Tagesanbruch Dafür ist es jetzt zu spät
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wissen Sie schon, was Sie in einem Jahr machen? Nein? Ich kann Ihnen auf die Sprünge helfen. Sie werden sich womöglich Gedanken darüber machen, welcher Partei Sie Ihre Stimme geben. Denn in 367 Tagen, am 28. September 2025, steht die nächste Bundestagswahl an.
Zumindest ist das der Stand jetzt. Vielleicht geht es auch schneller. Zum Beispiel dann, wenn die Ampelregierung zurücktritt und Platz für Neuwahlen macht. Angesichts der Entscheidung der Grünen-Chefs Ricarda Lang und Omid Nouripour ist dieses Szenario etwas wahrscheinlicher geworden: Als Folge aus den jüngsten Misserfolgen der Partei bei den Wahlen kündigten sie am Mittwoch den Rücktritt des gesamten Parteivorstandes an. Im November soll dann ein neuer Vorstand gewählt werden. Wer dem angehören könnte, hat mein Kollege Johannes Bebermeier hier notiert.
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Wenn Politiker merken, dass sie falsch liegen und deswegen Konsequenzen ziehen, ist das zunächst eine Entscheidung, der man Respekt zollen sollte. Diesen Mut hätte man sich in der Ampelkoalition – einer selbst ernannten Fortschrittskoalition – schon viel früher gewünscht. Dass nun die Bundesregierung die Reißleine zieht, dafür ist es schon zu spät. Jetzt braucht es Geschlossenheit.
Der Schritt der Grünen-Spitze ist per se logisch: Die Öko-Partei hatte bei den vier zurückliegenden Wahlen – der Europawahl und den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – drastische Verluste erlitten. Aus zwei Landtagen flog sie raus. Omid Nouripour sagte: "Das Wahlergebnis am Sonntag in Brandenburg ist ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade."
Seine Kollegin im Vorstand, Ricarda Lang, sagte, es benötige neue Gesichter. "Jetzt ist nicht die Zeit, am eigenen Stuhl zu kleben. Jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen, und wir übernehmen diese Verantwortung, indem wir einen Neustart ermöglichen", fügte sie hinzu.
Teil des Neustarts muss denn auch sein, dass die Grüne Jugend einen neuen Vorstand bestimmt. Dieser kündigte am Mittwochabend an, die Partei geschlossen zu verlassen. Die Konflikte zwischen grüner Partei und Grüner Jugend hätten sich "immer weiter zugespitzt", heißt es in einem Brief an den Vorstand der Partei.
Eines ist mit der jüngsten Entwicklung bei den Grünen klar: Die Ampel-Dämmerung ist hereingebrochen. Ähnlich sieht das mein Kollege Florian Schmidt, der das t-online-Hauptstadtbüro leitet. "Kämen bei den Grünen nun zwei Chefs ans Ruder, die sich und ihre Partei wieder stärker profilieren wollen, denen womöglich auch der Koalitionsvertrag weniger wichtig ist, kann es schneller knallen, als Robert Habeck 'Klimaschutz' und Christian Lindner 'Schuldenbremse' sagen können", kommentiert er.
Immerhin sind die Grünen nicht die einzige Ampelpartei, die bei den vergangenen Landtagswahlen im Osten schlecht abschnitt. Mehr noch: Die gesamte Ampel ist mittlerweile bei vielen Menschen verhasst – etwa wegen des verkorksten Heizungsgesetzes, ihres schlingernden Migrationskurses oder der Ziellosigkeit des Kanzlers. Neben der Grünen-Spitze gäbe es sicher auch im Hans-Dietrich-Genscher-Haus (FDP) oder dem Willy-Brandt-Haus (SPD) genug Menschen, die deswegen Konsequenzen hätten ziehen können.
Der SPD in Brandenburg gelang etwa nur wegen der Beliebtheit ihres Ministerpräsidenten Dietmar Woidke der knappe Wahlsieg. Wohl auch, weil Woidke den Kanzler mehr oder minder deutlich aufgefordert hat, sich aus dem Wahlkampf herauszuhalten.
Die FDP verpasste in allen drei Bundesländern den Einzug in den Landtag; in Brandenburg erreichte sie nicht mal einen traurigen Prozentpunkt. Sie bekam mit 12.462 Zweitstimmen nur ein Drittel der Stimmen der Tierschutzpartei.
In der Ampelregierung rumort es folglich gewaltig. Die Kritik vieler Liberaler an der Ampel ist riesig, die Forderungen an Christian Lindner, es Nouripour und Lang nachzutun, werden immer lauter. Auch in der SPD mehren sich die Stimmen, das Bündnis zu verlassen.
Allein: Dass es tatsächlich zu einem vorzeitigen Ende der Regierung kommt, ist unwahrscheinlich. Für ein konstruktives Misstrauensvotum im Bundestag würden nicht einmal die gemeinsamen Stimmen von CDU/CSU, FDP und AfD ausreichen – abgesehen davon, dass dieses Szenario als praktisch ausgeschlossen gilt.
