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Ukraine-Krieg: Atommanöver in Russland – was ist Putins Plan?


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Tagesanbruch
Feuer frei!

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.05.2024Lesedauer: 7 Min.
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Eine "Archer"-Haubitze aus schwedischer Produktion im Einsatz in der Ukraine (Archivbild): Bislang ist der Einsatz für Angriffe auf russisches Gebiet tabu. (Quelle: Roman Pilipey/AFP/getty-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

in der Politik wird gern geschwurbelt. Man sollte sich also eigentlich freuen, wenn einer klipp und klar kommuniziert, was er will. Um eine unmissverständliche Botschaft bemüht ist gegenwärtig allerdings jemand, von dem wir eindeutige Ansagen nicht so gern hören: Wladimir Putin sendet sein Signal auf allen Kanälen, und das sorgt für Furcht statt Freude.

Was macht den Kontrahenten im Westen am meisten Angst? So scheint Putins Leitfrage zu lauten. Übungen der russischen Nuklearstreitkräfte gibt es zwar immer mal. Doch vor wenigen Tagen hat der Kremldiktator seine Soldaten den atomaren Erstschlag üben lassen – mit den kleineren taktischen Atomwaffen, damit der simulierte Einsatz noch realistischer wirkt. Der Manöverort in der Nähe der Ukraine ließ keinen Interpretationsspielraum zu. Eilfertig verbreitete Bilder der Übung sollten dafür sorgen, dass auch noch der Letzte das Signal versteht.

Putins Köcher ist damit noch lange nicht leer. "Grenzen verschieben", lautete das unausgesprochene Motto seines Begleitprogramms zum atomaren Säbelrasseln. Metaphorisch gemeint war die Sache mit den Grenzen nicht. Das Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Papier mit brisantem Inhalt: Die Seegrenzen zu den Nachbarn in der Ostsee würden auf "veralteten Karten basieren" – und deshalb nun korrigiert. Kaum brach in Europa der Aufregungssturm los, verschwand das Papier so plötzlich, wie es erschienen war. Am nächsten Tag verschwand etwas anderes: nämlich die Hälfte der Bojen, die auf dem Grenzfluss zwischen Estland und Russland das estnische Territorium markierten. Russische Grenzwächter hatten sie entfernt, da ihnen die Position der Bojen auf einmal missfiel.

Wir können euch ins Schwitzen bringen: Das vermitteln alle diese Nadelstiche. Russische Panzerkolonnen brauchen wir gar nicht über die Nato-Grenze rollen zu lassen. Wir gehen subtiler vor. Überlegt euch also, worauf ihr euch einlasst. Vorgestern legte Putin vor laufenden Kameras nach: Er drohte europäischen Nato-Staaten in Europa, von denen viele ja "so klein" und "dicht besiedelt" seien … Den Rest musste er gar nicht mehr aussprechen: Würde dort etwas passieren, wären die Folgen schrecklich. Die unmissverständliche Warnung: Sucht bloß nicht den Konflikt mit Russland! Wir können zuschlagen. Anschließend bleibt von euch und euren Städten nichts als Staub. Hochachtungsvoll, Wladimir.

Der Kommunikator aus dem Kreml hat so viel mitzuteilen, weil der Druck im Kessel steigt. Russische Einheiten laufen gegen die Stellungen der ukrainischen Verteidiger Sturm und haben damit so viel Erfolg, dass nicht mehr sicher ist, ob die Front bis zum Ende der Offensive standhält. Kiews Oberkommandierender verlegt Truppen in den Norden, um den russischen Vormarsch auf die zweitgrößte ukrainische Metropole Charkiw aufzuhalten. Ebenfalls im Norden stehen russische Verbände zur Attacke auf die Region um die Stadt Sumy bereit und binden Selenskyjs Soldaten. Die Lücken zeigen sich anderswo. Immer tiefere Risse offenbaren sich im Donbass, wo die Lage der ukrainischen Verteidiger an mehreren Frontabschritten prekär geworden ist. Noch kommen Putins Angreifer nur langsam voran, aber das kann sich schlagartig ändern. Die letzten Bastionen der Ukraine im Donbass sind immer stärker bedroht.

