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Ukraine-Krieg: Rückschläge für Putin – die Probleme von Russlands Armee


Zustand der russischen Armee
"Das setzt die Ukraine enorm unter Druck"


25.09.2024 - 09:07 UhrLesedauer: 5 Min.
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Ein russischer Soldat in der Region Kursk: Neben veralteter Ausrüstung kämpft Russlands Armee auch mit internen Problemen.Vergrößern des Bildes
Ein russischer Soldat in der Region Kursk: Außer mit veralteter Ausrüstung kämpft Russlands Armee auch mit internen Problemen. (Quelle: IMAGO/Sergey Bobylev)

Immer wieder gibt es Rückschläge für Wladimir Putins Armee. Doch wie schlecht ist der Zustand der russischen Armee wirklich?

Am Montagabend machte eine Meldung die Runde in deutschen und internationalen Medien: Ukrainische Truppen sind an einer weiteren Stelle der Region Kursk auf russischen Boden vorgedrungen. Sie konnten die Grenzposten der russischen Streitkräfte umgehen und geringe Bodengewinne machen.

Ob die neuerliche Attacke gegen die Region Kursk nur ein kleiner Nadelstich oder der Beginn einer größeren Offensive ist, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Unabhängig davon wirft der Angriff zentrale Fragen auf: kann die russische Armee die eigenen Grenzen verteidigen? Und in welchem Zustand befinden sich die Streitkräfte des Kremls überhaupt?

Schon in der Sowjetunion war gute Ausrüstung zweitrangig

Antworten darauf hat Rafael Loss. Der Experte für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik arbeitet am European Council on Foreign Relations und beschäftigt sich schon lange mit der russischen Armee. "Die Qualität der russischen Streitkräfte ist traditionell nicht besonders hoch", erklärt Loss im Gespräch mit t-online.

Eine neue Entwicklung sei das allerdings nicht. Schon in der Sowjetunion habe die Militärführung geringen Wert auf gute Ausrüstung, Verpflegung und Unterbringung der Soldaten gelegt, sagt Loss. "Der Wert liegt in der Masse, nicht in der Klasse", führt der Experte weiter aus. Das schreibt auch das russische Exil-Magazin "Meduza". In einem Bericht aus dem Mai zitiert das Nachrichtenportal einen Insider aus dem russischen Verteidigungsministerium, laut dem die Ausrüstung der Soldaten "verrottet" sei.

Doch nicht nur das Material ist ein Problem. Auch die russischen Soldaten seien nicht adäquat für den Kriegseinsatz ausgebildet, erklärt Rafael Loss. Vor dem Überfall auf die Ukraine habe die russische Armee zu etwa 80 Prozent aus Wehrdienstleistenden bestanden. Diese Menschen seien allerdings nur wenige Jahre bei der Armee, "weshalb sie nicht in die Details der komplexen Militärsysteme einsteigen können", so Loss.

Experte: "In Russlands Armee herrscht ein System der Gewalt"

Und noch ein Problem macht der Experte aus: Innerhalb der Armee existiert ein streng hierarchisches System der Gewalt. Dem sind vor allem Wehrdienstleistende schonungslos ausgesetzt. In einem Artikel im Fachmagazin "Foreign Policy" heißt es, dass diese Gewalt gegen die eigenen Leute – auf Russisch "dedowschtschina" – bereits seit sowjetischen Zeiten eingesetzt werde. Das traumatisiere die Soldaten – und bringe ihnen bei, den von ihnen erlebten Schmerz auf den Feind zu übertragen.

Dedowschtschina funktioniere auch deshalb so effektiv, weil es kaum professionelle Menschenführung innerhalb der russischen Armee gebe, erklärt Rafael Loss. "Frisch eingezogene Wehrdienstleistende werden mit Soldaten zusammengewürfelt, die bereits in der zweiten Hälfte ihrer Grundausbildung sind." Das kreiere ein Machtgefälle, dessen Resultat hohe Raten an "Erpressung, Misshandlung, Mobbing, Selbstverletzung und sexualisierter Gewalt" seien.

Dieses Machtgefälle resultierte zumindest vor dem russischen Überfall auf die Ukraine in enorm hohen Suizidraten in der russischen Armee. "Vor dem Krieg gingen unabhängige NGOs davon aus, dass 44 Prozent aller Tode in den Streitkräften auf Selbsttötung zurückzuführen waren", erklärt Loss.

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Interne Gewalt betrifft Frontsoldaten kaum

Die schlechte Behandlung der eigenen Leute scheint auch Kommandanten zu belasten. Einem Bericht des US-amerikanischen Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) zufolge soll sich kürzlich der Leiter der 678. Kommunikationseinheit der russischen Luftstreitkräfte in einem Vorort von Moskau selbst getötet haben. Zuvor soll er sich mit seinen Vorgesetzten wegen der schlechten Behandlung seiner Untergebenen überworfen haben.

