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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Partei in Aufruhr Der große grüne Knall – und wer jetzt an die Spitze rückt
Die Grünen tauschen ihren kompletten Vorstand aus. Es soll ein sichtbares Zeichen des Neuanfangs sein – und wird noch zu Diskussionen führen.
Omid Nouripour kämpft mit den Tränen, als er den großen grünen Knall verkündet. Das Wahlergebnis vom Sonntag sei "ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade", sagt er gleich zu Beginn, als er am Vormittag neben Ricarda Lang vor einem Strauß von Mikrofonen in der Parteizentrale steht. Es sei notwendig und möglich, diese Krise zu überwinden. Es gehe "nicht um das Schicksal einer Partei", sondern "um die fundamentale Frage", ob es in Deutschland weiterhin möglich sei, gute Politik zu machen.
Womit Nouripour die größtmögliche Rampe gebaut hätte für das, was kurz zuvor schon als Eilmeldungen auf die Handys geprasselt war: "Es braucht einen Neustart." Oder wie Ricarda Lang es wenig später sagen wird: "Es braucht neue Gesichter, um diese Partei aus der Krise zu führen." Und: "Jetzt ist nicht die Zeit, um am eigenen Stuhl zu kleben."
Der sechsköpfige Bundesvorstand der Grünen tritt geschlossen zurück, zuvorderst: Lang und Nouripour, die Parteichefs. Es soll der Befreiungsschlag sein, ein für alle Welt sichtbares Zeichen: Die Grünen haben verstanden, so geht es nicht weiter. Acht Wahlen haben sie hintereinander verloren, aus fünf Landesregierungen sind sie ausgeschieden, bundesweit stehen sie nur noch bei zehn Prozent.
Es ist "ein Baustein" zur strategischen Neuaufstellung der Partei, wie Ricarda Lang sagt. Also die Voraussetzung dafür, dass sie gelingen kann, so schätzen es die Parteichefs offensichtlich selbst ein. Wie diese Neuaufstellung inhaltlich aussehen soll, darüber ist sich die Partei nicht einig. Eine wichtige Rolle werden die Nachfolger von Lang und Nouripour spielen. Die ersten Namen, die kursieren, sind dabei durchaus aufschlussreich.
Die grüne Hoffnung nach dem Knall
Wer sich am Mittwoch in der Partei umhört, der stößt vor allem auf zwei Reaktionen: Überraschung – und Respekt für die Entscheidung. Die Überraschung hat mehrere Gründe. Zum einen weisen sie jetzt in der Partei darauf hin, dass die Grünen natürlich nicht die einzige Ampelpartei mit katastrophalen Wahlergebnissen in Serie sind – aber eben bisher die einzige, die Konsequenzen zieht.
Zum anderen hatten sich Überlegungen nach der Europawahl recht schnell zerschlagen, zumindest die qua Amt für Wahlkämpfe verantwortliche Politische Bundesgeschäftsführerin Emily Büning auszutauschen. Man stehe das zusammen durch, war das eine, sehr versöhnlich-grüne Argument. Das eher pragmatische war: Würde eh nichts bringen, weil die breite Öffentlichkeit noch nie von Büning gehört habe.
Jetzt gehen alle. Neben Lang, Nouripour und Büning sind das auch der Schatzmeister Frederic Carpenter sowie die Parteivizes Pegah Edalatian und Heiko Knopf. Die Entscheidung fiel dem Vernehmen nach am Dienstagabend. Die Parteichefs Lang und Nouripour sollen mehrfach unter vier Augen gesprochen haben, ebenso gab es Gespräche mit dem gesamten sechsköpfigen Bundesvorstand, der die Geschäfte nun noch bis zum Parteitag Mitte November kommissarisch führt.
Die Hoffnung in der Partei ist nun, dass der Schritt tatsächlich der Beginn eines Befreiungsschlags sein könnte. Dass die neuen Chefs die Chance haben, mit neuen Ideen auch wieder öffentlich durchzudringen. Nur braucht es dazu eben auch neue Ideen, wie einige jetzt ebenfalls anmerken. Und da gehen die Probleme bei den Grünen weiter.
Die Realos wollen mehr Pragmatismus und Unterstützung für die grüne Regierungspolitik von Vizekanzler Robert Habeck und seinen Ministerkollegen. Der linke Flügel will eher das Gegenteil, mehr Aufbegehren gegen die Migrationskompromisse und mehr Sozialpolitik.
