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Migration und Abschiebungen: Bundesregierung mit Abschreckungsplan


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Tagesanbruch
Das könnte vieles verändern

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 20.06.2024Lesedauer: 6 Min.
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): Er drückt sich bei einem wichtigen Thema vor einer klaren Antwort. (Quelle: IMAGO/Presidenza Del Consiglio/G7 Ital/imago)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es gibt kein anderes Thema, das Deutschland derzeit so sehr umtreibt wie die Migration.

In Potsdam diskutieren die Innenminister dieser Tage über Abschiebungen nach Afghanistan oder die Frage, ob neu angekommenen Ukrainern das Bürgergeld gestrichen werden soll. Und in Berlin trifft sich der Kanzler heute mit den 16 Länderchefs. Auf der Tagesordnung steht auch ein seit Monaten ersehnter Prüfbericht aus dem Innenministerium zu einer Idee, die vieles ändern könnte.

Das Zauberwort heißt Drittstaatenregelung. Es geht dabei um ein Konzept, das die Weichen in der Migrationspolitik ganz neu stellen soll. Im Prinzip geht es so: Asylbewerber sollen aus Deutschland in ein Land außerhalb der EU gebracht werden, dort ihren Antrag stellen und auf Abschluss ihres Verfahrens warten. Befürworter hoffen, Probleme so ins Ausland verlagern sowie Asylbewerber abschrecken zu können – und die Zahl von Neuankömmlingen so zu senken.

Problem: Der große Abschreckungsplan ist in der Politik, unter Juristen und Migrationsexperten hart umstritten. Simple Heilsversprechen sind deswegen ebenso skeptisch zu betrachten wie Komplett-Blockaden. Mit Sicherheit lässt sich bisher viererlei sagen: Es ist nicht unmöglich – doch es würde sehr schwierig, es würde lange dauern, es würde extrem teuer.

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Warum?

1. Die Bundesregierung ist uneins

Die Ampel ist bei dem Thema wie so oft zerstritten. Während die FDP eine Drittstaatenregelung befürwortet, sieht die SPD sie skeptisch – und die Grünen lehnen sie ab. Die wackelige Dreierkoalition, der mancher Beobachter bereits ein vorzeitiges Ende prognostiziert, meidet deswegen bisher eine Festlegung; bei Pressekonferenzen windet sich der Kanzler. Bloß keine weiteren heißen Kartoffeln, bitte.

Experten blicken deswegen skeptisch auf die sieben Monate, die das SPD-geführte Bundesinnenministerium gebraucht hat, um einen Bericht zu erarbeiten, der wenig konkrete Antworten liefert und keine potenziellen Zielländer benennt. Ist das am Ende nur eine Verzögerungstaktik?

Die Union peitscht das Thema unterdessen voran, hat mit Ruanda sogar schon einem möglichen Partnerland einen Besuch abgestattet. Alternativ könne man auch über Albanien nachdenken, heißt es dort mittlerweile. Und klar, alles immer medienwirksam, mit Kameras im Schlepptau. Beim Bund-Länder-Treffen dürften ihre Ministerpräsidenten heute weiter Druck machen. Die Erwartung ist klar: Wenn die Bundesregierung sich quer stellt, müsse eine Alternative vorgelegt werden. Im Bundestag wollen CDU und CSU zudem bald über das Thema abstimmen lassen.

Scholz‘ Zurückhaltung dürfte deswegen wohl bald ein Ende haben. Zwangsweise.

2. Bisher beispiellos

Eine funktionierende Drittstaatenregelung gab es in Europa in der Praxis noch nie. Zwei Konzepte stehen in der öffentlichen Diskussion wie auch in der Prüfung des Innenministeriums im Vordergrund: das "Großbritannien-Ruanda"- und das "Italien-Albanien"-Modell.

Modell 1: Die britische Regierung will Flüchtlinge und die mit ihnen verbundenen Probleme von der Insel komplett nach Ruanda abschieben. Zuständig für ihre Asylverfahren sollen ruandische Behörden sein, Asyl soll nach ruandischem Recht erteilt werden und anerkannte Asylbewerber sollen im Anschluss in Ruanda bleiben.

