Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Nach der Neuwahl Merz und Pistorius, in der Koalition vereint
Friedrich Merz ist auf dem Weg ins Kanzleramt. Die Sozialdemokraten können ihn nicht mehr verhindern. Jetzt kann nur noch einer ihn schlagen.
Vor knapp sieben Monaten habe ich an dieser Stelle eine Prognose gewagt: Friedrich Merz wird Bundeskanzler. Das war Anfang Mai, Markus Söder und Hendrik Wüst waren als Kanzlerkandidaten der Union noch im Rennen. Die Ampel regierte, war allerdings schon ziemlich ramponiert. Friedrich der Sauerländer? Wirklich? Viele Leserinnen und Leser wollten das nicht glauben, schon der Gedanke daran befremdete sie. Merz war (und ist) kein Sympathieträger – zu schroff, zu impulsiv, ein Mann der Vergangenheit. Ich hatte ausdrücklich geschrieben, das sei eine Prognose, keine Empfehlung. Trotzdem bekam ich reichlich Gegenwind.
Zur Sicherheit stellte ich meine Vorhersage damals unter einen Vorbehalt: Sollte die SPD in einem Anflug von Machtwillen den Kanzler wechseln, von Scholz zu Pistorius, dann entstünde noch einmal eine ganz neue Lage. Heute wissen wir: Die SPD hat den Kanzler nicht gewechselt, Olaf Scholz ist mit seiner Koalition vorzeitig gescheitert. Trotzdem wird er erneut als Kandidat antreten, nicht Boris Pistorius, der Darling der Deutschen. Die Sozialdemokraten haben sich entschlossen, Seit‘ an Seit‘ in den Untergang zu schreiten.
Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Also, der Weg ist frei für Friedrich Merz. Sie lesen das in der Zeitung, Sie hören es in den Talkshows: Der kurze und kalte Winterwahlkampf wird ein Zweikampf, den Scholz nur verlieren, Merz nur gewinnen kann. Jetzt, da die Lage eindeutig scheint, erlaube ich mir eine skeptische Frage: Ist das wirklich so klar? Die Antwort lautet: Ja, aber.
Parallelen zum Wahlkampf 2005
Die Wahl wird am 23. Februar 2025 entschieden, nicht im November 2024. Das ist eine Plattitüde, aber es stimmt. Angela Merkel schildert in ihren heute erscheinenden Erinnerungen, wie das im Jahr 2005 war, als sie Kanzlerin wurde. Gerhard Schröder hatte damals die Vertrauensfrage gestellt, wie Scholz heute. Auch damals lag die Union in den Umfragen meilenweit vor der SPD. Aber Merkels Wahlkampf lief nicht rund, einmal verwechselte sie brutto und netto, der Vorsprung schrumpfte von Woche zu Woche. Sie erinnern sich sicher an den legendären Abend dieser Wahl: Merkel rettete sich mit einem hauchdünnen Vorsprung ins Ziel, ein vom Rotwein beflügelter Schröder tönte, sie werde garantiert nicht Bundeskanzlerin. Sie wurde es dann doch, aber nur mit Ach und Krach.
Die heutige Ausgangslage zeigt viele Parallelen zu der von damals. Auch Scholz kann Wahlkampf, wie Schröder, das hat er 2021 bewiesen. Trotzdem: Es spricht alles gegen ein fulminantes Comeback. Drei Monate Wahlkampf können das Scheitern der Regierung in den vergangenen drei Jahren nicht vergessen machen. Falls es doch anders kommt, empfehle ich den Sozialdemokraten, Katja Ebstein zu ihrer Ehrenvorsitzenden zu machen: Wunder gibt es immer wieder.
Nein, Scholz kann Merz nicht mehr schlagen. Merz kann sich allerdings selbst noch schlagen. Wie schnell das geht, hat die letzte Bundestagswahl gezeigt. Armin Laschet lachte an der falschen Stelle. Annalena Baerbock frisierte ihren Lebenslauf. Aus der Traum, für beide. Der Sauerländer ist sich des Risikos offenbar bewusst. Seit er Kanzlerkandidat ist, tritt er vorsichtiger auf als früher, staatsmännischer. Er wettert nicht mehr gegen "kleine Paschas" aus migrantischen Familien. Er behauptet nicht mehr, dass Asylbewerber den Einheimischen die Termine beim Zahnarzt wegnehmen. Seine Reden im Bundestag trägt er immer noch mit rhetorischer Schärfe vor, aber ohne persönliche Angriffe.
Söder bleibt ein Risiko für Merz
Wer die Politik mit seismografischem Gespür verfolgt, erkennt allerdings durchaus die ersten Fehler im Wahlkampf der Union. Markus Söder hat schon vorsorglich einen bayerischen Bauernfunktionär als künftigen Landwirtschaftsminister benannt und für Alexander Dobrindt, seinen Statthalter in Berlin, ein "ganz großes und schweres Ministerium" gefordert. Drei Monate vor der Wahl Posten zu verteilen, ist dumm und überheblich. Söder bleibt ein Risiko für Merz.