Stellte Olaf Scholz im Bundestag indes die Vertrauensfrage, würde er wohl krachend verlieren. Sein politisches Amt wird Scholz aber nicht leichtfertig aufgeben wollen. Das hat er oft genug gezeigt. Die Folge einer Vertrauensfrage wären kurzfristig anberaumte Neuwahlen, bei denen die Ampelparteien zittern müssten. Allen voran die FDP.
Zumal es auch gute Gründe dafür gibt, dass die Ampel weitermacht. Deutschland galt lange Zeit und vielen immer noch als Stabilitätsanker in Europa. Gerade in rauen Zeiten. Vor der Drohkulisse einer zweiten Amtszeit eines Donald Trump, Kriegen in der Ukraine und dem Nahen Osten und erstarkenden Rändern braucht es in Berlin Einheit. Ein hehrer Wunsch, das ist mir bewusst.
Anstatt sich also wie die vergangenen drei Jahre weiter öffentlich zu zerfleischen, sollten sich die Koalitionäre jetzt zusammenraufen. Wenigstens die letzten 367 Tage.
Am Rande des Abgrunds
Nehmen Sie gerne noch einen Schluck Kaffee, atmen Sie durch. Sind Sie bereit? Wunderbar. Denn das, was ich Ihnen nun näherbringen möchte, ist nichts für schwache Nerven. Auch wenn es sich auf den ersten Blick nur um einige trockene Zahlen handelt:
- Der Ifo-Geschäftsklimaindex, der die Stimmung der deutschen Unternehmen misst, sinkt im September auf 85,4 Punkte. Im August lag der Wert noch bei 86,6 Punkten. Auch die Zukunftserwartungen der Firmen trüben sich ein.
- Der Einkaufsmanagerindex für Deutschland rutschte im September tiefer unter die Wachstumsschwelle von 50 Punkten, wie S&P Global jüngst mitteilte.
- Und die führenden Forschungsinstitute senken offenbar ihre ohnehin geringe Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte in diesem Jahr um 0,1 Prozent schrumpfen, verlautete vorab aus den Instituten. Für 2025 wurde die Vorhersage wohl von 1,4 auf 0,8 Prozent gekappt. Am Donnerstag um 10 Uhr stellen sie die sogenannte Gemeinschaftsdiagnose der Öffentlichkeit vor.
Übersetzt bedeuten die Zahlen: Die deutsche Wirtschaft taumelt auf den Abgrund zu. Zwar plant die Regierung ein Wachstumspaket – das reicht laut Experten und Wirtschaftsverbänden aber lange nicht aus, um der Wirtschaft aus der Krise zu helfen.
Auch Noch-Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dürfte sich die Statistiken daher genau anschauen. Und sich fragen: Wie konnte es so weit kommen? Und wie lässt sich das jetzt ändern?
Dazu habe ich mit einer der wichtigsten und einflussreichsten Ökonominnen in Deutschland gesprochen: Veronika Grimm. Sie ist Teil des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – landläufig auch bekannt als die Wirtschaftsweisen.
t-online: Frau Grimm, welche Diagnose stellen Sie der deutschen Wirtschaft?
Veronika Grimm: Eine schlechte. Die Aussichten sind nicht rosig.
Erklären Sie das.
Wir warten seit langem darauf, dass der Konsum zurückkommt und die Konjunktur anschiebt, aber es passiert nicht. Und das, obwohl die Realeinkommen deutlich gestiegen sind. Das heißt, die Menschen haben wieder mehr Geld in der Tasche, weil die Inflation etwa in den Lohnverhandlungen kompensiert wurde.
Warum geht es trotzdem nicht voran?
Wir haben strukturelle Probleme und stecken quasi fest. Hohe Energiekosten und zugleich fehlende Richtungsentscheidungen in der Energiepolitik führen zu Unsicherheit und Zurückhaltung bei den Investitionen. Hinzu kommt eine geringe Auslastung der Industrie, die auf fehlende Wettbewerbsfähigkeit hindeutet. Wir beobachten auch einen Rückgang bei der Arbeitsproduktivität, wohl auch weil die Arbeitskräfte nach der Corona-Krise nicht zu den produktiveren Firmen gegangen sind, sondern oft trotz geringer Auslastung in den Firmen gehalten wurden. Viele Mittelständler wandern bereits ins Ausland ab. Und immer mehr große Unternehmen bekommen Probleme.
Sie meinen VW?
Das ist ein Beispiel. Man kann nur hoffen, dass nicht wieder Kaufprämien kommen. Denn das ist teuer und ändert nichts an den strukturellen Herausforderungen. Profitieren würden dann vor allem ausländische E-Auto-Hersteller und wohlhabende Käufer. Außerdem stellen sich Unternehmen nicht nachhaltig auf, wenn sie bei jedem Problem auf staatliche Hilfe hoffen können. Das schafft dann eher Probleme.
Sie sehen die Schuld folglich nicht allein bei der Ampel?
