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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Stalingrad – ein Überlebender erzählt "Wir waren verraten und verloren"
Monatelang kämpfte Hans-Erdmann Schönbeck im Kessel von Stalingrad. Schwer verwundet verließ der Panzeroffizier mit einem der letzten Flieger die umkämpfte Stadt. Ein Gespräch über Krieg, Sterben und das Töten.
Ein Interview von Marc von Lüpke und Rüdiger Schmitz-Normann
t-online.de: Herr Schönbeck, mit Ihren Kameraden haben Sie Ende 1942 wochenlang im Kessel von Stalingrad ausgeharrt. Wann wurde Ihnen bewusst, dass es keine Rettung geben würde?
Hans-Erdmann Schönbeck: Den Moment gab es sehr klar: Weihnachten 1942. Heiligabend habe ich in meinem Ledersack ein weißes Hemd gefunden. Ich hatte mich rasiert, wie, weiß ich heute nicht mehr. Denn wir konnten den Schnee fast nicht zu Wasser machen, weil wir nichts zum Befeuern hatten. Ich hatte eine Krawatte umgelegt und bin von Loch zu Loch in der Steppe gegangen, in der meine Männer hausten. Wir haben das Vaterunser gebetet und "Stille Nacht, heilige Nacht" gesungen. Danach haben wir geweint und geweint.
DAS INTERVIEW: Hoch über den Dächern Münchens lebt Hans-Erdmann Schönbeck in einer Seniorenresidenz. Schönbeck ist eine respektable Persönlichkeit. Anzug und Krawatte, ein fester Händedruck trotz seines hohen Alters von 95 Jahren. Vor 75 Jahren trug Schönbeck ganz andere Kleidung. Als Panzeroffizier der Wehrmacht überlebte er die Schlacht von Stalingrad. Noch einmal erinnert er sich an die Monate und Wochen im Kessel, spricht auf dem Sofa, die Bilder seiner Kinder im Hintergrund, über Verantwortung und Kameradschaft, Leben und Sterben.
Zu diesem Zeitpunkt versuchte eine deutsche Panzerarmee, den sowjetischen Ring um Stalingrad von außerhalb zu sprengen.
Viel später in der Nacht bin ich allein rausgegangen, guckte ins Firmament und habe den Mond gesehen, der fast voll war. Da dachte ich: "Verdammt noch mal, dein Vater, deine Mutter, deine Geschwister sehen doch jetzt daheim den gleichen Mond." In dieser Nacht hörte der Kampflärm der Truppe, die uns befreien sollte, schließlich auf, näher zu kommen. In den nächsten zwei, drei Nächten schwächte sich der Gefechtslärm immer weiter ab. Es war also der Heiligabend, als mir und uns allen bewusst wurde, dass wir doch nicht mehr nach Hause kommen würden.
Wie reagierten Sie und Ihre Männer darauf?
Wir haben so eine Wut bekommen, weil wir verraten und verloren waren. Es gab vom Nordkap bis Afrika 1942 diese berühmte Weihnachtssendung im Radio. Darin wurde gesagt, dass "unsere tapferen Soldaten in Stalingrad im Angriffskampf stehen, bald wäre der Sieg nahe." Tatsächlich wusste ich, dass all die armen Kerle, die in den Häuserkämpfen in der Stadt standen, verloren waren und umsonst kämpften. Damals entstand eine Verzweiflung und Zorn in der gesamten Armee, das kann man sich nicht vorstellen. Die Offiziere, ich war ja auch ein junger Leutnant, griffen nicht mehr ein, als die Männer Hitler verfluchten.
Am 23. August 1942 hatte die Wehrmacht den Angriff auf Stalingrad begonnen. Was haben Sie gefühlt, als Sie damals den Einsatzbefehl erhielten?
Wir wussten, dass ein harter Kampf kommen würde, hatten jedoch keine Ahnung, was Stalingrad bedeuten sollte. Wir waren ja, leider muss ich sagen, kampferprobt. Wir haben gedacht: "Das machen wir schon". So wie wir es vorher in vielen, vielen Ländern auch geschafft hatten.
Sie waren damals 19 Jahre alt?
