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Reform der Schuldenbremse: Höchste Zeit für einen Sinneswandel


Meinung
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Tagesanbruch
Höchste Zeit für einen Sinneswandel

MeinungVon Heike Vowinkel

18.11.2024Lesedauer: 7 Min.
Friedrich Merz: Er will Olaf Scholz' Amt.Vergrößern des Bildes
Auch Friedrich Merz dürfte wissen: Sollte er bald eine Regierung anführen, wird die angezogene Schuldenbremse zum Problem für ihn. (Quelle: Christoph Soeder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie schon mal versucht, mit angezogener Handbremse loszufahren? Ich bekenne hier mal: Mir ist das gerade passiert. Der Motor war kurz vorm Abwürgen, nichts bewegte sich. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Ich hatte es eilig. Zum Glück fiel mir schnell auf, woran es lag.

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Nun ist die deutsche Wirtschaft kein Auto, auch wenn sie stark von diesem abhängt. Doch auch sie fährt gerade mit angezogener Handbremse. Derzeit bewegt sie sich zwar noch, aber so minimal, dass die Sorge groß ist, der Motor könnte bald vollends abgewürgt sein. Die Bremse, die das Land blockiert, da sind sich viele Ökonomen einig, muss gelöst werden. Doch bislang hat sich nicht nur die FDP, die mit auf dem Fahrersitz saß, dagegen gewehrt. Auch ein Mitfahrer auf der Rückbank leistete heftigen Widerstand: die Union. Ihre Stimmen wären aber notwendig, um die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse mit einer Zweidrittelmehrheit maßvoll zu lockern.

Dabei dürfte auch die Union wissen: Ohne diesen Schritt wird die Wirtschaft nicht schnell genug Fahrt aufnehmen. Aus wahltaktischen Gründen stemmt sie sich dennoch dagegen. Dabei drängt die Zeit.

Ohne Zweifel, die Schuldenbremse war und ist sinnvoll. Nur ihr ist es zu verdanken, dass Deutschland aktuell mit einer Schuldenquote von rund 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts besser dasteht als die meisten anderen europäischen Länder, in den USA liegt diese sogar bei 120 Prozent. Wer ständig über seine Verhältnisse lebt und deutlich mehr ausgibt, als er einnimmt, den erdrosseln irgendwann die Zinsen. Früher oder später müssen sie nämlich zurückgezahlt werden.

Gerade weil Deutschland finanzpolitisch so gut dasteht, wäre eine Reform der Schuldenbremse dringend geboten. Denn wichtige Investitionen wurden über Jahre verschleppt, sowohl im Bund – unter einer unionsgeführten Regierung mit der SPD als Juniorpartner – als auch in den Ländern: in Bildung, in Straßen und Brücken, in die Deutsche Bahn, in die Digitalisierung und die Bundeswehr. Dabei hatten die damaligen Regierungen aufgrund des Wirtschaftswachstums Jahr für Jahr mehr Geld zur Verfügung. Sie verdienten dank Negativzinsen bisweilen sogar am Schuldenmachen.

Nun, da die Wirtschaft stagniert, ist der Abbau des Investitionsstaus so drängend, dass er zu einem zusätzlichen Bremsklotz für die schwächelnde Konjunktur geworden ist. Um das Land auf die Höhe der Zeit zu bringen, müssten in den nächsten zehn Jahren 600 Milliarden Euro investiert werden, hat das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zusammen mit dem gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung im Mai berechnet. 60 Milliarden jedes Jahr – wohlgemerkt zusätzlich zum normalen Haushalt. Und darin sind noch nicht einmal die Milliarden enthalten, die eine dauerhaft angemessene Finanzierung der Bundeswehr sicherstellen.

Dass das allein mit Sparen nicht zu machen ist, müsste eigentlich jedem einleuchten. Natürlich gibt es trotzdem noch genug Sparpotenzial, etwa bei notwendigen Sozialreformen oder bei Subventionen – von unnötigen, wie dem Ehegattensplitting, bis zu klimaschädlichen, wie dem Dienstwagenprivileg.

Die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form, die eine Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zulässt, ist zu starr. Das haben am vergangenen Mittwoch auch die Wirtschaftsweisen erneut betont, als sie ihr alljährliches Gutachten vorstellten. Sie empfehlen eine maßvolle Reform: In Zeiten außergewöhnlicher Krisen, wie der aktuellen, sollten höhere Kredite möglich sein. Gleichzeitig sollte in der Zeit danach die Neuverschuldung in einem Übergangszeitraum peu à peu wieder zurückgefahren werden – und nicht wie aktuell auf einen Schlag. Sie empfahlen abhängig von der Schuldenquote dafür entsprechende Grenzen, mit denen es nach ihren Berechnungen sogar trotzdem möglich wäre, den existierenden Schuldenberg dauerhaft weiter abzubauen.

