Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das ist längst überfällig
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
alles, was einem lieb ist, macht gleichzeitig auch Arbeit. Freund- und Partnerschaften wollen gepflegt werden, die eigene Gesundheit wünscht regelmäßig Bewegung und wer ein Haus besitzt, sollte undichte Stellen im Dach lieber sofort ausbessern. Sonst ist der Schaden irgendwann so groß, dass er sich nicht mehr kitten lässt.
Auch die Demokratie erhält sich nicht von allein. Sie füllt sich mit Leben, wenn Menschen in Vereinen engagiert sind, verschiedene Meinungen mit Respekt ausgetauscht werden, wenn an Schulen gelehrt wird, wie Wahlen, Gesetzgebung und Gewaltenteilung funktionieren, Medien Missstände aufdecken und wenn Bürger ihr Wahlrecht wahrnehmen. Demokratie muss aber auch verteidigt werden. Gegen Bedrohungen wie Extremismus und autoritäre Tendenzen.
Genau dieser Aufgabe widmet sich heute der Bundestag. Er berät am Mittag in erster Lesung über zwei Gesetzentwürfe, die von den Ampelfraktionen sowie dem fraktionslosen Abgeordneten Stefan Seidler eingebracht worden sind. Auch die Union steht im Kern hinter dem Plan. Er lautet: Das Grundgesetz ändern, um das Bundesverfassungsgericht besser vor dem Einfluss radikaler Parteien zu schützen.
Dieser Schritt ist extrem wichtig. Denn die Justiz gerät immer zuerst ins Visier, sollten autoritäre Parteien eine Wahl gewinnen. Das konnte man in Ungarn und in Polen sehen: Kommen Autokraten an die Macht, setzen sie alles daran, dass sie nicht mehr so leicht abgewählt werden können. Dafür ändern sie etwa das Wahlrecht oder schalten die Medien gleich. Im Weg steht ihnen dabei nur einer: das oberste Gericht des Landes. Deshalb wird dies als Erstes auf Linie gebracht. In Ungarn unter Viktor Orbán geschah dies etwa, indem aus den bis dahin elf Richterinnen und Richtern 15 wurden – die zusätzlichen vier allesamt regierungsfreundlich. So kippte die Mehrheit zugunsten der Machthaber.
Auch in Deutschland wäre so etwas nach aktueller Rechtslage möglich. Denn das Gesetz, das unter anderem regelt, wer Richterin oder Richter am Bundesverfassungsgericht werden kann, wie viele Richter berufen werden und wie ihre Wahl vonstattengeht, ist ein einfaches Bundesgesetz. Das heißt, es kann mit einfacher Mehrheit geändert werden. Käme also die AfD eines Tages auf mehr als 50 Prozent der Sitze im Bundestag, könnte sie etwa das Wiederwahlverbot aufheben. Das hätte zur Folge, dass Richter einen größeren Anreiz hätten, im Sinne der Regierung zu entscheiden.
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Um dem vorzubeugen, sollen die wichtigsten Merkmale des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz festgeschrieben werden. Änderungen wären dann nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit möglich. Geregelt werden soll unter anderem, dass das Gericht aus insgesamt 16 Richterinnen und Richtern besteht, dass ihre Altersgrenze bei 68 Jahren liegt, ihre Amtszeit bei zwölf Jahren und sie danach nicht wiedergewählt werden dürfen. Den Gesetzentwurf dazu finden Sie hier.
Doch es gibt noch ein weiteres Problem: Schon mehr als ein Drittel der Sitze im Bundestag würde einer extremen Partei wie der AfD reichen, um die Wahl von Verfassungsrichtern zu blockieren. Denn diese werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt – und dafür ist in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit nötig. Für den Fall einer solchen Blockade soll künftig ein Ersatzwahlmechanismus greifen. Das Wahlrecht würde dann vom Bundestag auf den Bundesrat übergehen und andersherum. Zuvor würde das Verfassungsgericht selbst eine Vorschlagsliste mit Kandidaten vorlegen. Doch was, wenn eine Partei auch im jeweils anderen Wahlorgan blockieren kann? Darüber schweigt sich der bisherige Gesetzentwurf aus.
Überhaupt sollte man noch einen Schritt weitergehen. Das Immunsystem des Bundesverfassungsgerichts zu stärken, ist nötig und gut. Doch warum sollte man offensichtlich verfassungsfeindlichen Parteien überhaupt erlauben, die Demokratie zu untergraben? Nicht umsonst hat man sich nach den Erfahrungen der Weimarer Republik für ein Konzept der wehrhaften Demokratie entschieden. Und die sieht das Mittel des Parteiverbots vor.
Zumindest dem Beginn eines Verbotsverfahrens gegen die AfD ist man derzeit so nah wie lange nicht. Parlamentarier unterschiedlicher Fraktionen wollen im Bundestag darüber abstimmen lassen, wenigstens mal einen Antrag für ein Verbot der AfD zu formulieren. Der Vorschlag soll in dieser oder der kommenden Woche in den Fraktionssitzungen diskutiert werden. Unter den Abgeordneten gehen die Meinungen stark auseinander. Ich finde: Das ist lange überfällig.