Richtig. Durch den Ausfall vorgesetzter Offiziere war ich zum Teil sogar für eine Panzerkompanie verantwortlich. Das ist unvorstellbar heutzutage, ein so junger Mensch mit so vielen Waffen in der Hand.
Auch in Stalingrad konnten die deutschen Truppen schnell in die Stadt vorrücken. Vor allem dank der Panzertruppen, denen Sie angehörten.
Wenn 50 Panzer anrollen, läuft jeder weg. Das ist ein schrecklicher psychologischer Moment. Da wir mit voller Wucht kämpfend vorgerückt sind, konnten wir ziemlich leicht in den Südteil der Stadt eindringen. Meine Abteilung hat den Südbahnhof mit eingenommen. Dieser wurde zwar heftig verteidigt, aber das war für uns trotzdem nur eine Sache von eineinhalb Tagen. Dann sind wir mit unseren Panzern zurückgezogen worden, weil ein Panzer in der Enge einer Stadt kaum manövrierbar ist.
Tatsächlich drehte die Rote Armee Ende November 1942 den Spieß um und kesselte die deutschen Angreifer in Stalingrad ein.
Das war für uns alle eine schreckliche Überraschung. Die Russen haben es durch eine kluge Strategie und exzellente Taktik vollbracht, uns innerhalb von drei Tagen einzukesseln. Von da an hat jeder von uns anders gedacht.
Befürchteten Sie den Tod oder eine Gefangennahme?
Ich hatte zuvor im Sommer 1941 die Schlacht von Uman in der Ukraine mitgemacht. Da hatten wir einen großen Kessel um eine russische Armee gebildet. Das waren heftigste Kämpfe. Am Ende gingen fast 200.000 Russen in Gefangenschaft. Als ich auf meinem Panzer saß und die armen Kerle sah, die in langen Zügen an uns vorbeizogen, dachte ich: "Mein Gott!" Und dieser Gedanke kam mir umgekehrt in Stalingrad wieder: "Jetzt bist du dran, jetzt bist du der arme Kerl!"
Der nationalsozialistischen Ideologie zufolge waren Ihre sowjetischen Gegner "Untermenschen".
Für mich gab es keine "Untermenschen"! Ich hatte das riesige Glück, dass meine Eltern von Anfang an gegen den Nationalsozialismus waren. Während meiner Schulzeit hat mein Vater mir öfter erklärt: "Mit diesem ungebildeten Mann an der Spitze wird das nichts werden."
Trotzdem mussten Sie als Wehrpflichtiger für die Nationalsozialisten kämpfen.
Ich habe keine Einladung auf Büttenpapier bekommen. Es blieb uns nichts anderes übrig.
Hatten Sie Angst vor dem Krieg? Und wie hat sie sich geäußert?
Die Angst, die ich in den ersten zwei oder drei Tagen im Kampfeinsatz hatte, war wie ein elektrischer Schlag. Der ging ganz durch mich durch, ich konnte das zunächst nicht ablegen.
Was wussten Sie anfangs als junger Offizier über die sowjetischen Gegner?
Über die Rote Armee als kämpfende Truppe wussten wir zu Beginn so gut wie gar nichts. Uns Panzerleuten wurde gesagt, wir seien ihnen sowieso überlegen. Und dass wir auch die russischen Panzer nicht zu fürchten brauchten. Als wir aber am Anfang die breiten Spuren des russischen T-34-Panzers sahen, ist uns doch einiges vor Schreck in die Hose gerutscht.
Wie haben Sie Ihre Angst unter Kontrolle bekommen? Musste man mit seiner Furcht alleine klarkommen?
Das musste jeder mit sich selbst ausmachen. Nach einer Woche Kampfeinsatz in Russland habe ich zu meinem großen Glück das Gefühl bekommen, letzten Endes lebend nach Hause zu kommen. Das gab mir eine große Sicherheit. Ich war obendrein sehr gut, wenn ich das von mir sagen darf, in der Handhabung aller Waffen. In meinem zweiten oder dritten Panzergefecht saß ich in einem Panzer II an der Kanone. Damals musste man noch aus der Klappe rausgucken und den Abstand der feindlichen Panzer abschätzen: Ich beherrschte das und habe dadurch sehr schnell schießen können. Im Gefecht hatte es etwas Sportliches: Du musst schneller sein als dein Gegner, sonst gibt es dich nicht mehr. Das ist mit den heutigen technischen Möglichkeiten möglicherweise schwer zu verstehen.