Entsprechend laut verlangen ukrainische Soldaten nach Entlastung, und ihre Forderung richtet sich an uns. Ihre Stellungen um Charkiw und die Zivilbevölkerung der Stadt liegen unter Dauerbombardement, wobei sich die russischen Piloten in ihren Sitzen entspannt zurücklehnen können. Auch deren Kollegen von der Artillerie dürfen ihre Kanonen in aller Seelenruhe beladen. Denn Putins Jets und Geschütze feuern von russischem Territorium aus über die Grenze. Sie brauchen keinen feindlichen Beschuss zu fürchten.

Währenddessen müssen die ukrainischen Verteidiger bei ihren Waffen und der Munition erst mal das Kleingedruckte auf dem Beipackzettel studieren. Artillerie und Geschosse aus eigener Herstellung? Okay, das dürfen wir auf die Stellungen jenseits der Grenze feuern. Schade nur, dass es so weit gar nicht fliegt. Und die Westware? Wäre geeignet, ist aber verboten. "Nur zur Verteidigung auf eigenem Gebiet", lautet die Vorgabe der Lieferanten. Doch sobald eine russische Gleitbombe in den ukrainischen Luftraum einschwebt, dauert es nur noch Sekunden bis zum Einschlag. Den Bombenhagel können die Verteidiger nicht bekämpfen, sondern müssen ihn erdulden. Das hat furchtbare Folgen und zermürbt die ukrainische Bevölkerung.

Damit das so bleibt, koloriert der Kremlterrorist dieser Tage seine roten Linien nach. Denn in den Hauptstädten der Nato wird intensiv darüber diskutiert, ob die Russen weiterhin unbehelligt aus allen Rohren feuern dürfen, nur weil das Geschütz auf der anderen Seite der Grenzmarkierung steht. Um Fragen der Legitimität und des Völkerrechts geht es dabei nicht. Selbstverständlich ist die Ukraine dazu berechtigt, sich auch über die Grenzlinie hinweg gegen den Aggressor zu verteidigen. Und diejenigen, die der Ukraine das Material liefern, werden dadurch nicht zur Kriegspartei – unter juristischen Gesichtspunkten jedenfalls. Aber darum geht es nicht. Die Gretchenfrage lautet, wie Putin reagiert: Würde er eine Eskalation wagen? Was sollen die Unterstützer der Ukraine riskieren, wo aus Vorsicht die Grenze ziehen?

Es ist kein Wunder, dass die Regierungen des Westens bei der Beantwortung dieser Frage ein uneinheitliches Bild abgeben. Ob in den Debatten über die Lieferung von Panzern und Kampfflugzeugen, von Marschflugkörpern wie dem Taurus oder nun über das Verbot, westliche Waffen gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen: Niemand kann Putin in den Kopf schauen. Eine klare Antwort auf die Frage, welche Schritte noch unproblematisch und welche zu riskant sind, gibt es deshalb nicht. Bewährt hat sich bisher die Salamitaktik: Manche fordern, andere zögern, und die Debatte dauert ein bisschen zu lang. Das gibt kein schönes Bild ab, führt am Ende aber zu Ergebnissen und hält die Gefahr der Eskalation im Zaum. Putin wird an die Korrektur der roten Linie erst einmal gewöhnt. Dann verschiebt man sie ein Stück.

Nicht jeder Wunsch aus der Ukraine ist jedoch berechtigt. Es ist richtig gewesen, die deutschen Taurus-Marschflugkörper nicht zu liefern. Sie hätten es Selenskyjs Armee erlaubt, im Alleingang den Konflikt mit Russland aus dem Ruder laufen zu lassen. Aktuell fällt die Regierung in Kiew wieder einmal mit haarsträubenden Forderungen auf. So, wie sie zu Beginn des Krieges versuchte, die Nato mittels einer "Flugverbotszone" in einen Luftkrieg mit Russland zu verstricken, wünscht sich Selenskyj nun in leicht abgewandelter Form, Kampfjets der Allianz mögen über der Ukraine russische Raketen abschießen. Zum direkten Schlagabtausch mit Putins Piloten ist es von dort aus nur ein winziger Schritt. Bislang beißt Selenskyj mit seinem Wunsch auf Granit, und das muss so bleiben.

