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Benjamin Netanjahu: Der Haftbefehl ist richtig


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Tagesanbruch
Unfassbar brutal

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.11.2024Lesedauer: 6 Min.
Zerstörte Stadt Dschabalija im nördlichen Gazastreifen.Vergrößern des Bildes
Zerstörte Stadt Dschabalija im nördlichen Gazastreifen. (Quelle: Mahmoud Zaki/XinHua/dpa)
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Richter haben keine Kugeln im Arsenal, hart treffen kann ihre juristische Munition trotzdem. Die jüngste Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs hallt wie ein Donnerschlag durch Regierungszentralen rund um den Globus. Das Gericht hat Haftbefehle gegen drei Personen erlassen: erstens den Hamas-Oberterroristen Mohammed Deif, dem es Ausrottung, Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter vorwirft – Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Viel spricht dafür, dass der Palästinenser, der das Massaker vom 7. Oktober 2023 mitgeplant haben soll, mittlerweile tot ist. Der zweite Angeklagte ist der frühere israelische Verteidigungsminister Joav Galant, der die israelische Offensive im Gazastreifen bis vor Kurzem leitete – und der dritte ist Israels amtierender Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Letzteren beiden werfen die Richter vor, Zigtausende Zivilisten absichtlich auszuhungern, um den palästinensischen Widerstand zu brechen. Den Menschen würden ohne militärische Notwendigkeit Nahrung, Wasser, Medizin und Strom vorenthalten; Hilfslieferungen würden blockiert. Auch das: Kriegsverbrechen.

Ein Haftbefehl gegen den Regierungschef eines demokratischen Landes? Von den Schlagzeilen zu Trump, Ukraine und Ampel-Drama war der Konflikt im Nahen Osten aus den Top-Nachrichten verdrängt worden – nun hat der Richterspruch aus Den Haag ihn schlagartig dorthin zurückkatapultiert.

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Das war höchste Zeit. Noch immer hält die Hamas Dutzende israelische Geiseln in Tunneln und Kellern gefangen, 51 sollen wohl noch leben. Noch immer sind die bestialischen Morde an 1.200 Israelis nicht vollständig aufgeklärt. Und noch immer dauert der rücksichtslose Kriegszug der israelischen Armee im Gazastreifen an: Schon mehr als 40.000 Menschen sollen laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde getötet worden sein. Die wenigen Hilfsorganisationen, die noch in Gaza operieren, berichten von erschütternden Szenen: zerschmetterten Leibern, verhungernden Kindern, ausgelöschten Familien.

Der Schock über das Massaker vor gut einem Jahr hat nicht nur den Nahen Osten verändert, sondern auch die Maßstäbe politischer Moral verschoben. Er sitzt so tief, dass kein Politiker weltweit es vermocht hat, die israelische Regierung zur Mäßigung anzuhalten und bei ihrem Feldzug zur Verteidigung des Judenstaates das Leben von Zivilisten zu verschonen. US-Präsident Joe Biden hat sich an dem Kriegsherrn Netanjahu die Zähne ausgebissen, UN-Generalsekretär António Guterres dürfte mittlerweile ebenfalls dritte Zähne brauchen, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock gilt in Jerusalem eh als zahnloser Tiger.

So kommen und gehen die Politiker, nur einer bleibt: Trotz seiner mannigfachen Skandale hält sich der Berufszyniker Netanjahu an der Macht, weil er immer weiter Krieg führen kann, gegen die Hamas, gegen die Hisbollah im Libanon, gegen die Huthi im Jemen, gegen die iranischen Milizen in Syrien, gegen die Mullahs in Teheran – und gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen. Die offensichtliche Tatsache des Verdrängungskriegs muss er gar nicht selbst aussprechen, das erledigen seine rechtsradikalen Koalitionspartner für ihn, die bereits die Wiederbesetzung des Landstrichs am Mittelmeer und den Bau neuer Siedlungen planen. Die Palästinenser sollen so weit wie möglich geschwächt, zerschlagen, vertrieben werden – das scheint die menschenverachtende Agenda der gegenwärtigen israelischen Regierung zu sein, und darauf gibt es im internationalen Recht nur eine Antwort: Ermittlungen, Beweisaufnahme, Urteil und gegebenenfalls Strafe.

An diese nüchterne Logik haben sich die Richter in Den Haag gehalten und dabei ebenso viel Prinzipientreue wie Mut bewiesen. Seit der Verkündung des Haftbefehls gestern Abend überschlägt sich die Kritik israelischer Offizieller und ihrer Unterstützer. Netanjahu keift gegen den angeblichen "antisemitischen Hass" der Richter, Präsident Izchak Herzog spricht von einem "Skandal" und einem "dunklen Tag für die Menschheit", der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, wettert gegen die "Absurdität". Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir schwört sogar Rache: Eine vollständige Annexion des Westjordanlandes sei "die angemessene Reaktion" auf die Haftbefehle. Aus der deutschen Bundesregierung unterdessen: ohrenbetäubendes Schweigen.

Dabei gibt es nur eine angemessene Reaktion auf den Richterspruch: Respekt. Respekt vor der Entscheidung des unabhängigen Gerichts und dem internationalen Recht, das alle Menschen ungeachtet ihrer Macht und Ämter gleichzubehandeln versucht. Würden die Juristen einen afrikanischen Warlord mit Haftbefehl verfolgen, würde weltweit kaum ein Hahn danach krähen. Auch der Haftbefehl gegen den Kriegsverbrecher Wladimir Putin hat im demokratischen Teil der Welt ungeteilte Zustimmung erfahren. Der Warlord Netanjahu dagegen erntet vielerorts immer noch ein Maß an Unterstützung, das er nicht mehr verdient.

