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Zum journalistischen Leitbild von t-online.USA stoppen Militärhilfen "Diese Chance wurde vertan"

Die USA werden der Ukraine vorerst keine Militärhilfe mehr leisten. Ein Experte fordert jetzt Europa zum Handeln auf.
Nach dem Eklat im Weißen Haus am vergangenen Freitag hat die US-Regierung nachgelegt: Vorerst werden alle Militärhilfen an die Ukraine gestoppt, heißt es aus dem Weißen Haus in der Nacht zum Dienstag. Mehr dazu lesen Sie hier.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mittlerweile sein Bedauern über die Vorfälle am vergangenen Freitag ausgedrückt und seinerseits dem Weißen Haus eine Waffenruhe vorgeschlagen, um Friedensverhandlungen vorzubereiten.
Doch was bedeutet es nun, wenn der Ukraine mit den USA der bisher größte Unterstützer im Kampf gegen Russland wegbrechen könnte? t-online hat darüber mit dem Verteidigungs- und Sicherheitsexperten Rafael Loss von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations gesprochen.
t-online: Die USA haben vorläufig alle Militärhilfen an die Ukraine gestoppt. Was bedeutet das für den Kriegsverlauf?
Rafael Loss: Unmittelbar wird die ukrainische Verteidigung nicht kollabieren. Aber etwa zur Jahreshälfte wird die Ukraine wohl gezwungen sein, zu rationieren: Dabei geht es vor allem um Artillerie und weitreichende Raketen. Dort haben die USA enorme Beiträge geleistet, etwa durch Munition für die Patriot-Flugabwehrsysteme oder durch die ATACMS-Raketen. Unmittelbar kann das Europa nicht kompensieren.
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Das heißt, in der ukrainischen Verteidigung werden sich Lücken auftun: Könnte Russland als Resultat etwa seine Luftangriffe ausweiten?
Ich glaube nicht, dass Russland das jetzt tun wird. Denn die Luftangriffe sind ohnehin schon sehr intensiv. Aber die Ukraine wird nicht mehr in der Lage sein, so viele Angriffe mit ballistischen Raketen oder Marschflugkörpern mithilfe der Patriot-Systeme abzuwehren. Die kritische Infrastruktur oder zivile Ballungsräume können in Zukunft einfach nicht mehr so gut geschützt werden wie bisher. Die Konsequenz wird ohne Zweifel lauten: Es werden mehr Ukrainer sterben, sowohl an der Frontlinie als auch in den Städten.

Zur Person
Rafael Loss ist Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sicherheit und Verteidigung im euro-atlantischen Raum, militärische Operationen, Innovation und Technologie sowie Nuklearstrategie und Rüstungskontrolle.
Aus europäischer Sicht gibt es keine Möglichkeit, diese drohenden Engpässe zu kompensieren?
Wenn es um die Patriot-Systeme geht, gibt es auch Alternativen wie SAMP/T aus Frankreich oder Italien. Allerdings sind die Kapazitäten in der Produktion nicht mit denen für das Patriot-System zu vergleichen. Dort werden die Kapazitäten ja weiter ausgebaut: Patriot-Raketen sollen künftig auch in Deutschland und Rumänien gebaut werden, in Japan passiert dies bereits. Aber für jede Lieferung der Waffen braucht es eine Genehmigung der US-Regierung. Die europäischen Staaten hätten vorsorgen können: Es wäre möglich gewesen, noch mit der Biden-Regierung größere Lieferverträge abzuschließen, um die aktuelle Situation zu verhindern. Diese Chance wurde vertan.
Die US-Regierung will die Ukraine zum Einlenken bei Trumps Friedensplan bringen. Die Ukraine will dem aber nur mit Sicherheitsgarantien zustimmen, die der US-Präsident nicht erteilen will. Was kann die Ukraine den USA stattdessen anbieten?
Sehr wenig. Die USA sitzen zweifellos am längeren Hebel, für die Ukraine ist das prekär. Der Rohstoffdeal, den die Ukraine angeboten hat, wäre ein Ausweg gewesen. Aktuell ist die Ukraine tatsächlich auf den guten Willen des Weißen Hauses angewiesen. Es sieht allerdings so aus, als ob die USA sich der Ukraine entledigen will, um eine bessere Beziehung zu Russland aufzubauen.
Es gibt Experten, die davon sprechen, die USA zielten darauf ab, dass sich die Ukraine Russland unterwerfen muss oder ihre Kapitulation verkündet. Wie sehen Sie das?
Das ist seit rund drei Jahren das Ziel des Kremls. Und die US-Regierung unter Trump macht sich Putins Ziel jetzt zu eigen.
- Tagesanbruch: Ist Donald Trump ein russischer Agent?