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Doch die Verpflichtung, Westwaffen nur auf dem Gebiet der Ukraine zu verwenden, hat sich überlebt. Putin nutzt die freiwillige Selbstkontrolle des Westens für seine Offensive aus und hat dadurch selbst die Auflagen ad absurdum geführt. Briten, Franzosen und weitere Nato-Partner haben ihre grundsätzliche Bereitschaft schon erklärt, die Bremsklötze zu entfernen (aber den Ukrainern die konkrete Freigabe noch nicht erteilt). Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg fordert ebenfalls eine Freigabe der Waffen. Washington bleibt noch immer bei seinem Nein. Scholz hat gescholzt und lässt uns mal wieder rätseln.

Den Ukrainern für den Beschuss von Zielen in Russland "Feuer frei" zuzurufen, ist heikel. Doch auch mit Stillhalten kann man sich dem Risiko nicht entziehen. Denn den Kollaps der ukrainischen Front kann niemand im Westen riskieren. Die humanitäre Katastrophe und die erwartbare Fluchtwelle würden die Gesellschaften Europas an ihre Grenzen treiben. Putin dürfte sich zu weiteren, noch viel gefährlicheren Abenteuern ermutigt fühlen und Nato-Staaten an der Ostgrenze der Allianz nicht mehr als unantastbar betrachten. Klein, dichtbesiedelt, gefährdet: So hat er sie beschrieben. Nehmen wir ihn also ernst. Aber lassen wir uns von seinen Drohungen nicht ins Bockshorn jagen.


Neustart in London

Das Bild hatte Symbolcharakter: Am vorvergangenen Mittwoch stand der britische Premierminister Rishi Sunak wie ein begossener Pudel im strömenden Regen vor seinem Amtssitz 10, Downing Street und verkündete einen überraschend frühen Neuwahltermin. Schon am 4. Juli soll im Vereinigten Königreich ein neues Parlament gewählt werden. Selbst in seiner eigenen Tory-Partei waren viele von der Ansetzung überrascht – nicht zuletzt, weil die Konservativen in Umfragen deutlich hinter der oppositionellen Labour-Partei und deren Anführer Keir Starmer liegen.

Mut der Verzweiflung oder ein letzter Dienst am wechselwilligen Land? Wenn sich heute das britische Parlament offiziell auflöst, markiert das jedenfalls den Beginn eines fünfwöchigen Wahlkampfs, den der Regierungschef vor allem mit dem Verweis auf die sinkende Inflation und das durchgebrachte umstrittene Abschiebegesetz bestreiten dürfte. Es gibt allerdings auch die Theorie, dass sich der asketische Ex-Banker – nach Boris Johnson und Liz Truss bereits der dritte Premier seit der Wahl 2019 –, mit seiner Niederlage längst abgefunden hat und bereits Umzugspläne nach Kalifornien hegt, um dort in der Tech-Branche eine neue Karriere zu starten.


Ohrenschmaus

Familienministerin Lisa Paus stellt heute neue Zahlen zum Thema Einsamkeit in Deutschland vor: Untersucht wurde das Einsamkeitsgefühl von Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Wohnorts in Ost- oder Westdeutschland. Ein großes Problem, dem wir uns im Tagesanbruch schon einmal gewidmet haben. Daher belassen wir es heute bei ein bisschen Musik. Und die ist sogar fröhlich.


Lesetipps

Seit Monaten ist Boris Pistorius Deutschlands beliebtester Politiker. Nicht nur in der SPD wird deshalb gemunkelt, dass der Verteidigungsminister dem Kanzler gefährlich werden könnte. Nun scheinen die Fronten vorerst geklärt, wie unsere Reporter Daniel Mützel und Sara Sievert berichten.


Bringt ein Schriftstück mit einer ominösen Rechnung den Präsidentschaftsbewerber Donald Trump zu Fall? Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns berichtet über das brisante Finale des Gerichtsprozesses in New York.


Nach einer monatelangen Hängepartie steht fest: Vincent Kompany wird neuer Trainer des FC Hollywood, pardon, Bayern. Wer den jungen Mann kritisch sieht, tappt in eine Falle, schreibt unser Sportreporter Benjamin Zurmühl.


Zum Schluss

Kennen Sie das: Man scrollt sich durch eine faszinierende Bildergalerie und kann einfach nicht aufhören? Ging mir hier so.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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