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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kanzlerkandidat Robert Habeck Ein Satz hat alles verändert
Die Grünen versammeln sich hinter ihrem Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Der Bruch der Ampel hat ihm dabei geholfen. Doch seine größten Probleme bleiben.
Robert Habeck hat schon fast 45 Minuten geredet, da spricht er auf einmal darüber, wie er im Sommer mit seinem Sohn schwimmen war. Der habe ihn gefragt, erzählt Habeck, ob er noch wisse, wie er ihm das Schwimmen beigebracht habe. "Du hast damals zu mir gesagt: Du musst dich bewegen, sonst gehst du unter", sagte sein Sohn.
Als Habeck diese Anekdote erzählt, spricht er gerade darüber, wie er sich im Sommer ernsthaft gefragt habe, ob er noch der Richtige sei. Der Richtige für die Kanzlerkandidatur, für die er sich auf diesem Parteitag mit dieser Rede bewirbt. Er habe über einen Rückzug nachgedacht, sagt Habeck. Denn das mit den vielen verlorenen Wahlen für die Grünen, das habe ja vor allem an der Performance der Ampel, und ja, auch an ihm gelegen.
"Ich glaube, es war dieser Satz", sagt Habeck dann, "der hängengeblieben ist, eingepflanzt im Unterbewusstsein, der mich hier heute auf diese Bühne bringt."
Schwimmen, um nicht unterzugehen. Es ist eine Szene, die für Habeck wohl den Zweck erfüllt hat, seine Partei mit Pathos zu packen. Sie kürt ihren Kanzlerkandidaten wenig später mit 96,5 Prozent. Doch schon vorher läuft in Wiesbaden alles ziemlich gut für ihn. Der Bruch der Ampel hat die aufgewühlten Grünen zusammengeführt. Bleibt es dabei, wäre das ein Problem weniger für seine Kandidatur. Seine größten Probleme aber werden bleiben. Auch unterzugehen, ist für Robert Habeck in den nächsten Monaten noch möglich.
Es hätte ungemütlich werden können
Es hätte ganz schön ungemütlich werden können für Robert Habeck auf diesem Parteitag in Wiesbaden. In den vergangenen Wochen war besonders im linken Parteiflügel bei vielen kulminiert, was sich seit drei Jahren angestaut hatte: Müdigkeit, Frust und die Lust zum Widerstand. Die ungezählten schmerzhaften Kompromisse in der Ampel, so schien es, hatten viele Grüne endgültig aufgerieben.
Letzter Anlass war das "Sicherheitspaket" und darin besonders die Verschärfungen in der Asylpolitik. Nur mit Mühe, Härte und drastischen Warnungen vor den Folgen für die Demokratie schaffte es die Fraktionsführung am Ende, doch noch die allermeisten Abgeordneten zur Zustimmung zu überreden.
Der Parteitag in Wiesbaden hätte nun ein Ort des Aufbegehrens einer wundgescheuerten Partei werden können. Ein Ort der Abrechnung mit der Regierungspolitik und vielleicht sogar ein bisschen mit dem eigenen Führungspersonal. So jedenfalls klang es lange in vertraulichen Gesprächen mit Abgeordneten.
Doch dann flog die Ampel auseinander – und der Wahltermin rückte um sieben Monate nach vorn. Plötzlich regte sich auch bei den kritischsten Grünen etwas, das sich in den vergangenen Jahren in den größten innerparteilichen Konflikten immer durchgesetzt hat: Ein Gefühl der Verantwortung für das Ganze, für den Erfolg, so könnte man es positiv benennen. Angst vor der eigenen Courage, das wäre die negative Interpretation.
Schon vorher hieß es selbst von den kritischsten Parteilinken, dass es den großen Knall auf dem Parteitag wohl nun nicht mehr geben werde. So kurz vor dem Beginn des Wahlkampfs wollte offensichtlich niemand dafür verantwortlich sein, einen großen Streit anzufangen. Der Bruch der Ampel – er domestiziert gerade selbst energische Habeck-Kritiker.
Viel Applaus, moderate Beschlüsse
Das zeigte sich in diesen Tagen in Wiesbaden nicht nur am großen Applaus für die eigenen Spitzenleute, sondern auch an moderaten inhaltlichen Beschlüssen. Ganz so, wie sich das der Oberrealo Habeck für seinen Kurs in die politische Mitte gewünscht hatte.
Die Schuldenbremse abschaffen, statt sie nur zu reformieren? Lehnt der Parteitag am Samstagabend ab. Ein Tempolimit von 120 statt 130 auf Autobahnen? Findet ebenso keine Mehrheit. "Sehr hohe Vermögen" wollen die Grünen zwar stärker besteuern. Aber wie genau? Da lässt die Partei ihrem Kanzlerkandidaten weitgehend freie Hand.
Besonders diesen Beschluss hatten Habeck und seine Leute am Samstag genau beobachtet. Sie wollen vermeiden, dass sich für die Grünen das Jahr 2013 wiederholt. Damals zog Jürgen Trittin mit Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz, einer höheren Erbschaftsteuer und einer Vermögensabgabe in den Wahlkampf. Es wurde zum Desaster, die Grünen rutschten bei der Wahl ab, sogar hinter die Linkspartei.
