Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ziemlich unangemessen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
in der Politik ist wichtig, was man macht, aber manchmal ist noch wichtiger, wer es macht. Durchsetzungsstark oder unentschlossen, vorschnell oder zögerlich, kompromissbereit oder egozentrisch: Der persönliche Charakter prägt den Führungsstil. Das ist bei einem Ortsvereinsvorsitzenden nicht anders als beim Bundeskanzler. Die neun Personen, die seit 1949 die Bundesregierungen angeführt haben, eint der Wille zur Macht – doch charakterlich könnten sie kaum unterschiedlicher sein. Dem altväterlichen Konrad Adenauer war ein ganz anderes Wesen zu eigen als dem hemdsärmeligen Gerhard Schröder, der sensible Willy Brandt trat anders auf als der dickfellige Helmut Kohl.
Seit drei Jahren sitzt nun Olaf Scholz im Kanzleramt, und noch immer tun sich politische Kommentatoren schwer, seinen Charakter zu deuten: Ist der Mann arrogant oder oberschlau, verstockt oder verschmitzt, unnahbar oder einfach nur vorsichtig? Was auch immer es sein mag, es gereicht ihm jedenfalls nicht zum Vorteil: Nach den monatelangen Ampelquerelen und der Implosion seiner Koalition zählt der amtierende Kanzler zu den unbeliebtesten Politikern des Landes; in einer neuen Umfrage landet er noch hinter AfD-Chef Chrupalla auf dem letzten Platz.
Dass Regierungschefs zeitweise der Wind ins Gesicht bläst, ist nicht ungewöhnlich, aber der Ansehensverlust dieses Kanzlers markiert einen Tiefpunkt in der bundesdeutschen Geschichte. Wie tief das Vertrauen in der Bevölkerung gesunken ist, offenbart ein Personenvergleich an diesem Novemberdienstag: Heute Abend stellt Scholz’ Vorgängerin Angela Merkel ihre Memoiren vor, und der Rummel der Verlagsmenschen, Hauptstadtjournalisten und Claqueure könnte kaum größer sein. "Freiheit" hat Merkel den 730-Seiten-Wälzer genannt, den sie gemeinsam mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann geschrieben hat und den sie nun im Deutschen Theater in Berlin der Weltöffentlichkeit präsentiert. "Einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht" verspricht der Verlag.
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Pathos mit Papierberg im Pantheon der Kultur: Drunter macht die Altkanzlerin es nicht. Anschließend geht sie auf Welttournee – Auftakt in Washington mit Barack Obama, dann weiter nach Paris, Barcelona, Mailand, Amsterdam. Für ihr Werk soll sie einen zweistelligen Millionenbetrag kassieren. Merkel ist nun Multimillionärin.
Das mögen manche Menschen anrüchig finden, aber auf solche Neider sollte man nichts geben. Schließlich hat die "ewige Kanzlerin" während ihrer 16-jährigen Regierungszeit Bedeutendes geleistet: Um der deutschen Wirtschaft billiges Gas zu beschaffen, überantwortete sie die Energieversorgung einem cleveren Duzfreund in Moskau, der sogar fließend Deutsch spricht. Den klimagerechten Ausbau der Stromnetze und die Reparatur tausender Bahngleise, Brücken und Autobahnen verschob sie, um nachfolgenden Generationen nicht die Arbeit wegzunehmen. Sie verwandelte die orientierungslose Bundeswehr in einen kostengünstigen Zivilschutzverein zum Brunnenbau in Krisengebieten. Sie zögerte die konsequente Digitalisierung von Ministerien, Behörden und Schulen hinaus und verhinderte so, dass finstere Konzerne aus Kalifornien hierzulande zu viel Einfluss gewinnen. Sie ließ ihrem langjährigen Koalitionspartner SPD beim hemmungslosen Aufblähen des steuerfinanzierten Sozialsystems freie Hand und brachte den Nanny-Staat zur vollen Blüte. Und sie öffnete zigtausenden Afrikanern, Arabern und Afghanen auf der Suche nach einem besseren Leben die Tore, was sie auch dann noch verteidigte, als die Bevölkerung sich längst mehrheitlich dagegen aussprach. Alles in allem: eine historische Gesamtleistung, die durch die Trockenlegung des griechischen Staatssumpfs mittels deutscher Steuermilliarden vervollständigt wird.
