Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Angst, als Verlierer dazustehen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
früher war alles besser. Das denkt man ja gern, wenn die Zumutungen der Gegenwart unerträglich erscheinen. Die Züge waren pünktlich, die Vorgärten gepflegt, die Kinder höflich, sie lernten auch noch was in der Schule und Politiker erzählten keinen Tünkram, also Quatsch. Und wenn sie es taten, dann brach nicht gleich ein Shitstorm, also ein Sturm der Entrüstung, los.
Heute dagegen überschlägt sich das Netz, wenn ein Kanzler, der von sich selbst niemals zugeben würde, dass er Tünkram erzählt, seinen politischen Gegner auf Plattdeutsch "Fritze Merz" schimpft und diesem eben das vorwirft: Merz habe Tünkram erzählt, als er am Wochenende behauptete, Olaf Scholz sei in Europa nicht wohl gelitten. Die anderen beschwerten sich schon, dass er bei Gipfeln oft nur schweigend herumsitze und nichts dazu beitrage, die Probleme zu lösen.
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Willkommen im Wahlkampf. Der beginnt gerade mit schwerer Kost: einer Debatte um politische Kultur und Anstand und der Sorge darum, dass unsere Politik verroht. Theatralisch hatten Scholz, Merz und Habeck vor einer Woche erst auf einer von den Entertainern Joko und Klaas bereitgestellten Bühne versprochen, im Wahlkampf fair und respektvoll miteinander umzugehen. Nun aber griff der Kanzler im Bundestag Christian Lindner an und im Heute-Journal Friedrich Merz. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, die Sorge ist berechtigt, aber anders, als viele gerade behaupten.
Denn natürlich war früher nicht alles besser. Vieles war sogar schlechter. Gut, die Züge waren pünktlicher, das schon. Aber ich für meinen Teil fand es als Kind äußerst lästig und überflüssig, samstagmorgens Unkraut aus den Rillen zwischen den Hofplatten rupfen zu müssen, nur damit die Nachbarn nichts zu lästern haben. Und natürlich haben Politiker sich auch damals schon nicht mit Kosenamen überschüttet: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner zum Beispiel kassierte 58 Ordnungsrufe im Bundestag, vornehmlich für Beleidigungen seiner Kollegen, etwa als er den CDU-Politiker Jürgen Wohlrabe als "Übelkrähe" verhöhnte oder dessen Parteifreund Jürgen Todenhöfer als "Hodentöter". Der legendäre CSU-Chef Franz-Josef Strauß blaffte 1951 gar Heinz Renner, den stellvertretenden KPD-Fraktionschef, mit "Schnauze, Iwan!" an, also dem in der Nazi-Zeit verbreiteten Schimpfwort für die Russen.
Natürlich erinnere ich Sie auch gern an Joschka Fischer, der 1984 dem Bundestagspräsidenten hinterherrief: "Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch!" Fischer war damals noch ein Grüner in ausgetretenen Turnschuhen, die er zu jener Zeit zu schlecht sitzenden Anzugjacken mit Jeans kombinierte, was damals – anders als heute – nicht kniggekonform war. Also seien wir ehrlich: Zartbesaitet durfte man auch früher als Politiker nicht sein.
Über Scholz’ Spruch von "Fritze Merz, der gern Tünkram erzählt", hätten Wehner, Strauß und der junge Joschka Fischer wohl eher müde gelächelt. Die Aufregung darum ist nur zu verstehen, wenn wir uns anschauen, wie sehr die Öffentlichkeit und die Gesellschaft sich seitdem verändert haben.
Die Öffentlichkeit war früher geprägt von linearem Fernsehen und Zeitungen. Journalisten erklärten die Welt – oft auch unabhängig davon, ob die Themen, die sie setzten, die Zuschauer und Leser wirklich interessierten. In der digitalen Welt redet jeder mit, klickt an, was ihn interessiert, das alles in Echtzeit in unzähligen Ausspielkanälen. Die sozialen Medien sind unkontrollierte Verstärker, belohnen Lautes, Schrilles, Extremes. Das ist die neue Öffentlichkeit.