Doch einer solchen Reform verweigerte sich bislang nicht nur die FDP und ließ daran letztlich sogar die Ampel zerbrechen. Auch die Union beharrte auf die 2009 im Grundgesetz verankerten Regeln. Allerdings gibt es nun, da Friedrich Merz vielleicht bald auf dem Fahrersitz Platz nehmen könnte, erste Anzeichen für einen Sinneswandel: Selbstverständlich könne man die Schuldenbremse reformieren, sagte der CDU-Chef beim Wirtschaftsgipfel der "Süddeutschen Zeitung" am vergangenen Mittwoch. Die Frage sei allerdings: wozu, mit welchem Zweck? "Ist das Ergebnis, dass wir noch mehr Geld ausgeben für Konsum und Sozialpolitik? Dann ist die Antwort nein."

Da hat er sicherlich recht: Aber auch SPD und Grüne wollten die Bremse bislang nicht für Konsum und Sozialpolitik lockern, sondern für dringend benötigte Investitionen in die Infrastruktur, den digitalen und klimaneutralen Umbau der Wirtschaft. Das müsste bei einer Reform der Schuldenbremse natürlich entsprechend festgelegt werden. Trotzdem hatte Merz am Mittwoch kaum zu Ende gesprochen, da wurden seine Worte schon von seinem Generalsekretär eingefangen. Ohne Wenn und Aber stehe die Union zur Schuldenbremse, sagte Carsten Linnemann in jedes Mikro, das sich ihm entgegenstreckte. Sie sei fest verankert in der DNA der Partei, meinte er erst gestern in der "Bild am Sonntag".

Verständlicherweise will die Union jetzt – kurz vor der Neuwahl – nicht als Schuldenmacher und damit Umfaller dastehen. Doch auch eine von der Union geführte Regierung wird zusätzliches Geld brauchen: für bereits angekündigte Steuerentlastungen von Bürgern und Unternehmen, den massiven Ausbau des Verteidigungsetats oder die Reduzierung der Netzentgelte. Allein mit Kürzungen beim Bürgergeld lässt sich das alles nicht finanzieren.

Das Risiko ist groß, das Merz und seine Union eingehen, wenn sie sich einer raschen Reform der Schuldenbremse aus wahltaktischen Gründen verweigern. Sollten nach der Wahl radikale Randparteien wie die AfD und das BSW zusammen auf mehr als ein Drittel der Stimmen kommen, besäßen sie eine Sperrminorität und könnten diese verhindern. Merz müsste dann mit fest angezogener Bremse losfahren. Es dürfte eine ungemütliche Fahrt werden.


Ist der Kanzler aus dem Haus ...

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Es ist kein günstiger Zeitpunkt, zu dem der Kanzler gerade für zwei Tage nach Rio de Janeiro fliegen muss. In der brasilianischen Metropole nimmt Olaf Scholz am G-20-Gipfel teil. Zu Hause wächst unterdessen der Widerstand gegen den in Umfragen unbeliebten Kanzler. Nicht nur SPD-Urgestein Franz Müntefering sagte jetzt in einem Interview mit dem "Tagesspiegel", Scholz sei als Kanzlerkandidat nicht automatisch gesetzt und forderte, ein Parteitag solle darüber abstimmen.

Statt mit Scholz besser mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidaten ins Rennen zu gehen, dafür hatten sich zuvor etliche Kommunalpolitiker ausgesprochen. Am Sonntag kamen nun auch die ersten Bundestagsabgeordneten aus der Deckung: Joe Weingarten schwärmte in der "Süddeutschen Zeitung" von der "Tatkraft" des Verteidigungsministers und seiner "Fähigkeit, in klarem Deutsch zu sagen, was zu tun ist". Kurz darauf folgte der nächste: Auch Johannes Arlt aus Mecklenburg-Vorpommern warb für Pistorius. Weitere werden folgen. Für die SPD-Spitze und Scholz dürfte es nun immer schwerer werden, die entfachte K-Frage zu löschen.

