenigen, die den Weg zu den Gaskammern nicht aus eigener Kraft antreten konnten: Alte, Kranke und kleine Kinder wurden zum sogenannten "Lazarett" gebracht. Ein Massengrab, an dem diese Menschen mit Maschinengewehren erschossen wurden. Juden waren für Wirth nur "Abfall".
Die schließlich neu von ihm errichteten Gaskammern waren mit zehn mal 24 Metern wesentlich größer als ihr Vorgänger. Bis zu 1500 Menschen konnten nun auf einmal getötet werden. Wenn die Türen der Gaskammern geöffnet wurden, bot sich ein Bild des Schreckens. Meist standen die Toten aufgrund der Enge aufrecht. Angehörige des sogenannten Sonderkommandos, Juden, die die Deutschen als Arbeitskräfte zunächst verschont hatten, mussten die Leichen mühsam aus der Umklammerung befreien und zu den Massengräbern transportieren.
"Richtig in seinem Element"
Zuvor durchsuchten die sogenannten Zahnärzte die Münder der Toten nach Gold, jede Körperöffnung wurde nach Reichtümern durchsucht. Denn die "Aktion Reinhard" war nicht nur ein Massenmord, sie war auch ein Massenraub: Kleidung, Wertgegenstände, selbst das Haar der Frauen wurde gesammelt und, falls möglich, zu Geld gemacht.
Bei der Judenvernichtung war Wirth "richtig in seinem Element", so brachte es sein Adjutant Josef Oberhauser auf den Punkt. In keinem der drei Vernichtungslager waren jeweils mehr als ein paar Dutzend Deutsche am Töten beteiligt. Zur Arbeit gezwungene Juden, "Hilfskräfte" wie die Trawniki, sowie der massive Einsatz von Täuschungsmanövern und Gewalt gegen die Opfer ermöglichten dieses Ausmaß der Massenvernichtung.
Aufgrund seiner "Verdienste" wurde Wirth zum Inspekteur aller Vernichtungslager der "Aktion Reinhard" befördert. In Belzec kam der Mordbetrieb hingegen allmählich zum Erliegen. Am 11. Dezember 1942 rollte der letzte Zug mit Todesopfern dort ein. Laut dem Historiker Robert Kuwalek waren die Massengräber schlichtweg überfüllt. Ein Dokument der SS selbst, das sogenannte Höfle-Telegramm, beziffert die Zahl der dort Ermordeten auf 434.508. Wahrscheinlich waren es noch mehr, wie Historiker schätzen.
"Gruppe der Minderbelasteten"
In Treblinka und Sobibór wurde noch weiter getötet. Erst im Herbst 1943 beendete die SS die "Aktion Reinhard" endgültig. Mindestens 1,8 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Um keine Spuren ihres mörderischen Tuns zu hinterlassen, riss die SS Belzec ab – und öffnete die Massengräber, um die Leichen zu verbrennen. "Sonderaktion 1005", oder treffender "Leichenkommando" wurde die Aktion genannt. Jüdische Zwangsarbeiter mussten die Leichen bergen, anschließend wurden die Toten auf speziellen Rosten verbrannt – bis zu 2000 pro Tag.
Christian Wirth befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Italien – und betrieb die Deportation der Juden aus Triest Richtung Auschwitz. Am 26. Mai 1944 wurde er zwischen Triest und Fiume erschossen, wahrscheinlich von jugoslawischen Partisanen. 1949 erklärte schließlich eine deutsche Zentralspruchkammer in Ludwigsburg, dass "Christian der Grausame" in "die Gruppe der Minderbelasteten einzureihen sei."
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Zum Weiterlesen:
Robert Kuwalek: "Das Vernichtungslager Belzec", Berlin 2014
Nikolaus Wachsmann: "KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager", München 2016
Stephan Lehnstaedt: "Der Kern des Holocaust", München 2017
Sara Berger: "Experten der Vernichtung: Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka", Hamburg 2013