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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Berlins Bürgermeister Kai Wegner "Hier geht langsam das Licht aus"
Seit 15 Monaten ist Kai Wegner der Regierende Bürgermeister Berlins. Im Interview spricht er über die Probleme der Hauptstadt, das Streitthema Schuldenbremse und schlaflose Nächte.
Vom Außenseiter zum Bürgermeister – so könnte der Slogan von Kai Wegner lauten. Der 51-Jährige ist der erste CDU-Politiker nach knapp einem Vierteljahrhundert, der es ins Berliner Rote Rathaus geschafft hat. Seit 15 Monaten leitet er nun als Regierender Bürgermeister die Geschicke der Hauptstadt.
Als "Regierender Teflonmeister" wurde er von einem Berliner Medium einmal bezeichnet. Weil an ihm alles abperle. Aber ist das wirklich so? Ein guter Zeitpunkt dafür, ihn selbst danach zu fragen. Wir empfangen Wegner in unserer Redaktion. Der Regierende Bürgermeister gibt sich nahbar. Und hat gleichzeitig klare Vorstellungen davon, was in der Stadt schlecht läuft. Und das ist so einiges. Reden wir darüber.
t-online: Herr Wegner, Verkehrsstau, Multikulti oder Berliner Schnauze – was ist für Sie typisch Berlin?
Kai Wegner: Ein rauer Ton, der aber immer herzlich ist. Die Berliner sind weltoffen und sehr tolerant. Sie haben eine klare Haltung und meckern ganz gerne mal. Aber sie lieben ihre Stadt.
Die Schüler in Berlin haben nun Zeugnisse bekommen. Welche Schulnote würden Sie sich selbst für Ihre bisherige Amtszeit geben?
Das sollten andere machen. Mir ist eine andere Frage viel wichtiger: Kann ich morgens in den Spiegel schauen und mir sicher sein, dass ich jeden Tag versuche, das Bestmögliche für diese Stadt herauszuholen?
Und wie lautet da Ihre Antwort?
Ich kann Ihnen versichern, dass ich seit 15 Monaten jeden Morgen sehr gut in den Spiegel schauen kann. Ich wünsche mir manchmal, dass einiges schneller geht. Aber wir haben es geschafft, nach Jahren des öffentlichen Streits im Senat wieder Ruhe in die Stadtpolitik zu bringen. Die Zusammenarbeit läuft sehr viel besser als unter Rot-Grün-Rot.
Ich kann Ihnen versichern, dass ich seit 15 Monaten jeden Morgen sehr gut in den Spiegel schauen kann.
Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin
Die Berliner CDU steht in den Umfragen derzeit bei knapp 26 Prozent. Wären Sie damit bei den Wahlen 2026 zufrieden?
Mein Anspruch ist es, dass Berlin jeden Tag ein Stück besser funktioniert. Ich möchte die Berlinerinnen und Berliner auf diesem Weg mitnehmen. Ich will ein guter Regierender Bürgermeister für alle Menschen in Berlin sein, auch über 2026 hinaus. Ich will unsere wunderbare Stadt Berlin nach vorn bringen. Nach den ersten 15 Monaten im Amt kann ich sagen: Mir macht die Arbeit für Berlin Spaß – auch in herausfordernden Zeiten.
Würden Sie dafür auch mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht koalieren?
Wir müssen sehen, wie sich das BSW inhaltlich und personell entwickelt. Ich weiß bislang nicht, wofür diese Partei überhaupt steht. Aber klar ist auch: Wir werden drei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben, nach denen sich die Frage stellen könnte, wie man eine Regierungsverantwortung der AfD verhindern kann. Deshalb müssen alle demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit bereit sein.
Sie haben versprochen, dass Berliner bald innerhalb von 14 Tagen einen Termin beim Bürgeramt bekommen können. Davon sind wir weit entfernt.
Ja, das ist noch so.
Sie haben also zu viel versprochen.
Wir haben das 14-Tage-Ziel noch nicht bis Ende 2023 erreichen können. Doch richtig gut sind wir erst, wenn die Menschen gar nicht mehr aufs Bürgeramt müssen. Das, was sie brauchen, sollten sie bequem online von der Couch zu Hause erledigen können. Natürlich werden wir auch die Bürgerämter weiterhin brauchen, denn nicht alle Menschen sind digital unterwegs. Manche möchten die Beratung vor Ort. Ich habe mich oft gefragt, woran es denn eigentlich hapert. Und ich glaube, das Hauptproblem ausgemacht zu haben.