Jetzt könnte Franziska Brantner folgen
Die Neuen werden also vor der Aufgabe stehen, den inhaltlichen Richtungsstreit zu sortieren, in Bahnen zu lenken, zu befrieden. Ganz auflösen wird er sich ohnehin nicht lassen, es ist das Wesen von Parteien, auch kontroverse Debatten über den richtigen Weg zu führen. Aber spätestens für einen Wahlkampf versammeln sich im Idealfall alle hinter einer gemeinsamen Linie. Und die auszuhandeln, wird in der politischen Lage allein schwierig genug.
Deshalb wird bei den Grünen schon munter diskutiert, wer an die Parteispitze rücken könnte. Bislang kursieren vor allem Duos, die wie bei Lang und Nouripour aus einem Parteilinken und einem Realo bestehen. Ein Name, der in allen Gesprächen fällt und den einige als gesetzt ansehen, ist der von Franziska Brantner. Sie ist eine gut vernetzte und angesehene Vertreterin des Realo-Flügels. Gerade arbeitet sie als Parlamentarische Staatssekretärin in Habecks Wirtschaftsministerium und ist eine seiner engsten Vertrauten.
Brantner ist 45 Jahre alt, saß ab 2009 zunächst für die Grünen im Europäischen Parlament und ab 2013 im Bundestag. Sie kommt aus Baden-Württemberg und wollte schon beim letzten Mal Parteichefin werden, als es um die Nachfolge von Habeck und Annalena Baerbock ging. Damals setzten sich Nouripour und Lang durch, jetzt könnte ihre Zeit gekommen sein.
Vizekanzler Habeck jedenfalls dürfte sich für Brantner einsetzen, erwartet nun mancher in der Partei. Er wollte sie für seine Spitzenkandidatur sowieso zu seiner Wahlkampfmanagerin machen, dafür hätte sie ohnehin in die Parteizentrale wechseln müssen. Inhaltlich hätte es für ihn den Vorteil, dass mit Brantner jemand die Partei anführen würde, die er von seinem Kurs nicht erst überzeugen müsste.
Wer wird es aus dem linken Flügel?
Im linken Parteiflügel ist die Personallage noch deutlich diffuser, was auch daran liegt, dass es dort an der Spitze in den vergangenen Jahren personell dünn geworden ist und viele Talente noch recht jung sind, vielleicht zu jung, um ganz nach vorn zu rücken. Es kursieren bisher mehrere Namen.
Zwei Namen, die häufig fallen, sind die von Felix Banaszak und Andreas Audretsch. Banaszak, 34 Jahre alt, sitzt seit 2021 für die Grünen im Bundestag. Vor allem aber war er von 2018 bis 2022 Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Einem Bundesland, das den Grünen einen der letzten großen Wahlsiege vor der Negativserie beschert hatte.
Bei der Landtagswahl im Mai 2022 landeten die Grünen in NRW bei 18,2 Prozent, mit einem gewaltigen Plus von 11,8 Prozentpunkten. Seitdem regieren die Grünen dort recht erfolgreich mit der CDU zusammen. Eine Erfahrung, die im Parteivorstand nützlich sein könnte, denn Schwarz-Grün ist für die Grünen derzeit auch im Bund eine der wenigen realistischen Regierungsoptionen.
Audretsch, 40 Jahre alt, sitzt seit 2021 für Berlin-Neukölln im Bundestag. Er war dort vorher viele Jahre vor allem lokalpolitisch aktiv, auch als Bezirksvorstand und Mitglied im Landesvorstand. Im Bundestag ist er nun einer der sichtbarsten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. In der Vergangenheit war es oft er, der vor die Kameras getreten ist, als es brenzlig wurde für die Grünen.
Von manchen auch genannt wird Madeleine Henfling. Sie war die grüne Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Thüringen. Sie wird dort hoch gelobt, hat mit den Grünen aber den Einzug in den Landtag verpasst. Mancher nennt auch Habecks Staatssekretär Sven Giegold, den Queer-Beauftragten Sven Lehmann oder den früheren Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter als mögliche Optionen.
Habeck will offene Debatte
Klar ist: Mit einem neuen Parteivorstand ist die Neuaufstellung, das grüne Personalpuzzle nicht abgeschlossen. Vizekanzler Robert Habeck kündigte am Mittwoch an, auf dem Parteitag Mitte November auch über die Spitzen- oder Kanzlerkandidatur der Grünen zur Bundestagswahl diskutieren zu wollen.
"Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl", ließ sich Habeck zitieren. Der Parteitag werde jetzt der Ort werden, "wo sich die Grünen neu sortieren und neu aufstellen werden, um dann mit neuer Kraft die Aufholjagd zur Bundestagswahl zu beginnen".
Der große grüne Knall – er ist für die Partei nicht mehr als ein Startschuss.
- Eigene Recherchen und Beobachtungen