Falls sie dieses Urteil ungerecht finden, haben sie womöglich recht. In diesem Fall sollten sie statt eines ironischen Morgen-Newsletters lieber den Schmöker der erfolgreichsten deutschen Kanzlerin aller Zeiten lesen: Dort präsentiert sich Angela Merkel nämlich als weitsichtige Strategin der Zeitläufte, die jede ihrer vielen Entscheidungen weise zu begründen vermag. Zweifel oder gar Selbstkritik sucht man in dem Buch, nach allem zu urteilen, was man von Erstlesern hört, vergebens. Merkels Memoiren sind ein kritikloser Rückblick auf eine Zeit, in der es den Deutschen so gut erging wie nie zuvor in ihrer Geschichte: Rekordexporte, nahezu Vollbeschäftigung, starker Euro, Frieden und Wohlstand; sogar die Corona-Weltkrise wurde dank prallem Steuersäckel glimpflich überstanden. Merkel hatte das Glück, dass sie in 16 properen Jahren die Geschicke des Landes lenken durfte. Das ist ihr nicht vorzuwerfen, aber es lässt sie heller erstrahlen, als es im historischen Vergleich angemessen wäre.
Und es mildert das Urteil über ihren Nachfolger: Der sieht auch deshalb so grau aus, weil er im Schatten von Krieg und Inflation, Wirtschaftsabsturz und Massenentlassungen deutscher Unternehmen regieren muss. Nein, Olaf Scholz ist (bisher) kein großer Kanzler, und wenn es kommt wie erwartet, wird er in drei Monaten abgewählt. Sein Scheitern hat auch etwas mit seinem Charakter zu tun – aber wichtiger sind die äußeren Umstände. Gut möglich, dass sich mancher Bürger nach zwei, drei Jahren Merz-Regierung den Stoiker Scholz zurückwünscht. Wie hätte wohl Merkel reagiert, hätte Putin während ihrer Amtszeit die Vollinvasion der Ukraine befohlen und mit Atomwaffen gedroht? Betrachtet man die Bilder ihrer Kanzlerschaft, will man das lieber nicht wissen. Ja, dass sogar "ewige" Regierungschefs in Demokratien irgendwann abtreten müssen, ist schon gut so. Selbstgefällige Memoiren vergibt man ihnen dann eher.
Ohrenschmaus
Sehen Sie es mir bitte nach: Heute passt nur dieser Song.
Wie viel Zwang ist rechtens?
Menschen unter Zwang Medikamente zu verabreichen: Als Ultima Ratio ist das erlaubt, beispielsweise bei Patienten, die wegen einer Demenz-Erkrankung oder einer psychischen Störung nicht mehr allein über ihre Therapie entscheiden können. Allerdings sind die Hürden für solche ärztlichen Zwangsmaßnahmen hoch. Sie dürfen bislang ausnahmslos stationär, also in einem Krankenhaus vorgenommen werden, unter anderem, weil man dort besser auf Nebenwirkungen reagieren kann. Auf der anderen Seite bedeutet der Transport in die Klinik – womöglich fixiert – für manche Betroffene zusätzliche Qualen, die bei einer Behandlung in ihrer Pflegeeinrichtung nicht entstünden. Deshalb hat der Bundesgerichtshof die starre Regelung vors Bundesverfassungsgericht getragen, um prüfen zu lassen, ob sie das Grundgesetz verletzt.
Im Juli hatte der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts dafür eine mündliche Verhandlung angesetzt. Dabei verortete Präsident Stephan Harbarth das Thema in einem der "grundrechtssensibelsten Bereiche des Erwachsenenschutzes: Einerseits müsse ein angemessener Schutz der Betreuten sichergestellt sein, andererseits dürfe nicht unverhältnismäßig in ihre Freiheitsrechte eingegriffen werden. Die Bundesregierung machte dabei deutlich, dass sie die bisherige Regelung gern beibehalten würde: Sie befürchtet, dass durch eine Aufweichung Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden, etwa, dass Patienten häufiger ruhiggestellt werden könnten. Zweifellos eine komplexe Abwägung, deren Ergebnis die Karlsruher Richter heute Vormittag verkünden wollen.
Antwort auf Putins Erstschlag
In Brüssel kommen heute Vertreter der 32 Nato-Staaten und der Ukraine zu einer außerplanmäßigen Sitzung des Nato-Ukraine-Rats zusammen. Bei dem von Nato-Generalsekretär Mark Rutte auf Wunsch der Ukraine einberufenen Treffen soll es um den neuartigen Raketentyp gehen, den Kriegstreiber Wladimir Putin am vergangenen Donnerstag auf die ukrainische Großstadt Dnipro abfeuern ließ. Zwar hält sich der Schaden, den die vom Kreml als "Hyperschall-Rakete experimentellen Charakters" angepriesene Waffe angerichtet hat, in Grenzen: Nach ukrainischen Angaben wurden eine Infrastruktureinrichtung getroffen und zwei Zivilisten verletzt. Aber allein die mit dem Einsatz verbundene Drohung, das Modell könne auch mit Atomsprengköpfen bestückt und zudem nicht abgefangen werden, hat die Ukraine und ihre Alliierten in Aufruhr versetzt – ganz wie von Putin beabsichtigt.
Das historische Bild
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Zum Schluss
Die SPD-Chefs halten an bewährter Taktik fest.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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