Nämlich?
Beim Terminbuchungssystem scheint vieles im Argen zu liegen. Man kann sich beliebig oft einbuchen – und blockiert dann mehrere freie Slots. Deshalb finden viele Termine gar nicht statt, während gleichzeitig viele Menschen warten müssen. Wir müssen das Terminbuchungssystem ändern.
Meine Erfahrung lautet: Will man ein schlechtes Gesetz verbessern, verschlimmbessert man es meistens.
KAI WEGNER, REGIERENDER BÜRGERMEISTER VON BERLIN
Was braucht es noch?
Mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bürgerämtern. Etwa 100 haben wir schon eingestellt. Unser Ziel ist es, in diesem und im nächsten Jahr jeweils zwei neue Bürgerämter zu eröffnen. Und wir brauchen mehr digitale Angebote. Wir bieten schon jetzt rund 300 digitale Dienstleistungen an. Das Problem ist, dass viele digitale Dienstleistungen nicht genutzt werden. Weil viele Berliner gar nicht wissen, dass es diese Angebote überhaupt gibt. Aber wir arbeiten dran.
Aber die gibt es ja nicht erst seit gestern.
Auch ich wusste vor meiner Zeit als Regierender Bürgermeister nicht, dass es schon so viele digitale Dienstleistungen in Berlin gibt. Ich habe mich dann gefragt, warum ich während des Wahlkampfes mit meiner Kritik nicht in die Schranken gewiesen wurde. Antwort: Weil es offenbar auch der Vorgängersenat nicht wusste. Er wusste es nicht, ich wusste es nicht, wie sollen es da die Bürger wissen? Jetzt werden wir die digitalen Dienstleistungen bekannter machen.
- Behördenchaos in Berlin: Dieses leere Versprechen war ein Fehler
Ein Grund für das Behördenchaos in Berlin ist die weitgehende Autonomie der Bezirke. Sie wollen nun zentrale Aufgaben selbst in die Hand nehmen und zentral bündeln. Wie soll das gehen?
Wir wollen die Zuständigkeiten zwischen Senat und Bezirken klar regeln. Und wir sind hier auf einem guten Weg. Mein Ziel ist eine Änderung der Landesverfassung. Ich will das sogenannte "Allgemeine Zuständigkeitsgesetz" komplett abschaffen und durch ein neues Gesetz ersetzen.
Warum direkt abschaffen?
Meine Erfahrung lautet: Will man ein schlechtes Gesetz verbessern, verschlimmbessert man es meistens. Wir ersetzen es daher komplett durch ein neues Verwaltungsstrukturgesetz. Dabei setzen wir auf klare Verantwortlichkeiten. Das wird uns dabei helfen, dass Berlin besser funktioniert.
Ein großes Problem ist die Wohnungsnot: Wie würden Sie momentan vorgehen, wenn Sie mit einer fünfköpfigen Familie und einem Gesamteinkommen von 4.000 Euro netto in Berlin eine Wohnung finden müssten?
Dann hätte ich ein großes Problem. Genau diese Bevölkerungsgruppe findet keine Wohnungen in der Stadt. Und genau um sie kümmern wir uns jetzt. Auf einem gesunden Wohnungsmarkt gibt es eine Leerstandsquote von drei bis fünf Prozent. In Berlin liegt die Quote bei 0,3 bis 0,5 Prozent. Das bedeutet: Wir haben de facto keine freien Wohnungen.
Sie wollen pro Jahr 20.000 neue Wohnungen bauen. Auch dabei hinken Sie aber hinterher. Verstehen Sie, dass viele Bürger sauer sind?
Mir war völlig klar, dass wir das Ziel von 20.000 Wohnungen nicht gleich erreichen werden. Wir hätten es uns als Koalition leicht machen und die Zahl nach unten korrigieren können. Aber der Bedarf liegt bei 20.000 Wohnungen. Daher bleiben wir bei dieser Zielmarke, die wir bis zum Ende der Legislaturperiode erreichen wollen. Diese Landesregierung will neue Wohnungen bauen – für alle Berlinerinnen und Berliner und für die Menschen, die nach Berlin kommen wollen.
Auch auf dem Tempelhofer Feld?
Wir müssen die Potenziale in Berlin nutzen. Und das Tempelhofer Feld hat sehr viel Potenzial.