Erklären Sie es uns bitte.
Ich bin auf dem Land in Schlesien aufgewachsen. Die Jagden waren dort der Jahreshöhepunkt, ich bin mit Jagdwaffen groß geworden. Bitte nicht falsch verstehen: Als ich später in der Wehrmacht von der Pistole bis zur Kanone die Handhabung aller Waffenarten erlernte, war für mich etwas sehr Gutes. Ich wusste damals nicht, dass ich irgendwann wirklich auf Menschen schießen sollte. Das ist der Grundstock, warum ich mich so sicher fühlte: Ich wusste, dass ich schnell und treffsicher bin.
Wie war Ihr Verhältnis zum Tod? Sie konnten jederzeit sterben.
Das Verhältnis zum Tod ist für mich persönlich immer flüchtig gewesen. Aber als Offizier trug ich Verantwortung für viele Menschen. Wenn ein Gefecht vorbei war, mussten gefallene Kameraden beerdigt werden. Wenn es die Kälte überhaupt zuließ. Oft war die Erde zu hart und zu frostig. Am selben Abend musste ich mich mit sauberen Händen an ein weißes Stück Papier setzen und der Mutter, der Frau oder Freundin des Gefallenen schreiben: "Leider ist heute im Kampf für unseren heiß geliebten Führer…" In einem solchen Moment ist man dem Tod viel näher, als in Augenblicken, wo es einen selbst hätte treffen können.
Selbst in einem Panzergefecht?
Im Panzer gegen andere Panzer kämpfend, spielte der eigene Tod für mich keine Rolle. Jeder verarbeitet das aber anders: In meinem ersten Gefecht stand mein Panzer plötzlich still. Mein Fahrer war ausgestiegen und weinend Richtung Heimat gelaufen. Ein hochbewährter Gefreiter, der bereits das Eiserne Kreuz erhalten hatte. Der ist durchgedreht, weil er beobachtet hatte, wie die Russen mit ihren T-34 unseren Panzern die Kuppeln abschossen, wo der Kopf des Kommandanten drinsteckte.
Sie waren nicht nur persönlich in Lebensgefahr, sondern haben auch selbst gegnerische Soldaten getötet.
Im Krieg müssen Sie täglich kämpfen. Man erhält einen Befehl und führt ihn aus. Im Panzer sitzt man allerdings relativ geschützt und sieht nicht immer, was man da anrichtet. Einen einzelnen Menschen habe ich im Krieg hingegen ganz bewusst getötet. Es war bei einem Panzerangriff in den großen Stoppelfeldern der Ukraine. Das Getreide war schon geerntet und stand über das ganze Feld in Bündel zusammen. Wir haben diese Bündel mit Leuchtspurmunition in Brand geschossen, weil wir wussten, dass die Russen darin überall versteckt waren. Sie waren Meister darin. Plötzlich stand in zwanzig Meter Entfernung ein von oben bis unten brennender Russe vor mir. Mit erhobenen Händen. Während des Gefechts konnten wir weder aussteigen noch ihn in irgendeiner Form löschen. Da habe ich befohlen: "Feuer frei". Er ist von dem Maschinengewehr meines Panzers erschossen worden. Das Bild werde ich nie los. Es verfolgt mich Gott sei Dank nicht, aber wenn ich an diesen Moment denke…
Wie lange hielten Ihre Panzer im russischen Winter durch?
Bei der Einkesselung war durch die Gefechte mindestens die Hälfte der Panzer reparaturbedürftig oder ausgefallen. Dann kamen Kälte und Schnee, die Motoren sprangen nicht mehr an. Wir haben die Panzer schließlich im Schnee eingebuddelt und vorne etwas hochgestellt, sodass wir zumindest auf die Wolga schießen konnten. Über den Fluss führte die Rote Armee ihre Verstärkungen heran.
Sie wurden also gewissermaßen Artillerist?
Eher Fußsoldat. Wir wurden hinter der Front infanteristisch ausgebildet.
