Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es kann nicht funktionieren
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
zum Start in diesen Freitag muss ich Sie mit einer unbequemen Wahrheit konfrontieren: Sie, ich, wir alle liegen falsch. Ständig. Und das Schlimmste dabei: Wir bemerken es meist erst zu spät.
Denn mal ehrlich: Wie oft haben Sie sich schon gewünscht, einen liebgewonnenen Moment noch mal erleben zu können? Den ersten Kuss? Die sensationell sahnige Torte zum Hochzeitstag? Den Urlaub in New York? Hach, war das alles schön. Und erst beim hoffnungsvollen Versuch, alte Zeiten wieder aufleben zu lassen, fällt auf: Unmöglich – auch wenn diese ernüchternde Erkenntnis oft erst (zu) spät einsetzen mag.
Emotionen, zumal mit besonderen Ereignissen verbunden, sind nicht reproduzierbar. Oder haben Sie beim zweiten, dritten, vierten Mal "Titanic" noch die gleiche Menge Taschentücher gebraucht wie beim ersten Anschauen? (Und dass ich selbst auch beim x-ten Mal "Avengers: Endgame" unkontrolliert schluchze, werte ich als die Regel bestätigende Ausnahme.)
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Heute Abend beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland mit dem Eröffnungsspiel des Gastgebers gegen Schottland – und in den vergangenen Tagen und Wochen war in diesem Zusammenhang vermehrt vom "Sommermärchen 2.0" die Rede.
Sie erinnern sich: Das ursprüngliche "Sommermärchen" entwickelte sich bei der ebenfalls in der Bundesrepublik ausgetragenen Weltmeisterschaft 2006. Den Begriff erdachte Regisseur Sönke Wortmann für seine gute Dokumentation zu besagter WM. Und wenn man dem fußballbegeisterten Filmemacher einen Vorwurf machen kann, dann den, dass er ihn damit für andere Ereignisse in der warmen Saison für alle Zeiten unbrauchbar gemacht hat.
Menschen verschiedenster Nationen lagen sich damals in den Armen, Hunderttausende fieberten besonders bei den Spielen der deutschen Mannschaft in Berlin auf der "Fanmeile" mit – ein weiterer durch die WM entstandener und popularisierter Begriff. Und exakt so soll es nun wieder sein, 18 Jahre später. Das Gleiche wie damals. Einfach unmöglich.
Es kann nicht funktionieren – selbst wenn Fan-Zuspruch und Begeisterung für die deutsche Nationalmannschaft inzwischen in ähnliche Dimensionen aufsteigen wie dazumal. Zudem: Die Erwartung, ein neues 2006 zu schaffen, wird der aktuellen deutschen Nationalmannschaft und ihrem Bundestrainer Julian Nagelsmann nicht gerecht, mehr noch ist sie sogar eine große Ungerechtigkeit. Sie müssen ihre eigenen Momente schaffen, ihre eigene Geschichte schreiben, die das "Sommermärchen 2006" nicht imitiert, sondern ersetzt.
Haben sie doch schließlich längst selbst für eine Euphorie und Vorfreude gesorgt, wie sie nach den so turbulent wie ernüchternd verlaufenen Turnieren der vergangenen Jahre kaum noch möglich schien. Bis zu 9,7 Millionen Menschen verfolgten die EM-Generalprobe am letzten Freitag gegen Griechenland an den Bildschirmen.
Diese Euphorie und Vorfreude sind Verdienst einer durchaus beachtlichen konzertierten Anstrengung im Vorfeld, die schon im vergangenen September damit begann, dass Nagelsmann als Bundestrainer eingesetzt wurde. Mit findigen PR- und Werbekniffen in Zusammenarbeit mit einer preisdekorierten Agentur und der Ausrüsterfirma glückte dem DFB und seinem Aushängeschild Nationalmannschaft in diesem Jahr dann ein bemerkenswerter Imagewandel. Dieser wurde zusätzlich angetrieben von zuletzt erfreulichen Auftritten und Ergebnissen einer neu aufgestellten deutschen Elf. Deren Verantwortlicher strapaziert zudem das Wort "Leistungsprinzip" nicht wie seine beiden Vorgänger bis über die Belastungsgrenze hinaus, sondern setzt es nachvollziehbar um. (Ähem, bis auf eine Ausnahme).