Es gab vor zehn Jahren einen Volksentscheid, der eine Randbebauung abgelehnt hat.
Der Volksentscheid fand – wie Sie sagen – eben vor zehn Jahren statt. Die Stimmung in der Stadt hat sich seitdem verändert. Sämtliche Umfragen zeigen nun eine Mehrheit für die Randbebauung des Tempelhofer Felds. Wir werden deshalb ein klares Konzept entwickeln und die Berliner Bevölkerung dann noch einmal befragen. Ich bin zuversichtlich, dass es eine klare Mehrheit für die Randbebauung geben wird. Wir wollen ja nicht die große Fläche bebauen, sondern es geht um Wohnungen am Rand des Felds.
Ich möchte die Schuldenbremse nicht abschaffen. Aber wir müssen die Schuldenbremse reformieren.
KAI WEGNER, REGIERENDER BÜRGERMEISTER VON BERLIN
Berlin ist knapp bei Kasse. Im Jahr 2025 müssen drei Milliarden Euro vom Haushalt eingespart werden.
Wir stehen hier vor einer großen Aufgabe. In den vergangenen Jahren sind die Ausgaben, auch wegen der Corona-Pandemie, massiv gestiegen. Nun müssen wir den Haushalt mit einem Rekordvolumen von 40 Milliarden Euro wieder auf ein gesundes Niveau zurückführen. Wir möchten Berlin zukunftssicher aufstellen, deshalb müssen wir uns die Ausgaben in allen Ressorts nun genau ansehen und Prioritäten setzen. Drei Milliarden Euro sind nicht einfach wegzusparen. Wenn man eine solche Summe kürzen muss, werden das die Berliner Bürger spüren. Aber jetzt geht es darum, Politik zu gestalten. Wir werden uns auch von manchen Sachen trennen müssen.
Wovon konkret?
Es gibt keine Heiligtümer. Wir werden uns große Ausgabenblöcke ansehen – etwa auch das 29-Euro-Ticket. Insbesondere, weil dieses Angebot nicht so viele Bürger in Anspruch nehmen wie prognostiziert.
Das wird nicht reichen, um drei Milliarden einzusparen.
Wir müssen auch über das kostenfreie Schulessen sprechen. Mein Ansatz ist: Breite Schultern können mehr tragen als schmale Schultern. Wir sollten deshalb Familien mit niedrigem Einkommen weiter unterstützen, Familien mit höherem Einkommen können für das Schulessen bezahlen. Das ist für mich auch soziale Gerechtigkeit.
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Die Schuldenbremse war das große Streitthema beim Bundeshaushalt. Für die Bundes-CDU war sie essenziell. Für die Berliner CDU auch?
Deutschland steckt momentan in einer Stagnation. Um uns herum überholen uns viele Länder wirtschaftlich. Warum? Weil diese Länder in die Infrastruktur investieren. Ein anderes Beispiel: Wir brauchen deutlich mehr Geld, um verteidigungsfähig zu werden. Der Bundeskanzler hat für die Bundeswehr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ausgerufen. Ich sage Ihnen: 100 Milliarden Euro reichen dafür niemals aus.
Also fordern Sie was?
Ich möchte die Schuldenbremse nicht abschaffen. Aber wir müssen die Schuldenbremse reformieren. Wir brauchen dringend Zukunftsinvestitionen – in die Infrastruktur wie Brücken, Verkehrswege, aber auch in Universitäten oder die soziale Infrastruktur.
Wie stellen Sie sich die Modernisierung der Schuldenbremse vor?
Man kann beispielsweise einen Investitionsbedarf von Summe X festlegen, den man über ein Sondervermögen finanziert. Das Sondervermögen darf nicht an Jährlichkeit gebunden sein, so schnell fließen Investitionssummen nicht ab. Es muss rechtssicher sein und vor dem Bundesverfassungsgericht standhalten.
Reden wir dabei nur vom Bund oder auch über die Länder?
Auch die Länder müssen die Möglichkeit für Sondervermögen bekommen. Der Bund macht derzeit immer mehr Versprechen und erlegt damit den Ländern immer mehr Kosten auf. Ich finde es schon alarmierend, wenn alle 16 Bundesländer sagen, dass es so nicht weitergeht. Die Situation der Länder ist dramatisch. In allen Ländern und Kommunen geht langsam das Licht aus.