Mit ganz anderen Problemen wird sich der Kanzler in Rio beschäftigen: Dort wird es um die Armutsbekämpfung gehen, die Reform internationaler Institutionen wie die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, den Klimaschutz und auch um die Kriege in der Ukraine und in Nahost. Scholz will bilaterale Gespräche führen, unter anderem mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping.

Der Kanzler ist sich der Gefährlichkeit der Lage zu Hause natürlich bewusst. Die ursprünglich geplante Weiterreise von Brasilien nach Mexiko sagte er kurzerhand ab. Scholz will offenbar so schnell wie möglich wieder in Berlin sein.


Schlacht um die Glaubwürdigkeit

Wer ist schuld am Ende der Ampelkoalition? Die Antwort darauf wird seit eineinhalb Wochen wie der schwarze Peter herumgereicht. Dabei konnte es daran eigentlich keinen Zweifel geben: Christian Lindner und seine FDP. Sprach er doch seit Monaten vom "Herbst der Entscheidungen" und dass es manchmal besser sei "ins Risiko zu gehen".

Doch dann wurde bekannt, dass die spontane Wutrede des Kanzlers gar nicht so spontan war: Schon nach dem entscheidenden Treffen mit Lindner am Sonntag, drei Tage vor dem Koalitionsbruch, hatte Scholz wohl beschlossen, dem FDP-Chef zuvorzukommen. Sollte es notwendig werden, wollte er seinen Finanzminister entlassen. Olaf Scholz ließ entsprechende Reden für verschiedene Szenarien vorbereiten. Seitdem war seine Glaubwürdigkeit angekratzt. Lindner sprach von einer "Entlassungsinszenierung", warf Scholz gar einen "kalkulierten Bruch" vor.

Wer tatsächlich Regisseur der Inszenierung war, zeigten jetzt Recherchen der "Zeit" und der "Süddeutschen Zeitung": Beide Medien berichteten am Wochenende übereinstimmend, Lindner habe direkt nach den drei Ost-Landtagswahlen im September entschieden, den Bruch der Ampel zu provozieren. Er und die FDP-Spitze planten demnach detailliert, wie dabei vorzugehen sei und nannten das ganze Projekt auch noch "D-Day". Der Name allein ist geschmacklos, so bezeichneten die westlichen Alliierten die Landung in der Normandie, mit der sie Europa vom nationalsozialistischen Deutschland befreiten. Doch vor allem ist Lindners Glaubwürdigkeit nun gewaltig angeschlagen.

Überrascht das Ergebnis der Recherche? Kaum. Trotzdem ist ein Nachweis schädlicher für Lindner und die FDP, als es nur naheliegende Vermutungen waren. Lindner, gefragt nach der detaillierten Planung, wiegelte am Samstag ab. "Es ist Wahlkampf. Wo ist die Nachricht?" Ein Dementi hört sich anders an. Der FDP-Chef bestreitet offenbar nicht, dass er den Koalitionsbruch von langer Hand plante, hält das aber nicht für berichtenswert. So gesehen – siehe oben – hat er sogar recht.


Das historische Bild

Der Erste Weltkrieg forderte in blutigen Schlachten unzählige Tote, eine der schlimmsten fand an der Somme statt. Mehr lesen Sie hier.


Lesetipps

Weitreichende Waffen: Monatelang hat die Ukraine darum gebeten – jetzt hat US-Präsident Joe Biden dem Land erlaubt, Waffen längerer Reichweite gegen Russland einzusetzen. Lesen Sie alle wichtigen Entwicklungen dazu in unserem Newsblog.


Das Dilemma der SPD: In der Partei rumort es, weil Olaf Scholz wie selbstverständlich erneut als Kanzlerkandidat antreten will. Boris Pistorius ist erheblich beliebter. Aber warum sollte er sich eine Wahlniederlage antun, fragt sich unser Kolumnist Gerhard Spörl.


Schwimmen, um nicht unterzugehen: Die Grünen versammeln sich hinter ihrem Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Der Bruch der Ampel hat ihm dabei geholfen. Doch seine größten Probleme bleiben, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier vom Parteitag in Wiesbaden.


Spanien erlebt eine nie dagewesene Serie von heftigen Unwettern. Hunderte Menschen sind ums Leben gekommen. Eine deutsche Auswanderin hat meinem Kollegen Lucas Maier von staatlichem Versagen und einer Welle der Solidarität berichtet.


Zum Schluss

Manches Ende kommt eben doch auch überraschend.

Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Start ohne böse Überraschungen in die neue Woche. Morgen schreibt hier Florian Harms wieder für Sie.

Herzliche Grüße

Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel

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Mit Material von dpa.

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