Das bedeutet also: Die USA spielen das Spiel Russlands mit?
Den Eindruck habe ich auch. Es geht ja nicht nur um die Einstellungen der Militärhilfen. Die USA denken darüber nach, die Sanktionen gegenüber Russland aufzuheben. Das Verteidigungsministerium hat zuletzt angeordnet, dass auch die US-Cyberoperationen in Richtung Russland gestoppt werden. Die USA werfen gerade mit Zuckerbrot um sich, um die Beziehungen zu Russland zu verbessern. Die Peitsche wird dagegen nur gegen die Ukraine und die Europäer eingesetzt.
Wohin kann das noch führen, wenn die Ukraine nicht einlenkt?
Ich weiß gar nicht, ob die Handlungen der USA so sehr von der Reaktion der Ukraine abhängen. Es kann sein, dass die USA ohnehin ihre Unterstützung für die Ukraine zurückfahren wollen. Der Streit zwischen Trump und Selenskyj in der vergangenen Woche war möglicherweise nur ein Vorwand, um die nächsten Schritte der US-Regierung zu begründen. Trump könnte nicht nur die Sanktionen gegenüber Russland lockern. Er könnte auch die Beistandsverpflichtungen innerhalb der Nato infrage stellen oder US-Soldaten aus Europa abziehen.
Bislang konnten die europäischen Staaten wenig auf das Geschehen einwirken. Hat Europa überhaupt Möglichkeiten, um zwischen der Ukraine und den USA zu vermitteln?
Das jüngste Treffen in London hat gezeigt, dass Europa nicht tatenlos zusehen muss. Das Treffen soll jetzt in einen europäischen Plan münden, den man den USA präsentieren will. Essenziell ist dabei ein sogenannter "Backstop": Sollten europäische Truppen künftig einen Frieden in der Ukraine absichern, wollen sie eine Rückversicherung aus den USA, um Russland von Angriffen auf diese Soldatinnen und Soldaten abzuschrecken.
Für die Europäer gibt es nur schlechte Optionen.
Rafael Loss
Es wirkt aktuell allerdings so, dass die USA einem solchem "Backstop" nicht zustimmen werden.
Für die Europäer gibt es nur schlechte Optionen. Alle Entscheidungen sind mit enormen Risiken verbunden. Dazu gehört auch die Frage, ob europäische Truppen in der Ukraine einen Frieden sichern sollten. Die größere Frage, die dahintersteht, lautet: Kann eine solche Entsendung von Truppen verhindern, dass es zu einem erneuten Angriff Russlands auf die Ukraine oder auf andere europäische Staaten kommt? Gerade weil sich die USA von Europa abwenden, sollten wir ein großes Interesse daran haben, dass es zukünftig eine souveräne, kampferfahrene Ukraine gibt, die gemeinsam mit Europa steht.
Ähnlich groß ist die Frage, ob Europa angesichts der aktuellen Situation über eine eigene nukleare Abschreckung nachdenken sollte. Sollte Europa diesen Weg gehen, wenn man sich auf die USA künftig nicht mehr verlassen kann?
Die europäische Sicherheitsarchitektur, wie sie heute existiert, hat sich unter dem nuklearen Schutzschirm der USA entwickelt. Das trifft auch auf die europäischen Atommächte Frankreich und Großbritannien zu. Dementsprechend ist ein eigenständiger, europäischer Schutzschirm eine enorme Herausforderung. In den vergangenen Jahren gab es hinter verschlossenen Türen schon viele Gespräche, wie sich Europa stärker engagieren kann. Aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um sich konkreter zu überlegen, wie die französischen und britischen Atomwaffen Europa künftig stärker schützen können. Das Nachdenken muss jetzt aufhören, Europa muss ins Handeln kommen.
Europa ist also in diesem ganzen Konflikt nicht zum Zusehen gezwungen?
Nein, Europa ist nicht zum Zuschauen verdammt. Wir haben in den letzten drei Jahren immer wieder gesehen, dass Europa mit eigenen Initiativen die Ukraine stärken konnte. Die von Deutschland gelieferten Gepard-Flugabwehrpanzer – mittlerweile 57 Stück – werden in der Ukraine hochgelobt wegen ihrer enormen Beiträge zur Abwehr russischer Drohnenangriffe. Insofern haben wir die Instrumente in der Hand. In der Vergangenheit hat uns nur der Wille gefehlt, uns auf eine Wiederwahl Donald Trumps vorzubereiten. Hauptverantwortlich ist dabei Bundeskanzler Olaf Scholz, der seine Politik immer im Gleichschritt mit Joe Biden ausgeführt hat und sich wenig mit den anderen europäischen Ländern abgesprochen hat.
- Interview mit Rafael Loss