Aber auch in der CDU holpert es. Friedrich Merz räumte kürzlich ein Hindernis für eine künftige Regierung unter seiner Führung aus dem Weg: die Schuldenbremse. Das sei für ihn eine "technische" Frage, sagte er – also keine politische Grundsatzfrage wie für Christian Lindner. Merz schloss neue Schulden für das Bürgergeld und andere Sozialleistungen aus, aber nicht für Investitionen in die Sicherheit oder die Infrastruktur. Das war ein kluger Schachzug, denn unter den Bedingungen der Schuldenbremse kann in den nächsten Jahren kein Kanzler erfolgreich regieren.
Was nicht klug war: Am Tag darauf versuchte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann die Aussage von Merz wieder einzufangen: Die Union stehe zur Schuldenbremse, ohne Wenn und Aber. Ja, was denn nun? Zeigt sich da ein Riss zwischen den Führungsfiguren im Konrad-Adenauer-Haus? Korrigiert der Generalsekretär den Parteivorsitzenden?
Sie ahnen, wer als Nächstes auf den Plan trat: Markus Söder. Nach einer verschlungenen Argumentation landete auch er bei der Öffnungsklausel von Merz, aber unter einer Nebenbedingung: Wenn die Schuldenbremse reformiert werde, dann müsse Bayern zugleich im Länderfinanzausgleich entlastet werden. Die Bayern zahlten zuletzt mehr als 9 Milliarden Euro in diesen Solidaritätstopf ein, da hat Söder einen Punkt. Aber der Streit unter den Ländern ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig, das kann viele Jahre dauern. Wer jetzt irgendeine andere politische Frage mit dem Länderfinanzausgleich verknüpft, macht sie praktisch unlösbar.
Das sind vorerst Unstimmigkeiten, keine groben Fehler. Die SPD konnte daraus kein Kapital schlagen, weil sie viel zu sehr mit sich selbst und ihrem Kandidaten-Chaos beschäftigt war. Bisher. Nach der Nominierung ihres Kanzlers als Kandidat sind die Sozialdemokraten immerhin freier. Sie werden jetzt einen Anti-Merz-Wahlkampf lancieren. Weil ein Pro-Scholz-Wahlkampf aussichtslos ist.
Die SPD-Strategie wird nicht aufgehen
Wie geht das? Die Strategen der SPD-Kampagne attackieren Merz als Lobbyisten der Reichen: Die SPD bittet die Spitzenverdiener zur Kasse, Merz will sie entlasten. Für Merz sind Besserverdienende die Leistungsträger der Gesellschaft, für die Sozialdemokraten sind es Busfahrer und Krankenschwestern. Merz will die Renten kürzen. Mit uns nicht!
Das Problem ist, dass der neue, vorsichtige Merz für diese Vorwürfe wenig Angriffsflächen bietet. Über die Reichen hat er nur gesagt: "Wirtschaftlicher Erfolg gehört dazu, den darf man auch – man muss nicht protzen – zeigen." Und diejenigen, die den Spitzensteuersatz bezahlen, seien eben nicht die Besserverdienenden, merkte Merz an. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent wird tatsächlich aktuell bei einem Jahreseinkommen von 66.761 Euro fällig. "Das sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft", sagte Merz, „das sind häufig mittelständische Unternehmer, das sind die Handwerksbetriebe.“
Man muss diese Aussagen schon mutwillig verdrehen, um daraus Social-Media-Kacheln über die vermeintliche soziale Kälte des Friedrich Merz zu basteln. Für die Rente gilt das so ähnlich. Scholz persönlich hat mehrfach behauptet, die Merz-CDU wolle die Renten kürzen. Das stimmt aber nicht. Nach dem Konzept der Union würden die Renten weniger stark steigen als im Gesetzentwurf von Hubertus Heil, SPD. Das ist schon ein Unterschied.
So kann man Merz den Weg ins Kanzleramt nicht verbauen. Aber es gibt doch noch ein Risiko für den Sauerländer: die Weltpolitik. Vier Wochen vor der Wahl tritt Donald Trump sein Amt im Weißen Haus an. Werden dann die Karten noch einmal ganz neu gemischt? Kann der besonnene Friedenskanzler Scholz dann seine Stärken und seine Regierungserfahrung ausspielen?
Eher nicht. Im Worst-Case-Szenario würde Trump die Unterstützung für die Ukraine schnell einstellen und den Europäern sagen: Das ist eure Sache. Scholz wäre gefordert: noch mehr Geld aus Deutschland, noch mehr Waffen, vielleicht doch der Taurus. Seinen Wahlkampf als Friedenskanzler würde dieses Szenario nicht retten, sondern endgültig ruinieren.
Also: Friedrich Merz wird Bundeskanzler, diese Prognose erneuere ich. Und füge eine weitere hinzu: Nicht nur Olaf Scholz wird am Wahlabend abtreten, sondern in der Folge auch Mützenich, Miersch, Esken, wahrscheinlich Klingbeil – also die komplette SPD-Spitze. Weil sie es gemeinsam verbockt haben. Bis auf Boris Pistorius. Der verhinderte Kanzlerkandidat der Herzen wird in der schwarz-roten (früher sprach man von der großen) Koalition unter Friedrich Merz Vizekanzler und Außenminister. Eine Prognose, aber durchaus auch eine Empfehlung.