Hatten Sie trotz der aussichtslosen Lage in Stalingrad noch Hoffnung auf den deutschen "Endsieg"?
Es kam so, wie es mein Vater vorausgesagt hatte: Wir gingen unter. Psychologisch gesehen war der Kessel von Stalingrad für mich gar nicht so schlimm. Viel schlimmer war es für die Kameraden, die Kinder zu Hause hatten, die verlobt oder verheiratet waren. Das waren die wirklich armen Schweine.
Bei Minustemperaturen von bis zu 40 Grad Celsius wurde die Lage immer verzweifelter.
Wir hatten keine Munition, keine laufenden Panzer, nichts zu essen, dafür starre, erfrorene Hände. Ich habe nur noch 45 Kilogramm gewogen.
Trotzdem haben Sie mit Ihren Männern weitergekämpft?
Ich habe einen Trupp angeführt, darunter Köche, Schuster, Friseure, eben jeden, der noch kämpfen konnte. Ohne Kraft, von einem Schneeloch ins nächste stapfend, mit einem preußischen Hurra-Gefühl, sind wir gegen die Russen angetreten, die in den Kessel eingebrochen waren.
Am Ende wurden Sie schwer verwundet.
Es war ein Schrapnell, also ein Artilleriegeschoss, das in tausend kleine Stücke explodiert. Das hat mir den Rücken zerfetzt. Der Aufprall hatte mich herumgeworfen. Als ich mich wieder auf den Bauch zurück wälzte, sah ich, dass hellrotes Blut im Schnee war. Mir wurde klar, dass meine Lunge dran war. Ich bin dann in einen großen Lazarettbunker zurückgeschafft worden, wo der junge Assistenzarzt meines Regiments bei Petroliumlicht ohne Betäubungsmittel und ohne Sterilisation operierte. Ich saß zwei Stunden auf der Erde und habe zugesehen, wie der Arzt Arme und Beine absägte und die Männer vor Schmerzen in Ohnmacht fielen. Dann kam ich dran und er holte so viele Uniform-, Pelz- und Knochenreste aus mir raus wie möglich.
Was geschah dann?
Ich wurde in ein Loch gebracht, in dem auch zufällig der Hauptfeldwebel meines Trupps war. Da dachte ich ans Sterben. Ich bekam hohes Fieber und bin zeitweilig erblindet. Dann beschossen die Russen unsere Stellung mit ihrer Artillerie. Die Erde rieselte an der Wand herunter. Am zweiten Tag meiner Verwundung kam der Hauptfeldwebel zu mir. Er drückte mir eine Pistole mit einem Schuss drin in die Hand. Der Hauptfeldwebel sagte: "Herr Leutnant, in einer halben Stunde, in drei Stunden, in fünf Stunden, wir wissen es nicht, kommt der Russe hier in unsere Stellung, wir können Sie leider nicht mitnehmen." Das war Kameradschaft, ich war so dankbar für den letzten Schuss.
Trotzdem können Sie heute mit uns sprechen.
Es geschah ein Wunder. Ich bin am 19. Januar 1942 verwundet und in der Nacht vom 21. auf den 22. Januar ausgeflogen worden. Eine Heinkel 111 landete unmittelbar über unserem Loch. Dieser fabelhafte Hauptfeldwebel hatte für mich alle Stempel besorgt, um ausfliegen zu können. Ohne diesen Schein wäre ich nie in ein Flugzeug gekommen. Er nahm mich über die Schulter, genauso schwach und verhungert wie wir alle, und trug mich zur Heinkel. Nachdem wie immer Essen, Treibstoff, Munition und verrückterweise Orden ausgeladen worden waren, wurde ich in das Flugzeug geworfen. Es landete 120 Kilometer weiter in Stalino in einem richtigen Feldlazarett mit großen Zelten. Ich habe mein ganzes Leben lang Geschwader von Schutzengeln gehabt.
Wissen Sie, was aus Ihrem Lebensretter geworden ist?
Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Anfang der Neunzigerjahre habe ich den Regisseur Joseph Vilsmaier bei seinem Film "Stalingrad" beraten. Dadurch hat mich die Familie des Hauptfeldwebels gefunden. Nur seine Schwester hat mich aufgesucht, denn seine beiden Söhne, die inzwischen erwachsene Männer waren, und seine Frau wollten mich nicht sehen. Wir haben uns in einer oberbayerischen Gaststätte getroffen. Sie war auch ganz vorsichtig mit mir. Sie hat aus ihrer Handtasche ein Foto von ihm herausgeholt. Als ich das Foto sah, da schossen mir die Tränen aus den Augen. In dem Augenblick wusste sie, dass ich tatsächlich der Gesuchte war. Wir haben uns dann noch ein paar Mal getroffen.
Wie ist es Ihnen 1943 weiter ergangen?
Ich war ein ganzes Jahr im Lazarett.
Im Kessel von Stalingrad hatten Sie Hitler verflucht, später sollten sie ihm persönlich begegnen.
Noch in meiner Lazarettzeit, als ich aber wieder verwendungsfähig war, sollte ich den Führertross durch Breslau zur Jahrhunderthalle geleiten. Hitler wollte dort junge Offiziere vereidigen. Da hat mich der Teufel geritten gegen die SS-Offiziere. Als unser Konvoi an der Jahrhunderthalle angekommen war, bin ich als Erster aus meinem Wagen herausgesprungen. Ich habe gewartet, bis Hitlers Auto vorfuhr, habe dann die Tür aufgerissen und ihm Meldung gemacht.
Was geschah dann?
Hitler sagte "Danke, Oberleutnant" und hat mich dabei richtig angeguckt. Erstaunlicherweise hat er eine gewisse Ausstrahlung für mich gehabt. Das muss ich leider anerkennen.
Haben Sie bei der Begegnung an Stalingrad gedacht?
Das spielte für mich in dem Moment keine Rolle.
Sind Sie Hitler in die Jahrhunderthalle gefolgt?
Ich bin dann in dem gesamten Tross dicht hinter ihm mitgegangen und habe mir einen Platz gesucht, von dem ich ihn sehr gut beobachten konnte. Ich war vielleicht fünf, sechs Reihen hinter ihm. Ich war bewaffnet, was man in seiner Gegenwart eigentlich überhaupt nicht sein durfte, auch nicht als Offizier. Da ich ihn aber eventuell hätte schützen müssen, durfte ich sie ausnahmsweise behalten. Eine Sekunde habe ich gedacht, dass ich ja schießen könnte. Aber ich habe es nicht fertiggebracht, unabhängig davon, dass ich vorher schon erschlagen worden wäre. Ich saß ja mitten unter der SS. Ich wollte eigentlich schießen, aber ich lebte ja gerade wieder. Und innerhalb von Sekundenbruchteilen dachte ich, dass meine gesamte Familie danach ermordet werden würde.
Sie selbst hatten später beim Oberkommando der Wehrmacht in Ostpreußen Kontakte zu den Widerstandskämpfern des 20. Juli?
Mein Vorgesetzter, Major Karl-Heinrich Graf von Rittberg, hatte mich richtig eingeschätzt und darin eingeweiht, dass ein Attentat auf Hitler verübt werden sollte. Ich kannte aber zunächst noch keine Einzelheiten. Rittberg wurde kurz vor Kriegsende standrechtlich erschossen.
Die deutsche Kapitulation in Stalingrad ist nun 75 Jahre her. Wie sehr haben Sie die dortigen Erlebnisse bis heute beschäftigt?
Stalingrad war in meinem späteren Leben fast gar nicht präsent. Ich habe zum Glück nie ein Trauma aus dem Krieg gehabt. Dafür hatte ich auch gar keine Zeit. Ich habe zwanzig Jahre lang während meiner Karriere unter anderem als Vertriebschef bei Audi und BMW eine 100-Stunden-Woche gehabt.
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Zum Weiterlesen: Antony Beevor: Stalingrad, München 1999 | Jens Ebert (Hrsg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003 | Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Zeitzeugen berichten aus der Schlacht, Frankfurt/Main 2013 | Torsten Diedrich: Paulus. Das Trauma von Stalingrad, 2. Auflage, Paderborn 2009 | Torsten Diedrich; Jens Ebert (Hrsg.): Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955, Göttingen 2018 | Wolfram Wette; Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, 7. Auflage, Frankfurt/Main 2012