Über lange Zeit ist viel verpasst worden – leider auch in den wirtschaftlich guten Jahren der Merkel-Regierungen. Hier wurde zu viel verteilt und zu wenig in die Zukunft investiert. Die aktuelle Bundesregierung reagiert nun nicht strukturiert auf die Probleme, sondern oft als Feuerwehr. Das schafft Orientierungslosigkeit. All das fällt uns jetzt auf die Füße.
Statt kurzfristiger, schuldenfinanzierter Wahlgeschenke – besonders mit Blick auf die Rente – fordert Grimm langfristige Investitionen, etwa in die Bildung oder die Verteidigung. Auch die marode Infrastruktur in Deutschland muss dringend modernisiert werden.
Was sich die Ökonomin von einer neuen Bundesregierung wünscht? "Es braucht in Deutschland eine gemeinsame Fortschrittserzählung." Sie müsse den Mut finden, den Menschen reinen Wein einzuschenken: "Wir müssen durch ein Tal, um wieder auf den Berg zu kommen – und das Tal wird umso tiefer, je länger wir warten und uns etwas vormachen." Lesen Sie hier das ganze Interview mit Veronika Grimm.
Wir müssen uns also zunächst einmal ehrlich machen und realisieren, dass wir an der Klippe stehen. Nur so schaffen wir es auch, einen Schritt zurückzutreten.
Warnung vor dem Flächenbrand
Der Konflikt in Nahost spitzt sich zu: Bundeskanzler Olaf Scholz hat in einem Telefonat mit dem geschäftsführenden libanesischen Regierungschef Ministerpräsident Nadschib Mikati eine diplomatische Lösung des kriegerischen Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah gefordert.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte vor einer weiteren Eskalation des Konflikts. Dies sei das "Hauptrisiko", sagte er. "Die Hisbollah geht schon viel zu lange das untragbare Risiko ein, das libanesische Volk in einen Krieg zu verwickeln." Er kündigte zudem an, dass der französische Außenminister am Wochenende in den Libanon reisen werde. Aktuell bemühen sich Frankreich und die USA darum, zumindest ein zwischenzeitliches Abkommen auszuhandeln.
Ziel Israels ist es, dass Zehntausende Israelis aus dem Grenzgebiet zum Libanon wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Dafür bereitet sich Israel nach Worten des Generalstabschefs Herzi Halevi auf eine mögliche Bodenoffensive im Libanon vor.
Die nächsten Tage dürften deshalb über die Zukunft des Nahen Ostens entscheiden. Wir halten Sie in unserem Newsblog auf dem neuesten Stand.
Termine des Tages
Fast vier Wochen nach der Landtagswahl in Thüringen soll das Landesparlament in Erfurt mit der Arbeit beginnen. Dazu gehört die Wahl einer Landtagspräsidentin oder eines Landtagspräsidenten. Bisher war das meist eine eher unspektakuläre Aktion. Doch dieses Mal ist vieles unklar: Nach den Spielregeln des Landtags hat zunächst einmal die stärkste Fraktion das Vorschlagsrecht für das Präsidentenamt – das ist die AfD. Meine Kollegin Annika Leister schreibt dazu: "Die Arbeitsfähigkeit des Parlaments steht auf dem Spiel."
US-Präsident Joe Biden empfängt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Bei dem Treffen dürfte es auch um Selenskyjs Friedensplan für die Ukraine gehen. Geplant ist nach Angaben der US-Regierungszentrale auch ein separates Treffen von Selenskyj mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris, die als Kandidatin der Demokraten bei der Wahl im November antritt und Biden im Weißen Haus ablösen will.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat bei Firmen und Bürgern ein "Bürokratie-Burnout" diagnostiziert. Ein neues Gesetz soll gegensteuern. Darüber stimmt der Bundestag am Donnerstag ab. Allein für die Wirtschaft verspricht sich die Regierung Entlastungen von rund 950 Millionen Euro im Jahr.
Historisches Bild
Eine Flugzeugentführung ereignete sich 1971, der Täter entkam spektakulär. Lesen Sie hier mehr.
Lesetipps
Die politische Landschaft bebt nach den Wahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Dahinter steckt ein Trend, der an die USA erinnert. Unser US-Korrespondent Bastian Brauns über die "Trumpisierung Deutschlands".
Immer wieder gibt es Rückschläge für Wladimir Putins Armee. Doch wie schlecht ist der Zustand der russischen Armee wirklich? Mein Kollege Tobias Schibilla hat mit einem Militärexperten gesprochen.
Wer soll den verletzten Marc-André ter Stegen im Tor der deutschen Nationalmannschaft vertreten? Unser t-online-Kolumnist Stefan Effenberg wird angesichts der Forderungen nach einer Rückkehr Manuel Neuers deutlich – und verrät seinen Favoriten.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen schreibt mein Kollege Florian Harms für Sie.
Ihr Mauritius Kloft
Leitender Redakteur Nachrichten & Planung
X: @Inselkloft
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Mit Material von dpa.
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