Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.K-Frage der Sozialdemokraten Sehenden Auges in die Niederlage
In der SPD rumort es, weil Olaf Scholz wie selbstverständlich als Kanzlerkandidat antreten will. Boris Pistorius ist erheblich beliebter. Warum aber sollte er sich eine Wahlniederlage antun?
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat gesagt, zwischen Friedrich Merz und Olaf Scholz gebe es einen fundamentalen Gegensatz. Dem einen gehe es um Besserverdienende und dem anderen um Pflegekräfte, Bauarbeiter und Erzieher. Wirklich?
Klingbeil ist ein angenehmer, netter Mensch. Als Parteivorsitzender tritt er allzeit verbindlich mit eher leisen Tönen auf. Er ist loyal, umhüllt noch die herbste Niederlage seiner Partei mit Watte und möchte dringend vermeiden, dass die SPD dieses Mal tut, was sie immer tut: nämlich eine gefasste Entscheidung zu hinterfragen.
Die Entscheidung, mit dem Kanzler ins Rennen zu gehen, haben die obersten Parteigremien gefällt. Dieses Vorgehen ist eigentlich üblich, nur nicht in der SPD, die es liebt, wenn die Gesamtpartei kreisen darf und in einem ausgiebigen Prozess den oder die Vorsitzenden wählt. So geschehen schon im Jahr 1993, als Rudolf Scharping der glückliche Gewinner war, und im Jahr 2019, als Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Sieger hervorgingen.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Die SPD vibriert
Am Sonntag meldete sich ein hochgeschätzter Veteran, Franz Müntefering, zu Wort und forderte seine Partei, deren Vorsitzender er auch einmal war, dazu auf, in einem offenen Verfahren den Kanzlerkandidaten zu bestimmen. Denn eine Kanzlerkandidatur sei kein Spiel, das ein Vorrecht auf Wiederwahl umfasse, sagte Müntefering. Er meinte damit, dass Olaf Scholz dieses Mal nicht der geeignete Kandidat sei.
Natürlich vibriert die SPD, wie sie immer vibriert, wenn es um Entscheidendes geht. Ihr bleibt allerdings nicht viel Zeit zum Hinterfragen, denn in 97 Tagen ist Wahltag. Da noch die Pferde zu wechseln, ist ein enormes Risiko, siehe Kamala Harris.
Müntefering weiß selbstverständlich, dass unter diesen Umständen kein Parteitag oder gar ein basisdemokratisches Großpalaver sinnvoll ist. Er meint, was der weitaus weniger bekannte Abgeordnete Joe Weingarten ausgesprochen hat: Olaf Scholz weg, Boris Pistorius her.
Pistorius zum Spitzenkandidaten auszurufen, hat zweifellos Charme. Mit ihm ginge es nicht mehr vorrangig um Sozialpolitik, sondern um noch Wichtigeres: Wie bereitet sich Deutschland darauf vor, eventuell vom neoimperialistischen Russland angegriffen zu werden? Die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen, ist seine Absicht.
Pistorius ist außerhalb der Partei beliebt. Er meint, was er sagt. Er ist ein guter Verteidigungsminister, was nicht einfach ist. Er bleibt bei seiner Überzeugung, auch wenn der Kanzler ihm nicht folgt, wie bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Er besitzt Autorität, weil er Ernsthaftigkeit und Konsequenz ausstrahlt.
Nicht ganz so einfach ist das Verhältnis zu seiner Partei, die in größeren Teilen dem alten bundesrepublikanischen Pazifismus anhängt. Dafür ist Rolf Mützenich der lebende Beweis. Der SPD-Fraktionsvorsitzende wollte vor längerer Zeit schon den Ukraine-Krieg einfrieren. Seine Stimme zählt in seiner Partei wohl mehr als Pistorius’ Stimme.
Auch deshalb ist die Bewegung Wir-wollen-lieber-Boris-als-Olaf nicht sonderlich kampfstark. Von Pistorius ist weder laut noch leise zu vernehmen, dass er unbedingt als Nummer 1 bei der Wahl antreten möchte. Loyal, wie er ist, würde er übernehmen, wenn er müsste, aber sein Drang ist nicht groß. Anders als Scholz fehlt ihm der Glaube, dass er Kanzler werden kann.
Für Scholz, einmal von den ehrenwerten Gremien bestätigt, spricht die Kürze der Zeit bis zum 23. Februar. Vor Mitte Januar ist gar nicht an Wahlkampf zu denken. Außerdem bleibt der Kanzler auch über die verlorene Vertrauensfrage hinaus geschäftsführend im Amt. Das Nebeneinander eines SPD-Noch-Kanzlers und eines anderen SPD-Kanzlerkandidaten wäre ziemlich seltsam.
So sähe das aus: Der Kanzler trifft Absprachen mit Friedrich Merz, um Gesetze zu verabschieden, und der Kandidat spricht Merz die Eignung zum Kanzler ab – ein Fest für ironiestarke Journalisten und die AfD mit ihren abschätzigen Bemerkungen über die Altparteien.
Die SPD ist im Dilemma, keine Frage. Das Problem für einen Veteranen wie Müntefering, der die Dinge notorisch auf den Punkt bringt, lautet deshalb so: Wer garantiert der SPD das bessere Ergebnis? Gut möglich, dass sich mit Pistorius mehr Prozente erreichen lassen, vielleicht 20 oder 21 anstatt mit Scholz 16 oder 17. Aber dann wäre Pistorius der Verlierer. Und da die SPD davon ausgeht, dass sie mit Friedrich Merz in die Koalition gehen wird, ist ein unbeschädigter Pistorius einem beschädigten vorzuziehen.
Also wird die SPD wohl mit Olaf Scholz sehenden Auges in eine herbe Niederlage stolpern. Boris Pistorius aber darf sich schonen und darauf hoffen, dass es ihm in der Post-Scholz-Ära leichter fällt, die Bundeswehr in eine kriegstüchtige Truppe zu verwandeln.
- Eigene Beobachtungen