Umso bemerkenswerter ist der Stimmungswandel beim Gedanken an die letzten Fußball-Großereignisse: Kurz vor der Weltmeisterschaft 2018 – ein Turnier, das wegen seines Ausrichters Russland aus heutiger Sicht noch zusätzlich beschämt – eskalierte die Debatte über ein Foto der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan fast schon zu einer Staatsaffäre. Bei der EM 2021 wiederum durfte die Münchner Allianz Arena nicht in den Regenbogenfarben erstrahlen: Der europäische Fußball-Dachverband Uefa hatte das Signal gegen Homophobie am Stadion untersagt – ausgerechnet vor dem Gruppenspiel gegen Ungarn, dessen Regierung der Homophobie in nicht unerheblichen Teilen zugewandt ist. 2022 wurde die Fußball-WM aus deutscher Sicht überschattet von einer dramatisch aus dem Ruder gelaufenen Debatte über das Tragen einer Regenbogenarmbinde im Gastgeberland Katar.
Auch die Voraussetzungen sind diesmal im Vergleich zu 2006 grundverschieden: Den Zauber des ursprünglichen "Sommermärchens" zeichnete auch seine Unerwartbarkeit aus: Ein derart rauschendes, buntes Fest im für rauschende, bunte Feste bis dato nicht unbedingt bekannten Deutschland überraschte, verblüffte, erfreute. Es war das erste seiner Art und wird damit stets eine Sonderstellung einnehmen. Auch für mich persönlich.
Sie erlauben mir hier einen Moment für einen kurzen Schwenk: Zur WM 2006 entschied sich eine große Berliner Lokalzeitung, mich, eigentlich so gerade erst dem Teenageralter entwachsen, aber bereits mit bescheidenen ersten journalistischen Erfahrungen, in ihr Team für eine Spezialausgabe zu holen, die während des Turniers täglich an die Kioske der Stadt ausgeliefert wurde. Für mich war das natürlich eine ganz große Sache.
Ich sprach mit zahllosen Menschen über die WM, überfiel wahllos arglose Fans in Trikots verschiedenster Teilnehmerländer mit mal mehr, mal weniger peinlichen Fragen zu Titelfavoriten oder deutschem Lieblingsessen.
Ich schaffte es in meiner spätjugendlichen Begeisterung sogar, dem mir neben anderen Spielen redaktionell anvertrauten Achtelfinale zwischen der Schweiz und der Ukraine etwas abzugewinnen – das in die Geschichte einging, weil es derart gottserbärmlich schlecht war, dass es die "New York Times" als "Das WM-Spiel, das keinen Sieger verdiente" betitelte. Mehr als eine kurze Zusammenfassung wäre maßlos übertrieben: Nach 120 ereignislosen Minuten und einem auch in der Höhe verdienten 0:0 ging es ins Elfmeterschießen, in dem den Eidgenossen das Kunststück gelang, als erste Mannschaft der Turnierhistorie keinen einzigen Strafstoß zu verwandeln. Die Ukraine traf immerhin dreimal und zog so durch ein furioses 3:0 nach Elfmeterschießen in die Runde der letzten Acht ein.
Nicht nur, aber auch dank (und trotz) dieser und weiterer Erinnerungen nimmt diese Zeit einen besonderen Platz in meinem Herzen ein.
Zu kurz greift übrigens der Versuch, die deutsche Faszination für die WM 2006 hauptsächlich mit der Mär von einem wiederentdeckten, vermeintlich "fröhlichen Patriotismus" zu erklären. Seit Jahren schon wird beharrlich die Legende verbreitet, die langfristig größte Errungenschaft des Turniers 2006 sei das seitdem in Massen praktizierte Fahnenschwenken, als hätten sich Millionen Bundesbürger die Jahrzehnte zuvor bedrückt und frustriert durch einen verdrießlichen Alltag geschleppt, weil nicht bei jeder Gelegenheit mit schwarz-rot-goldenen Winkelelementen gewedelt werden konnte.
Die Faszination erklärt sich vielmehr auch mit dem veränderten Bild, das die Welt damals vom als langweilig, steif und humorlos verschrienen Deutschen bekam: fröhlich, weltoffen, ausgelassen.
