Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grüne in der Krise "Wenn uns das wegbröselt, habe ich Angst"
Wie kommen die Grünen aus der Krise? Einige in der Partei wünschen sich mehr "Klartext", auch bei der Migration. Die Bonner Oberbürgermeisterin sieht die Grünen in einer anderen Rolle.
Nicht mal mehr 12 Prozent. Das Ergebnis der Europawahl hat die Grünen aufgewühlt. Die Partei diskutiert seitdem, wie sie aus dem Tief wieder herauskommt. Es ist ein öffentlich bisher leiser, aber sehr ernster Richtungsstreit.
Grüne Realos aus Baden-Württemberg, wie Finanzminister Danyal Bayaz, wünschen sich mehr "Pragmatismus" und "Klartext", auch in der Migrationspolitik und im Kampf gegen Islamismus. Die Bonner Oberbürgermeisterin und Parteilinke Katja Dörner sieht das etwas anders. Und warnt vor Populismus.
t-online: Frau Dörner, die Grünen haben bei der Europawahl nur 11,9 Prozent bekommen. Wie schmerzhaft ist das?
Katja Dörner: Das ist ein extrem ernüchterndes Ergebnis. Wir sind unter unseren Erwartungen geblieben, auch wenn niemand davon ausgegangen war, noch einmal 20,5 Prozent wie im Jahr 2019 zu erreichen. Aber mit einem solchen Ergebnis haben wir nicht gerechnet. Es fordert uns auf, darüber nachzudenken, welche Fehler wir gemacht haben.
Welche Fehler sehen Sie?
Wir müssen uns zum einen die Frage stellen: Wie konnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass die Grünen quasi alles zu verantworten haben, was in der Ampel schiefläuft?
Haben Sie eine Antwort?
Keine abschließende. Aber dass das Heizungsgesetz, die Kommunikation und die Diskussionen dazu ein Wendepunkt waren, liegt auf der Hand. Ob zu Recht oder zu Unrecht: Das hat Vertrauen gekostet.
Die Gesprächspartnerin
Katja Dörner, 48 Jahre alt, ist seit 2020 Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn. Vorher saß sie seit 2009 für die Grünen im Bundestag. Seit 2013 war sie dort stellvertretende Fraktionsvorsitzende.
Was sind andere Fehler?
Wir müssen uns fragen, warum uns insbesondere weniger junge Menschen ihr Vertrauen schenken. Der Klimaschutz hat auch für viele Jüngere keine so große Rolle mehr gespielt bei dieser Wahl. Zugleich haben wir einige, für die Klimaschutz wichtig ist, ins Lager der Nichtwähler oder zu Kleinparteien wie die Klimaliste oder an Volt verloren. Uns ist es nicht gelungen, die Dringlichkeit beim Klimaschutz zu transportieren und dass wir es sind, die dafür kämpfen.
Wie erklären Sie sich das?
Ich erlebe als Oberbürgermeisterin, dass es eine große Offenheit für Maßnahmen zum Klimaschutz und auch zur Klimaanpassung gibt. Aber viele haben zugleich Angst, ob sie sich Klimaschutz leisten können. Deshalb müssen wir ihn stärker mit der sozialen Frage verbinden. Wir Grünen dürfen uns jetzt nicht beirren lassen, dass Klimaschutz absolut nötig ist. Aber wir müssen ihn immer verknüpfen mit Antworten auf die Frage, wie wir die Maßnahmen gerecht gestalten.
Woran denken Sie konkret?
Nehmen wir das Klimageld. Es steht im Koalitionsvertrag, kommt aber nun nicht. Der CO₂-Preis aber wird steigen und die Auswirkungen werden spürbar. Das wissen die Menschen und sie machen sich Sorgen. Zugleich gibt es keinen Mechanismus, der den Preis sozial abfedert. Das ist ein großes Problem. Das Schicksal der Kindergrundsicherung ist auch unklar.
Die Grünen haben nicht nur an Kleinparteien und Nichtwähler verloren und damit vermutlich Teile ihre Kernwählerschaft. Sie haben auch viele Wähler an die Union verloren, also Wähler aus der Mitte. Ist damit die Strategie gescheitert, beides gleichzeitig zu machen: Grüne Kernwähler anzusprechen und in die politische Mitte auszugreifen?
Nein. Ich glaube, das kann gelingen. Andere Wahlen haben dies auch gezeigt. Diesmal hat uns die schlechte Performance der Ampel sehr geschadet. Es ist ja seit Monaten so, dass die Regierung nicht als verlässlich wahrgenommen wird. Das ist für uns ein Problem, wenn man ins bürgerliche Lager ausstrahlen will. Und die Wahl zeigt uns auch nochmal deutlich, wie schwer es ist für Veränderung zu werben. Vor allem, wenn viele – obwohl sie es besser wissen – so tun, als käme man trotz aller Herausforderungen ohne aus.
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat noch einen anderen Verdacht. Er glaubt, die Grünen verlören sich zu oft in kleinteiligen Konflikten um die genauen Lösungen, statt flexibler auf dem Weg zum Ziel zu sein. Braucht es mehr grünen Pragmatismus?