Modell 2: Italien will Flüchtlinge, die auf hoher See aufgegriffen werden, in Zukunft nach Albanien bringen. Dort sollen für ihre Asylverfahren dann italienische Behörden und Gerichte zuständig sein. Wer Asyl erhält, soll nach Italien dürfen.

Beide Konzepte existieren bisher nur auf dem Papier und sind auf Deutschland nicht einfach übertragbar. Denn Großbritannien unterliegt nicht mehr der recht strengen EU-Gesetzgebung; Italien vermeidet sie, indem es nur Asylbewerber ins Visier nimmt, die noch nicht italienischen Boden betreten haben.

Selbst mit weiteren Prüfungen und Gutachten: Das Risiko zu scheitern, bleibt für Deutschland hoch.

3. Die Bedenken sind groß

Die rechtlichen und ethischen Bedenken sind groß, die Zweifel an der Wirksamkeit noch größer. Den ursprünglichen Plan Großbritanniens erklärten fünf Richter des Obersten Gerichtshofs in London einstimmig für rechtswidrig – sie sahen die große Gefahr von Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen in Ruanda. Noch keine einzige Abschiebung hat es seither gegeben.

Hinzu kommen der hohe Aufwand und die Kosten: Dem britischen Rechnungshof zufolge würde es in der Anfangsphase umgerechnet zwei Millionen Euro kosten, um nur einen einzigen Menschen nach Ruanda zu bringen und sein Asylverfahren dort zu verhandeln. Das ist ein Vielfaches mehr, als es kostet, Asylbewerber in Deutschland unterzubringen.

4. Spiel mit dem Feuer – und ein einfacher Ausweg

Sowohl die Regierung als auch die Union spielen gerade mit dem Feuer. Die Ampelkoalition riskiert, durch ihr Zögern und ihre Zerstrittenheit noch weiter abgestraft zu werden. Die Union hingegen manövriert sich mit der Konzentration auf das Thema in eine Sackgasse.

Denn sollte die Union ab 2025 wieder regieren, bliebe ihr wohl nichts anderes übrig, als ihre vollmundigen Forderungen auch umzusetzen. Sie könnte dann jedoch einen Koalitionspartner an ihrer Seite haben, der sie blockiert – oder schlicht an Gesetzen und Gegebenheiten scheitern.

Wie so oft beim Thema Migration könnten dann am Ende die Populisten links wie rechts der Mitte profitieren. Wohlgemerkt ohne, dass sie derzeit auch nur ansatzweise rechtlich umsetzbare und tragfähige Konzepte in der Migrationsfrage zu bieten hätten.

Eine pragmatische Lösung für die Zwickmühle bietet sich an: Die Union sollte den Fuß vom Gas nehmen, die Ampel sich für die Drittstaatenlösung öffnen. Sie könnte die Vorreiter Italien und Großbritannien machen lassen und sich schon jetzt eng mit ihnen vernetzen. Aus ihren Fehlern könnte sie wie auch nachfolgende Regierungskoalitionen lernen, die Risiken so noch besser abwägen. Und währenddessen volle Kraft und alle Ressourcen darauf verwenden, die Probleme im eigenen Land zu lösen.


Dreyer geht, Schweitzer kommt

Elf Jahre lang regierte Malu Dreyer Rheinland-Pfalz – und hat sich in dieser Zeit einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Am Dienstag aber hat die SPD-Politikerin ihren Rückzug verkündet. "Ich bin einfach nur müde, nicht amtsmüde", erklärte die 63-Jährige, die an Multipler Sklerose leidet, den Schritt.

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Nun soll es schnell gehen: Schon am 10. Juli soll der bisherige Arbeits- und Sozialminister Alexander Schweitzer zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Der 50-Jährige ist in der SPD bestens vernetzt. Genügend Zeit soll er so haben, um sich einen Amtsbonus zu erarbeiten, bevor 2025 die Bundestags- und 2026 die Landtagswahl anstehen.