Natürlich birgt ein Verbotsverfahren immer die Gefahr, dass es scheitern kann. Doch wie überzeugend ein solcher Antrag wirklich ist, lässt sich erst beurteilen, wenn er auf dem Tisch liegt. Dann kann man immer noch überlegen, ob man ihn einreicht. Es gibt aber durchaus Grund zur Annahme, dass das Verfassungsgericht Sympathie für ein AfD-Verbot hätte. Offen sagen können die Richterinnen und Richter das natürlich nicht, aber ein Plenumsbeschluss des Gerichts von Mitte September gibt interessante Einblicke.
Darin begrüßen die Richter, dass der Gesetzgeber für einen besseren Schutz des Verfassungsgerichts sorgen will. Und schreibt zur Begründung: Dies liege auch deshalb nahe, "weil ein Blick über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus zeigt, dass sich autokratische Bestrebungen auch und gerade gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garantin einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung richten können". Anders gesagt: Das Gericht sieht die Gefahr, die von Autokraten ausgeht. Warum sollte es diese Gefahr nicht bannen, wenn es die Chance dazu bekäme? Das wäre eine wehrhafte Demokratie, die ihren Namen verdient.
Warum nur?
Als gestern um kurz nach 9 Uhr die Nachricht über den Ticker lief, Jürgen Klopp habe bei Red Bull unterschrieben, dachte ich nur eins: Ein Lebenswerk ist mit einem Schlag vernichtet. Denn als jemand, der 26 Kilometer Luftlinie vom Westfalenstadion entfernt aufgewachsen ist und damit quasi zwangsläufig BVB-Fan werden musste, verbinde ich nicht nur zwei Meisterschaften mit Klopp, sondern auch einen Fußball, der noch Seele hat – und nicht bloß rein ökonomischen Interessen folgt.
Insofern kann ich gut nachvollziehen, dass sich manche Fans verraten fühlen, wie mein Kollege Nils Kögler schreibt. Steht Red Bull in den Augen vieler Anhänger doch für genau das: die Kommerzialisierung des Sports. Und meinem Kollegen William Laing ging es wohl ähnlich wie mir, als er kommentierte: "Das eigene Denkmal in Sekunden zerstört."
Doch natürlich gilt auch für Jürgen Klopp, was für jeden anderen Menschen gilt: Er kann mit seinem Leben tun und lassen, was er will, wird schon seine Gründe haben und schuldet ohnehin niemandem Rechenschaft. Egal, wie emotional aufgeladen seine Person für Fußball-Fans auch sein mag.
Was steht an?
Beratung über Milliarden-Investitionen: Die Verkehrsminister der Bundesländer setzen ihre Herbstkonferenz in Duisburg fort. Sie machen Druck auf den Bund, ein Sondervermögen unabhängig vom Haushalt aufzulegen, mit dem in die vielerorts marode Infrastruktur investiert werden könnte.
Ernest Hemingway, Albert Camus, Thomas Mann: Wer heute Mittag den Literaturnobelpreis in Stockholm entgegennimmt, darf sich in eine Reihe mit den größten Meistern – und Meisterinnen – stellen. Als Dauerfavoriten gelten etwa die kanadische Autorin Margaret Atwood, der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie und der japanische Autor Haruki Murakami.
Auch in Deutschland wird ein Preis verliehen, wenn auch vielleicht nicht ganz so renommiert: Die Naturschutzverbände küren den Vogel des Jahres 2025. Zur Wahl stehen Hausrotschwanz, Kranich, Schwarzspecht, Waldohreule und Schwarzstorch. Wenn Sie den Tagesanbruch zeitig lesen, können Sie womöglich noch abstimmen. Bis 11 Uhr ist die virtuelle Wahlurne geöffnet.
Der als "extrem gefährlich" eingestufte Hurrikan "Milton" hat in der Nacht die Westküste Floridas erreicht. Der Sturm traf mit anhaltenden Windgeschwindigkeiten von bis zu 193 Kilometern pro Stunde auf Land. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
Ohrenschmaus
Schon die ganze Woche rotieren seine Hits als Ohrwürmer durch meinen Kopf. Was vielleicht an dem Konzert liegen kann, das ich vergangenen Samstag in Düsseldorf besucht habe. Von wem ich spreche? Hören Sie am besten selbst!
Das historische Bild
Brücken werden eher selten für Schiffe gebaut, 2003 machte aber dieses Bauwerk Eindruck. Mehr erfahren Sie hier.
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Was lief falsch in der Corona-Pandemie? Die Politik scheitert noch immer daran, das aufzuarbeiten. Dabei wäre es dringend nötig, sagen Virologe Christian Drosten und Journalist Georg Mascolo im Gespräch mit meinen Kollegen Annika Leister und Johannes Bebermeier.
Es war ein TV-Duell der Populistinnen: AfD-Chefin Alice Weidel und BSW-Chefin Sahra Wagenknecht liefen sich gestern schon mal für die Bundestagswahl warm. Meine Kollegin Annika Leister hat zugeschaut – und eine klare Siegerin ausgemacht.
Die Zahl der Autokratien wächst, liberale Demokratien wie Deutschland sind in der Defensive. Welchen Schaden ein US-Präsident Donald Trump anrichten könnte, erklärt die Historikerin und Friedenspreisträgerin Anne Applebaum im Interview mit meinen Kollegen Bastian Brauns und Marc von Lüpke.
Zum Schluss
Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Ich wünsche Ihnen nur leichtes Gepäck für heute – kommen Sie gut durch den Tag!
Herzliche Grüße
Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
X: @c_holthoff
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Mit Material von dpa.
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