Loss erklärt, die Gewalt unter den Wehrdienstleistenden betreffe die Soldaten an der Front in der Ukraine allerdings nur bedingt. "Putin ist nicht daran gelegen, Wehrdienstleistende in die Kriegsmaschinerie zu werfen, weil das für ihn zu einem innenpolitischen Problem werden könnte", meint der Experte. "Die Drohnenaufnahmen von russischen Soldaten, die sich das Gewehr in den Mund stecken und abdrücken, sind nicht gleichzusetzen mit der strukturellen Gewalterfahrung von Wehrdienstleistenden in der Grundausbildung". Allerdings fehle hinsichtlich der Suizidrate von Soldaten in der Ukraine eine gesicherte Datenlage.

Andere strukturelle Probleme gebe es allerdings auch bei den Soldaten, die im Krieg eingesetzt werden. "Es gibt viele Berichte über Einsatzzeiten, die über die vertraglich vereinbarten Zeiten hinausreichen. Die Verpflegung ist mangelhaft, ebenso wie manche Unterbringungen, das Material oder die medizinische Versorgung", sagt Rafael Loss. Viele Soldaten würden verwundet oder fallen in der Ukraine. Das schlage sich negativ auf die Moral nieder, so der Experte.

Krieg schafft gesellschaftliche Probleme

Aus dem Angriff auf die Ukraine erwachse mittelfristig ein gesellschaftliches Problem für Russland, erklärt Loss weiter. Denn für Veteranen gebe es weder eine gut organisierte gesundheitliche noch psychische Versorgung. "Wenn dann Menschen mit traumatischen Erfahrungen und ohne psychotherapeutische Begleitung zurück in die Heimat kommen, führt das dazu, dass Gereiztheit, der Hang zur Gewalt oder gar Gewaltausbrüche regelmäßig auftreten." Schon jetzt gibt es Berichte aus Russland über Veteranen, die nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg Morde begehen oder Menschen vergewaltigen – und damit genau dort weitermachen, wo sie zuvor in der Ukraine aufgehört haben.

So berichtete "Bloomberg" im Juni 2024, die Gewaltverbrechen unter aus der Ukraine zurückgekehrten Veteranen habe um 20 Prozent zugenommen. Da ist zum Beispiel der Fall des Soldaten Alexander Mamaew, über den die Deutsche Welle im Juni 2024 berichtete. Er kam aus dem Krieg und erstach im Alkoholrausch seine Frau vor den Augen der gemeinsamen Kinder.

Im Mai 2024 kam es in der Stadt Tscheljabinsk zu einer Schlägerei zwischen aus dem Krieg zurückgekehrten Söldnern der ehemaligen Gruppe Wagner. 55 Morde sollen Ukraine-Veteranen bisher in Russland begangen haben, berichtet das russische unabhängige Nachrichtenportal "Verstka". 190 Gewaltverbrechen sollen es insgesamt sein.

Ob sich daraus ein politischer Handlungsdruck für Wladimir Putin entwickle, der nicht mehr durch militärische Mobilisierung oder patriotische Erzählungen abzufedern ist, sei allerdings noch nicht abzusehen, fügt Loss hinzu.

Die russische Militärführung steht außerdem vor einem weiteren Problem: Ukrainische Truppen sind an einer zweiten Stelle in die Region Kursk vorgedrungen. Das berichtet das ukrainische Verteidigungsministerium, verschiedene Analysten bestätigen die Berichte auf dem Kurznachrichtendienst X.

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"Es ist ganz offensichtlich, dass die russischen Streitkräfte ihre eigene Grenze nicht effektiv schützen", meint Rafael Loss dazu. "Ob sie das materiell, personell, strukturell nicht können oder die politische Priorisierung einfach nicht vorhanden ist, sei dahingestellt."

Experte: "Die Priorität liegt auf dem Donbass"

Große Probleme scheinen für Putin allerdings nicht aus dem neuen Einmarsch in die russische Grenzregion zu entstehen, sagt der Experte. "Wenn das tatsächlich ein Problem wäre, dann hätten sie russischen Streitkräfte mit Sicherheit versucht, energischer auf den Vorstoß zu reagieren."

Die Priorität der russischen Truppen liege nach wie vor im Donbass. "Die russischen Vorstöße dort setzen die Ukraine enorm unter Druck", so Loss. Mit ihrem ersten großen Angriff auf Kursk habe die Ukraine gehofft, den Schwung der russischen Donbass-Offensive zu bremsen. Deshalb sei es Putin nicht so wichtig, die ukrainischen Streitkräfte vom russischen Territorium zu verdrängen. "Es würde mich nicht überraschen, wenn wir auch in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder Grenzübertritte der ukrainischen Streitkräfte nach Russland sähen", schließt Rafael Loss.

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