Empfinden Sie die politische Verantwortung als Last?
Ich empfinde eine unglaublich große Verantwortung für 3,9 Millionen Menschen in Berlin. Aber ich wusste vorher, dass da eine große Herausforderung auf mich wartet.
Und spüren Sie auch Druck?
Natürlich spüre ich den. Und ja, er ist enorm.
Hatten Sie deshalb schon schlaflose Nächte?
Ich brauche generell nicht viel Schlaf und komme mit fünf bis sechs Stunden gut aus. Aber es gab in den vergangenen 15 Monaten Nächte, in denen ich schlecht geschlafen habe. Insbesondere nach dem 7. Oktober 2023, als ich fürchten musste, dass nachts etwas passiert: eine brennende Synagoge, ein verletzter Polizist oder Schlimmeres. Da bin ich in der Nacht aufgewacht und konnte oft nicht mehr einschlafen, weil ich mir große Sorgen gemacht habe.
Wir haben hier leider einige Stadtteile, wo man abends Sorge haben muss.
KAI WEGNER, REGIERENDER BÜRGERMEISTER VON BERLIN
Berlin hat in dieser Zeit nicht immer das beste Bild abgegeben. Unter anderem wurden Symbole der Hamas auf Gebäudewände geschmiert, Hörsäle in Universitäten besetzt, Davidsterne an Wohnhäuser gepinselt, in denen Juden leben.
Mich ärgern solche Bilder wahnsinnig. Terrorsymbole der Hamas auf Gebäuden oder besetzte Hörsäle sind beschämend – und das werden wir auch nicht dulden. Wenn jüdische Studenten Angst haben, in die Uni zu gehen, dann müssen wir eingreifen. So etwas darf nach der Nazizeit nie wieder in dieser Stadt passieren.
Wie kann es besser werden?
Es gibt einige Leute, die immer wieder Hass und Gewalt auf die Straßen bringen. Aber mit Blick auf das mögliche Konfliktpotenzial in Berlin sind wir einigermaßen glimpflich durch diese Zeit gekommen. Berlin stand und steht für Zusammenhalt, Vielfalt und Freiheit. Ich will dafür sorgen, dass das in Zukunft auch so bleibt. Auch mit einer starken Polizei in Berlin, die konsequent gegen Hass und Hetze vorgeht.
Auch auf den Universitäts-Campus der Stadt?
Ich werde niemals eine Situation dulden, wie wir sie in den USA erleben. Ich habe kein Problem damit, wenn Studenten ihre Meinung kundtun. Und ich bin der Letzte, der gegen den Dialog ist. Wer sich aber in einem Uni-Hörsaal verbarrikadiert, der will doch gar keinen Dialog führen. Ich sage ganz deutlich: Es waren Straftaten, die an der Humboldt-Universität stattgefunden haben. Das konnte ich nicht dulden. Daher war es mir wichtig, dass die Hochschulleitung wieder für Ordnung gesorgt hat.
TU-Präsidentin Geraldine Rauch stand unter massivem Druck, nachdem sie israelfeindliche Posts auf X geliked hatte. Hätte Sie zurücktreten müssen?
Das kann ein Regierender Bürgermeister nicht entscheiden.
Aber Sie haben bestimmt eine Meinung dazu.
Was an der Technischen Universität passiert ist, hat Berlin sehr geschadet. Die TU hat an ihrem guten Ruf enorm eingebüßt. Es ist einiges zu tun, um sich diesen guten Ruf wieder zu erarbeiten.
Der Fußballer Toni Kroos hat kürzlich in einem Podcast gesagt, er würde seine 14-jährige Tochter nachts lieber in Spanien als in Deutschland auf die Straße lassen. Sie haben drei Kinder. Können Sie die Sorge nachvollziehen?
So geht es vielen Vätern. Gerade wenn die Tochter abends losgehen will, hat man als Vater ein komisches Gefühl. Das hätte ich in Madrid genauso wie in Berlin. Ich weiß aber, dass viele Eltern in Berlin sich sorgen, ob ihre Kinder abends sicher nach Hause kommen. Ich möchte, dass junge Menschen abends in Berlin das Leben genießen und fröhlich sein können. Wir haben hier leider einige Stadtteile, wo man abends Sorge haben muss. Aber diese Entwicklung wollen und werden wir mit einer konsequent agierenden Polizei durchbrechen.
Herr Wegner, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Kai Wegner