Die Gesellschaft, Sie, ich, wir alle sind gleichzeitig sensibler und bewusster geworden für Diskriminierungen, für Ungerechtigkeiten, für Beleidigungen. Sicherlich auch, weil die digitalen Medien jenen, die vorher keine Stimme hatten, eine gegeben haben. Das ist das Paradoxe: Diese neue Öffentlichkeit fördert an der einen Stelle, was sie an der anderen niederbrüllt. Dass sie nicht kontrollierbar wäre, stimmt natürlich auch nicht. Tatsächlich wird sie kontrolliert von den Tech-Giganten dieser Welt, nur lassen die sich nicht in die Programmierung ihrer Algorithmen schauen.
Politiker heute bewegen sich in diesem Spannungsfeld: Sie erreichen mehr Menschen, wenn sie Lautes, Schrilles, Extremes sagen. Keine Partei hat das so sehr verinnerlicht und perfektioniert wie die AfD. Der Tabubruch, die kalkulierte Erregung der politischen Gegner ist eingepreist, weil sie eigene Anhänger nicht abschreckt. Für die meisten anderen Politiker gilt das nicht. Sie wissen, jeder kleine Fehler, jede unbedachte Aussage kann hochgepuscht und gegen sie verwandt werden. Nur nichts Falsches sagen. Das ist einer der Gründe, warum sie so viele Worthülsen und nichtssagendes Blabla von sich geben. Und so selten Entschuldigungen für offenkundige Fehler und Niederlagen. Olaf Scholz zum Beispiel, dem es bis heute nicht gelingt zu sagen, dass seine Kanzlerschaft gescheitert ist – was sie aber offenkundig ist.
Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist riesig. Die Angst, als Verlierer dazustehen, fast noch größer. Ersteres liegt vor allem an der veränderten Öffentlichkeit, letzteres an einem archaischen Politikverständnis, das trotz aller Veränderungen noch immer vorherrscht: Fehler sind gleichbedeutend mit Schwäche.
Ricarda Lang hat das am vergangenen Sonntag wunderbar ehrlich in der Talkshow von Caren Miosga beschrieben: "Angst" sei der Grund, warum Politiker die Öffentlichkeit lieber in Watte packten, als Unangenehmes zu thematisieren. Die zurückgetretene Grünen-Vorsitzende beschrieb, wie sie in den vergangenen drei Jahren in Talkshows immer schon die Schere im Kopf gehabt habe, aus Sorge, ihre Aussagen könnten skandalisiert werden. Bei den Menschen entstehe dadurch das ungute Gefühl, dass die Politik ihnen etwas verheimliche, und das führe zum Vertrauensverlust.
Lang sprach dabei etwas an, was viel gefährlicher ist als ein verballhornter "Fritze Merz". Wenn demokratische Politiker aus Angst vor einem Shitstorm Probleme, wie etwa eine Machokultur in bestimmten Migrantenkreisen, nicht thematisieren. Erinnern Sie sich noch, was im Netz los war, als Cem Özdemir vor Zeit in einem Artikel der "Frankfurter Allgemeinen" die sexualisierte Gewalt anprangerte, die seine Tochter von migrantischen Männern erfährt?
Kein Wunder also, dass einige Wähler tatsächlich lieber zu jenen gehen, die schrill und laut Verrohung betreiben, indem sie etwa pauschal "Messermänner und Kopftuchmädchen" für alles, was schiefläuft in Deutschland, verantwortlich machen. Ihre Lösungen – alle abschieben – sind genauso simpel, extrem und schrill. Für manche Wähler ist das offenbar trotzdem verlockend. Die eigentliche Verrohung aber findet dann statt, wenn demokratische Politiker meinen, ihnen in ähnlichem Duktus nacheifern zu müssen. Jens Spahn zum Beispiel, der mit einem Freiflug und 1000 Euro Handgeld Syrer in ihre Heimat locken will nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad.
Ich sorge mich daher weniger darum, dass Scholz, Merz oder Habeck ihre politischen Gegner zu hart anfassen könnten. Ich fürchte vielmehr, dass sie sich mit Attacken auf politische Gegner vor unbequemen Antworten drücken, die sie selbst geben müssten: Wie sie ihre teuren Wahlkampfversprechen bezahlen wollen zum Beispiel oder die Rente zukunftssicher machen oder die Wohnungsnot bekämpfen oder die Flüchtlingsfrage lösen … und dass sich dann zu viele enttäuscht von ihnen ab- und den Populisten zuwenden. Denn ja, die Vergangenheit wirkt angesichts der Zumutungen der Gegenwart verlockend. Aber nur aus der Ferne betrachtet.