Warum Dreyers Abgang für die SPD gerade jetzt ein herber Schlag ist, erklärt Christoph Schwennicke hier. Und warum die Wahl auf Schweitzer fiel, erklärt mein Kollege Daniel Mützel hier.


Deutschland steht im Achtelfinale

Deutschland im Freudentaumel: Nach dem 5:1-Torfest gegen Schottland hat die Nationalmannschaft am Mittwochabend ihren zweiten Sieg geholt und frühzeitig ihr Ticket für das Achtelfinale der EM gelöst. Beim 2:0 gegen Angstgegner Ungarn traf erst Jamal Musiala (22. Minute), dann Kapitän İlkay Gündoğan (67.).

Wer sonst in guter Form war, wer schwächelte? Das erfahren Sie hier in der Einzelkritik von meinem Kollegen Noah Platschko, der das Spiel im Stadion verfolgte.

Das nächste Spiel steht für das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann am Sonntag ab 21 Uhr an – in Frankfurt geht es gegen die Schweiz dann um den Gruppensieg. Die Fans aber sind ohnehin schon sehr viel weiter, in Stuttgart sehnten sie bereits das Finale herbei und skandierten: "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!"

Die Leistung der deutschen Mannschaft versetzt nicht nur Millionen Fußballfans in Ekstase, sie lässt gerade auch die Rassisten verstummen, die ihr vorwerfen, nicht weiß genug zu sein. Warum Solidarität und Respekt angesichts von Siegen aber nicht genügt und ein Turnier wie die EM auch seine Schattenseiten hat, hat Kollege Platschko hier mit dem Journalisten und Autoren Ronny Blaschke besprochen.


Was steht an?

Toprunden zu Migration, Sicherheit und Finanzen: Die Ministerpräsidentenkonferenz tagt in Berlin ab 10.30 Uhr, die Innenminister und Innensenatoren von Bund und Ländern treffen sich in Potsdam ab 9 Uhr, die Finanzminister der Länder kommen in Bremen ab 14.30 Uhr zu ihrer Jahreskonferenz zusammen.


Wirtschaftsminister Robert Habeck reist nach Asien: Der Vizekanzler (Grüne) beginnt seine Reise in Südkorea, von dort geht es weiter nach China. Er will sich mit Regierungsmitgliedern sowie Vertretern von deutschen und europäischen Unternehmen treffen. Begleitet wird er von Bundestagsabgeordneten und einer Wirtschaftsdelegation.


Kremlchef Wladimir Putin besucht Vietnam: Er trifft während des Staatsbesuchs den Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Nguyen Phu Trong. Am Dienstag noch war Putin in Nordkorea, gemeinsam mit Kim Jong-un ließ er sich bejubeln. Welche Strategie der russische Autokrat bei seinen Reisen verfolgt, analysiert mein Kollege Patrick Diekmann hier.


Lesetipps

Scholz, Habeck und Lindner müssen im Haushalt 2025 ein Milliardenloch stopfen. Kann das klappen? Oder scheitert die Ampel am Streit ums Geld? Mögliche Szenarien haben meine Kollegen aus dem Hauptstadtbüro hier aufgezeichnet.


Wie kommen die Grünen aus der Krise? Einige in der Partei wünschen sich mehr "Klartext", auch bei der Migration. Die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner sieht ihre Grünen in einer anderen Rolle, wie sie meinem Kollegen Johannes Bebermeier erzählt hat.


Das historische Bild

Die Nazis feierten sich für den Bau der Autobahnen, erfunden haben sie diese beileibe nicht. Lesen Sie hier mehr.


Ohrenschmaus

"Fire" heißt der offizielle Song der EM, der aber bisher nicht so richtig durchstartet. Hier gibt es einen Klassiker, der nach wie vor zündet.


Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.

Herzlichst

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
X: @AnnLei1

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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