Wie jedes Land hat der Staat Israel ein Selbstverteidigungsrecht. Aber er hat kein Recht, unter dem Vorwand einer Antiterroroperation Zigtausende Menschen zu terrorisieren. Tut er es trotzdem, müssen seine Regierenden zur Verantwortung gezogen werden. So verlangt es das Völkerrecht, und das ist gut so. Alle Vertragsstaaten des Strafgerichtshofs sind nun verpflichtet, die Beschuldigten festzunehmen und auszuliefern, sobald sie sich in ihrem Land aufhalten. Die niederländische Regierung hat bereits angekündigt, sie werde sich daran halten und Netanjahu festsetzen, falls er ihr Hoheitsgebiet betritt. Diese Prinzipientreue würde man sich auch von der Bundesregierung wünschen. Wie war das noch mit der "wertegeleiteten Außenpolitik"?


Pistorius bleibt Parteisoldat

Wie soll man das nennen: Der Klügere gibt nach? Oder der Schwächere zuckt zurück? Oder ein Parteisoldat gehorcht den Parteioffizieren? Jedenfalls hat der sozialdemokratische Hoffnungsträger Boris Pistorius den Machtkampf in der SPD selbst beendet. Er stehe nicht für die Kanzlerkandidatur zur Verfügung, verkündete der populäre Verteidigungsminister gestern Abend in einem Video: "Olaf Scholz ist der richtige Kanzlerkandidat. Kämpfen wir gemeinsam und geschlossen für eine zweite Amtszeit für den sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz."

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Damit steht dreierlei fest: Erstens beweist der Verantwortungspolitiker Pistorius, dass ihm das Wohl der Partei über eigene Karrierepläne geht – was ihn folglich als Regierungschef disqualifiziert. Wer ins Kanzleramt will, muss es um jeden politischen Preis wollen und darf Machtkämpfe nicht scheuen. Hart, aber wahr. Zweitens kann die SPD sich nun hinter ihrem gerupften Amtsinhaber Scholz versammeln – dem unbeliebtesten Spitzenpolitiker Deutschlands – und versuchen, seine Blässe durch lautstark zelebrierte Geschlossenheit zu übertünchen. Vielleicht reicht es dann ja womöglich für den dritten Platz hinter CDU/CSU und AfD und gerade so für die Juniorrolle in einer Großen Koalition mit der Union. In diesem Bündnis könnte Pistorius dann weiter pflichtbewusst einen Ministerjob bekleiden, während SPD-Parteichef Lars Klingbeil sich für die Kanzlerkandidatur 2029 warmläuft. Der will nämlich um alles in der Welt Kalif anstelle des Kalifen werden.


Ohrenschmaus

Welcher Song passt zu Pistorius’ Entscheidung? Vielleicht dieser hier.


Finale für Lauterbach

Den Bundestag hat Karl Lauterbachs umstrittene Krankenhausreform vor fünf Wochen erfolgreich passiert: Die Stimmen der damals noch existierenden Ampelkoalition genügten. Heute jedoch muss das Gesetz, mit dem der SPD-Gesundheitsminister eine neue Finanzierungsbasis für Kliniken und eine stärkere medizinische Spezialisierung schaffen will, die letzte Hürde nehmen: den Bundesrat. Obwohl die SPD an 12 von 16 Landesregierungen beteiligt ist (und somit Enthaltungen durchsetzen könnte), gibt es dort große Bedenken gegen die Pläne: Aus Furcht vor Klinikschließungen, hohen Folgekosten und einer Dominanz des Bundes über die Länder haben neben Bayern auch Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg Widerstand angekündigt, außerdem Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Schleswig-Holstein. Zusammen hätten sie schon 34 der für eine Blockade notwendigen 35 Stimmen.

Zwar kann die Länderkammer das Vorhaben nicht einfach kippen. Sie kann aber einen Vermittlungsausschuss erzwingen, was wiederum der Bundestag mit absoluter Mehrheit ablehnen müsste – und dafür fehlen der rot-grünen Minderheitsregierung die Stimmen. Zudem könnte die Zeit knapp werden: Sobald der Bundespräsident nach verlorener Vertrauensfrage des Kanzlers das Parlament aufgelöst hat, gibt es nichts mehr zu vermitteln. Ohnehin hat Lauterbach angekündigt, lieber auf die Reform zu verzichten, als sie durch Zugeständnisse zu verwässern.

Kurz gesagt: Der heutige Abstimmungskrimi dürfte die Entscheidung bringen.


Lesetipps


Der Rückzug von Matt Gaetz als Trumps Wunschkandidat für das Justizministerium ist ein Weckruf für den designierten Präsidenten: Trotz eines starken Mandats kann er sich demokratischer Kontrolle nicht einfach entziehen, kommentiert unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.


Eigentlich soll die Weltklimakonferenz in Aserbaidschan heute zu Ende gehen, eine Verlängerung ist aber wahrscheinlich. Immer deutlicher verschiebt die Erderwärmung die Jahreszeiten. Darauf sollten wir uns einstellen, meint Kolumnistin Sara Schurmann.


Kriminelle waschen in Deutschland jedes Jahr rund 100 Milliarden Euro schmutziges Geld. Nun soll Schluss damit sein, weiß mein Kollege Hendrik Gaasterland.


Zum Schluss

Die Klinikreform kommt.

Ich wünsche Ihnen einen gesunden Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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