Mein Eindruck ist nicht, dass es den Grünen in dieser Bundesregierung an Pragmatismus fehlt. Im Gegenteil: Die Grünen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, auf veränderte Realitäten zu reagieren, wenn das nötig ist. Wir haben angesichts eines Krieges in Europa über Dinge entscheiden müssen, die wir uns zu Beginn der Wahlperiode nicht vorstellen konnten. Da gibt es klar mehr Pragmatismus als bei den anderen Ampelparteien, insbesondere, wenn es um die Unterstützung der Ukraine und in sicherheitspolitischen Fragen allgemein geht. Und das ist richtig so.
Der Vorwurf, die Grünen seien zu ideologisch, hält sich trotzdem hartnäckig.
Die Grünen können so pragmatisch sein, wie sie wollen, der Vorwurf kommt trotzdem. Weil er funktioniert. Was wir tun können, ist, weiterhin Kompromisse zu suchen und diese zu erklären, den Dialog zu suchen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die sehr ernsthafte Sorgen und Vorbehalte haben, auch gegenüber unserer Politik. Wir müssen dahin gehen, wo es wirklich weh tut. Robert Habeck als Vizekanzler macht das aus meiner Sicht sehr gut. Wir brauchen zudem andere Kommunikationskanäle.
Das reicht nicht allen Grünen als Lösung aus. Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz findet zum Beispiel, auch die Grünen hätten dem Islamismus nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat nach der tödlichen Messerattacke eines Afghanen auf einen Polizisten in Mannheim mehr grünen "Klartext" gefordert.
Wir Grünen sind uns einig, dass wir Islamismus und jeder Form von Extremismus mit aller Entschiedenheit entgegengetreten müssen. Auch mit konkreten Maßnahmen. Bei komplexen Themen ist es nötig, sich eine Differenziertheit zu bewahren. Dafür stehen für mich die Grünen: Sich Dinge sehr genau anzuschauen und zu analysieren, was wirklich sinnvoll ist und wirkt. Darum muss es doch gehen. Wir Grüne müssen angesichts komplexer Herausforderungen, in einer komplexen Gesellschaft um einen komplexen Diskurs kämpfen. Das ist unsere Aufgabe.
Eine große Rolle hat bei der Europawahl auch die Migrationspolitik gespielt. Manche Realos fordern, dass sich die Grünen stärker für eine Begrenzung einsetzen. Zurecht?
Auch da werbe ich sehr dafür, über konkrete, funktionierende Lösungen zu sprechen. In der Migrationsdebatte gibt es viel Populismus, mit dem manche Akteure schnelle Punkte machen. Zur Lösung der Probleme trägt das selten bei. Wir sollten das nicht mitmachen. Und uns dann für die Dinge einsetzen, die wirklich helfen. Ich mache das mal an einem Beispiel deutlich.
Gerne.
Die Bezahlkarte ist ein Paradebeispiel dafür, wie mit Scheinlösungen Politik gemacht wird. Sie löst keines der Probleme, die sie angeblich lösen sollte. Für eine abschreckende Wirkung gibt es keine Belege. Und einfacher macht sie es für die Verwaltung erst recht nicht. Im Gegenteil: Die Kommunen werden wohl deutlich mehr belastet. Das ärgert mich.
Wie belastet die Bezahlkarte die Verwaltung?
Noch steht die Ausgestaltung in Nordrhein-Westfalen nicht fest. Aber wenn es dazu kommt, dass die Summe auf der Karte so limitiert wird, dass wir den Menschen bestimmte Leistungen auf anderem Weg zukommen lassen müssen, dann brauchen wir deutlich mehr Personal. Und dieses Personal bezahlt uns niemand.
Wenn es stimmt, was Sie sagen, und populistische Scheinlösung zwar kurzfristig beliebt sind, aber für die Grünen kein Weg sein sollten: Wie kann es für die Grünen dann wieder aufwärtsgehen?
Es gibt kein Patentrezept und ich bin froh, dass die Parteigremien sich in Ruhe dazu austauschen. Was aus meiner Sicht nicht hilft, ist programmatisch an Profil zu verlieren. Wir sollten in der Breite der Partei die schwierigen Diskussionen mit den Menschen suchen, die noch nicht von unserer Politik überzeugt sind. Wir müssen ihr Bedürfnis nach Sicherheit, ihre Ängste wegen des Krieges, der Energiewende etcetera ernst nehmen und insbesondere Antworten in der Sozialpolitik geben. Eines macht mir deshalb jetzt besonders Sorgen.
Was?
Der Sparhaushalt, der durch das Festhalten an der Schuldenbremse droht. Die fehlenden Investitionsmöglichkeiten. Ich sehe als Oberbürgermeisterin die maroden Schulen und die maroden Schwimmbäder. Es geht um die Grundlagen der Daseinsvorsorge. Wenn uns das wegbröselt, habe ich Angst, was das mit der Stimmung im Land macht. Gerade weil die Leute sich dann fragen, warum die Infrastruktur bröckelt, die Ganztagsbetreuung eingeschränkt wird und simpelste Dinge nicht mehr funktionieren, aber die Unterbringung der Geflüchteten trotzdem on top kommen muss. Daran leidet der Zusammenhalt und die Akzeptanz ganz konkret.
Frau Dörner, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Gespräch mit Katja Dörner (Grüne)