Zumal in einer grundlegend anderen Zeit: 2006 gab es noch keine Smartphones, die nur wenige Jahre später eine Epoche der rastlosen Dauerreichbarkeit und der unkontrollierten, lähmenden Reiz- und Informationsflut auf allen Kanälen einleiten sollten. Heute laufen Meldungen vom Axtmord nebenan oder von Kriegsgräueln in der Ferne, vom Klimawandel und politischem Rechtsruck, von unaufhörlich steigenden Preisen oder der Wohnungskrise in engstmöglicher Taktung per Push-Mitteilung über das Handydisplay. Sinnentstellt werden sie von politisch und moralisch Verirrten in den sozialen Medien verbreitet, laufen in Dauerschleife im Fernsehen und groß bebildert über Nachrichtenportale (die Problematik der ständigen – vermeintlichen – Eilmeldungen hat unlängst die Kollegin Antonia Groß in ihrem Beitrag für "Übermedien" treffend kommentiert). Das Gesamtklima hat sich verändert.
Der DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig erklärte kürzlich in einem lesenswerten Interview im Duo mit Sportdirektor Rudi Völler für "11 Freunde", die Rahmenbedingungen seien heute ganz andere als 2006: "Damals konnte sich niemand vorstellen, dass ein Virus die ganze Welt lahmlegt, dass Putin die Ukraine überfällt. Hinzu kommen oft finanzielle oder gesundheitliche Sorgen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen auf Knopfdruck auf unbeschwerte Heiterkeit umschalten können."
Jedoch: "Andererseits ist das ja auch ein verlockendes Angebot, diesen Mist einfach mal vier Wochen lang beiseitezuschieben." Wir sollten das versuchen.
Vielleicht erinnern Sie, ich, wir uns dann in 18 Jahren an diese Heim-Europameisterschaft so wie einst an die WM 2006 – nur eben nicht als "Sommermärchen 2.0".
Was steht an?
Um 21 Uhr ist es so weit: Deutschland gegen Schottland. Der Auftakt zur EM in Deutschland. Gelingt der Mannschaft von Bundestrainer Nagelsmann gegen den Underdog ein Traumstart ins Turnier? Der Ausgang des Spiels in München kann die Euphorie im Land maßgeblich verstärken – oder das genaue Gegenteil bewirken. Die Partie können Sie auch im Liveticker bei t-online verfolgen.
Der G7-Gipfel in Italien wird um ein Dutzend Staats- und Regierungschefs aus anderen Ländern erweitert. Auf Einladung von Gastgeberin Giorgia Meloni nimmt erstmals in fast 50 Jahren ein Papst an einem Treffen der sieben großen Industrienationen (G7) teil. Papst Franziskus, das Oberhaupt von mehr als 1,3 Milliarden Katholiken, ist bei einer Gesprächsrunde zum Thema Künstliche Intelligenz dabei.
Das historische Bild
Nicht allein Männer waren Pioniere der Lüfte, Harriet Quimby vollbrachte 1912 eine Großtat. Hier erfahren Sie mehr.
Lesetipps
Der Zauber eines Heimturniers: Deutschland darf zum ersten Mal seit der WM 2006 wieder ein Fußball-Großereignis austragen. Das (einzig wahre) Sommermärchen zog das ganze Land in seinen Bann – wie mein Kollege Noah Platschko schreibt, der damals noch ein Kind war. Hier lesen Sie seine Erinnerungen.
Der Rauswurf von Maximilian Krah aus der AfD-Gruppe für das Europaparlament schlägt hohe Wellen in der Partei. Krahs Umfeld hatte von "Verrat" durch den neuen Delegationsleiter René Aust gesprochen, Krah selbst hatte in einem Interview weiteres Öl ins Feuer gegossen, Aust dann erst eine Erklärung angekündigt, diese aber doch noch abgesagt. Schließlich meldete sich Björn Höcke und attackierte Krah, der doch eigentlich auch zu seinem Lager gerechnet wird.
Mein Kollege Lars Wienand schreibt hier darüber, wer in AfD-Augen der größere Verräter ist.
Ultrarechte und populistische Kräfte erstarken weltweit, Desinformation und Manipulation nehmen zu. Wie lässt sich die Gefahr eindämmen? Der Historiker Thomas Weber erklärt im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke, was wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus für den Umgang mit der AfD und anderen rechten Demagogen heute lernen können.
Die Tagesschau veröffentlicht ihr Programm nun auch in einfacher Sprache. Daran gibt es Kritik: Die Menschen würden für dumm gehalten. Mein Kollege Julian Fischer aber schreibt: "Das ist längst überfällig." Auch der Staat sollte sich daran ein Beispiel nehmen.
Zum Schluss
Das nächste Spiel ist immer das nächste.
Ich wünsche Ihnen einen Tag voller Optimismus und Zuversicht.
Ihr
David Digili
Redakteur Sport
Twitter @herrdigili
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Mit Material von dpa.
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