Selbst in der Migrationspolitik bleibt zumindest auf offener Parteitagsbühne der Streit aus, der noch vor ein paar Wochen von so ziemlich allen erwartet wurde. Denn gerade in der Migrationspolitik waren die Schmerzen vieler zuletzt eben am größten gewesen, Stichwort: "Sicherheitspaket". Doch die Parteiführung einigte sich schon vor der Debatte auf offener Bühne mit den linken Kritikern auf einen gemeinsamen Text, mit dem alle leben können.
Der grüne Aufstand? Die linke Revolte? Abgeblasen.
Langsam zeichnet sich sein Plan ab
Doch es reicht für Robert Habeck und seine unwahrscheinliche Mission natürlich nicht aus, innerparteilich keinen Ärger zu haben. Er muss die Menschen überzeugen, die nicht in Wiesbaden in der Parteitagshalle sitzen. Sie sollen die Grünen wählen, und zwar am besten auch viele, die das zuletzt nicht mehr wollten. Und langsam zeichnet sich ab, wie Habeck das schaffen will.
In seiner Rede leitet Habeck die Idee seiner Politik von der Freiheit ab. Und definiert damit im Vorbeigehen auch die Grünen ein Stück weit neu. Bürgerbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung, alle diese Bewegungen, die am Ende in Bündnis 90/Die Grünen mündeten, habe eine Idee geeint: "Der Kern unseres Wesens, meines politischen Wesens ist Selbstbestimmung für Menschen", sagt Habeck. "Freiheit."
Diese Freiheit aber werde in dieser Zeit angegriffen: von außen, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine zeige. Von innen durch den Populismus, der drohe, Demokratien zu zerreißen. Und durch die Klimakrise.
Habeck will all das verhindern. Aus dieser Analyse leitet er die Politik ab, für die ihn die Menschen wählen sollen. Er will Europa stärken. "Das bedeutet auch, Souveränitätsrechte nach Brüssel zu übertragen", sagt er. Er will mehr in die Infrastruktur investieren und dafür die Schuldenbremse reformieren. Ein ausgeglichener Haushalt bedeute nicht, dass die Große Koalition keine Schulden gemacht habe. Die Schulden seien jetzt nur in den kaputten Schulen, Bahnhöfen und Straßen zu besichtigen.
Klimapolitik als Stabilitätspolitik
Für den Zusammenhalt der Gesellschaft (und auch ein wenig für den innerparteilichen Zusammenhalt), will Habeck auch Sozialpolitik im weiteren Sinne zum wichtigen Wahlkampfthema machen. "Nachdem wir die Energie sauber gemacht haben, werden wir dafür sorgen, dass sie in Zukunft günstig ist", lautet sein Kernanliegen.
Für Klimapolitik wolle er sich "nicht mehr entschuldigen". Allerdings plant Habeck auch keine großen, neuen Sprünge. "Kurs halten" ist eine Formulierung, die er seit einigen Tagen wählt. Habeck weiß, dass die Klimapolitik weltweit in der Defensive ist, dass viele Menschen offenbar müde sind von den vielen Veränderungen dieser Zeit.
Habecks "Kurs halten", so wohl der Plan, soll helfen, seine Klimapläne für die Müden umzudeuten in eine Art Stabilitätspolitik: jetzt nicht noch eine Wende wieder zurück zum Alten, zum Fossilen. Für Habeck ist die Klimapolitik besonders heikel, weil die Grünen und er mit einem wichtigen klimapolitischen Projekt so viel Vertrauen verloren haben: dem Heizungsgesetz. Es hänge "wie ein Damoklesschwert" über dem Wahlkampf, sagt Habeck selbst.
Nur ob es so gelingt? Und ob das seiner Partei als Ambition beim Klimaschutz ausreicht? Ziemlich offen.
Habecks Problem
Robert Habeck ist ohnehin bewusst, dass Inhalte nicht ausreichen werden, um seine Partei von elf oder zwölf Prozent ins Kanzleramt oder auch nur in die Regierung zu führen. Es kommt für ihn vor allem auf etwas an, das man nur sehr bedingt herbeireden kann. Auf etwas, das man leicht verliert und schwer zurückgewinnt: auf Vertrauen.
Er weiß das selbst, und seine Partei weiß es auch. Die Menschen hören uns gar nicht mehr zu, so lautet eine populäre Analyse der Grünen in diesen Monaten. Sie haben sich ihr Bild der Partei gemacht, und oft ist es schlecht.
Robert Habeck will das ändern. Mit einem anderen Stil von Politik, der seine Grünen von den politischen Mitbewerbern unterscheiden soll. Selbstbewusst, aber nicht selbstverliebt. Einladend, aber nicht eingebildet. Sein Angebot mit dieser Kandidatur, sagt er in seiner Rede, bedeute auch: "In der Politik zu lernen."
Habecks Problem: Die Menschen müssen ihm das alles glauben, und zwar auch die, die den Grünen gar nichts mehr glauben. Und als wäre das nicht schon schwer genug, bleiben ihm jetzt nur noch wenige Monate, sie zu überzeugen. Nur: Wer gar nicht erst schwimmt, so sieht Habeck das wohl, der geht in jedem Fall unter.
- Eigene Recherchen und Beobachtungen auf dem Grünen-Parteitag in Wiesbaden