Ohrenschmaus
Was waren das noch für Zeiten, als es nur um die schöne, falsche TV-Scheinwelt ging, die eine norwegische Band Mitte der 80er besang.
Was steht an?
Wahlkrimi in Sachsen: Spannend wird es vermutlich in Dresden. Denn gleich zwei Kandidaten wollen bei der Wahl des Ministerpräsidenten gegen Michael Kretschmer (CDU) antreten: AfD-Fraktionschef Jörg Urban und Matthias Berger von den Freien Wählern. Berger hofft auf die Stimmen von BSW, Grünen und Linken und vermutlich auch der AfD. Kretschmer hat für seine geplante Regierung mit der SPD keine Mehrheit. Die bräuchte er aber, denn im ersten Wahlgang ist eine absolute Mehrheit notwendig. Im zweiten Wahlgang reicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Die Grünen haben bereits angekündigt, nicht für ihn stimmen zu wollen.
Das lange Warten: Zwanzig Jahre nach der großen Ost-Erweiterung wird in der Europäischen Union wieder über künftige Erweiterungen diskutiert. Die Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten treffen sich in Brüssel, um unter anderem darüber zu sprechen, wie der Westbalkan schrittweise in die Europäische Union integriert werden kann. Seit Jahren warten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien auf eine Aufnahme. Die wird auch wegen der geopolitischen Herausforderungen mit Blick auf Russland dringlicher. Um diese Herausforderungen und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine soll es am Abend bei einem Essen gehen.
Frauenhasser vor Gericht: Millionen Menschen, vor allem Männer, folgen ihnen, feiern sie für ihre frauenverachtenden Sprüche und Videos. Doch seit zwei Jahren bekommen die Tate-Brüder Andrew und Tristan juristischen Gegenwind: In Rumänien läuft ein Verfahren wegen Vergewaltigung und Menschenhandel gegen sie, außerdem wird wegen mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und Geldwäsche ermittelt. In London entscheidet nun ein Gericht in einer Zivilklage, ob 2,8 Millionen Pfund (3,27 Millionen Euro) von ihren eingefrorenen Bankkonten beschlagnahmt werden dürfen. Damit sollen Steuerschulden der britisch-amerikanischen Brüder beglichen werden. Sie sollen Einnahmen in Höhe von 21 Millionen Pfund (knapp 25 Millionen Euro) nicht versteuert haben.
Kleiner Zinsschritt erwartet: Die US-Notenbank Federal Reserve gibt bekannt, ob sie den Leitzins erneut senkt. Erwartet wird eine Senkung um 0,25 Prozentpunkte; es wäre die dritte in Folge. Notenbankchef Jerome Powell wird zudem eine aktualisierte Wirtschaftsprognose veröffentlichen.
Lesetipps
Rebellen gegen Parteichefin: Sahra Wagenknecht möchte die Kontrolle über die Ausrichtung ihrer Partei. Zwei Mitglieder aus Hamburg stellen das junge Bündnis nun auf die Probe – sie haben ohne Wagenknechts Einverständnis einen Landesverband gegründet, schreibt Investigativreporter Carsten Janz.
Nach der Wahl: Wirtschaftskrise, Ukraine-Krieg, Investitionsstau: Deutschland steht nach der Neuwahl vor enormen Problemen. Welche Lösungen SPD, Union, Grünen und AfD in ihren Wahlprogrammen anbieten, erklären die politischen Reporter Sara Sievert, Annika Leister, Daniel Mützel und Johannes Bebermeier.
Vier auf einen Streich? Oder zweimal eins zu eins? Die Kollegen Christoph Schwennicke und Philipp Michaelis streiten in einem "Pro und Kontra" über die Entscheidung von ARD und ZDF, die TV-Auftritte im Wahlkampf in jeweils ein Duell zwischen Olaf Scholz (SPD) und Friedrich Merz (CDU) und eins zwischen Robert Habeck (Grüne) und Alice Weidel (AfD) aufzuspalten.
Diktator im Größenwahn: Adolf Hitler wollte mit gigantischen Geschützen einst feindliche Bollwerke zerschmettern. Doch das einzige je eingesetzte Mega-Geschütz erwies sich Rohrkrepierer, wie mein Kollege Marc von Lüpke schreibt.
Zum Schluss
Zu viele persönliche Attacken können Folgen haben.
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag. Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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