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Syrien: Warum Deutschland rasch handeln muss, um hohe Kosten zu vermeiden


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Tagesanbruch
Deutschland bekommt eine einmalige Gelegenheit

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 13.12.2024 - 07:08 UhrLesedauer: 7 Min.
Boris Pistorius im türkischen Erbil: Der Verteidigungsminister lotet aus, was die Bundeswehr zur Stabilisierung Syriens tun kann.Vergrößern des Bildes
Boris Pistorius im irakischen Erbil: Der Verteidigungsminister lotet aus, was die Bundeswehr zur Stabilisierung Syriens tun kann. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

das Problem mit politischen Phrasen ist: Manchmal stimmen sie. Eine "historische Chance" wird in Sonntagsreden so häufig beschworen, dass man sie verpassen kann, wenn es wirklich so weit ist. An diesem Punkt sind wir jetzt angekommen. Konkret eröffnet sich die einmalige Gelegenheit dadurch, dass eine Menge Wichtigheimer vor die Tür gesetzt wurde oder sich in Eigeninitiative vom Acker macht.

Einer, der sich mühelos als Wichtigheimer qualifiziert, bewohnt bald das Weiße Haus in Washington. Der Donald hat angesichts der gewaltigen Umwälzungen in Syrien mal wieder zu Großbuchstaben gegriffen: "DAS IST NICHT UNSER KAMPF", dröhnte Trump in gewohnter Lautstärke sowie ebenfalls gewohnter Einfalt. "LASST ES SEINEN GANG NEHMEN" ... ist ja gut, haben wir verstanden, wenn es jetzt bitte etwas leiser ... "NICHT EINMISCHEN!". Soweit der künftige US-Präsident.

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Nun kennen wir den Mann schon länger und wissen, dass er seine Einfälle gerne rausposaunt, bevor die anderen Hirnareale sich zuschalten können. Aber in diesem Fall muss man ihn ernst nehmen. Schon während seiner ersten Amtszeit haben seine Berater ihn nur mit großer Überredungskunst davon abhalten können, das zu tun, was er nun wieder ankündigt: Syrien fallenzulassen wie eine heiße Kartoffel. Sollte die kommende US-Regierung sich ab Ende Januar auch nur geringfügig für das geschundene Land engagieren, muss man den Chef dafür zum Jagen tragen.

Der eine will nicht, der andere darf nicht: Putins Zeit in Syrien ist abgelaufen. Vom Regime des Schlächters Assad, seinem Verbündeten im östlichen Mittelmeer, ist ihm nichts geblieben, außer einem geflohenen Diktator als neuem Untermieter in Moskau – und einem Hafen, den seine Schiffe nun verlassen. Der Kremlchef hat in Syrien aufs falsche Pferd gesetzt und das richtige Pferd halb tot bombardiert: Jahrelang hat Putins Luftwaffe den Norden Syriens terrorisiert und Städte in Schutt und Asche gelegt. Die neuen Machthaber in Damaskus, denen diese Schläge galten, haben das noch frisch im Gedächtnis. Der russische Einfluss in Syrien ist binnen zwei Wochen von gewaltig auf fast null geschrumpft.

Assads Sturz hat nicht nur Putin kalt erwischt. Auf der Weltbühne schleichen die Alphatiere betreten hin und her. Aus China äugt Xi Jinping missmutig herüber. Das Reich der Mitte wollte im Nahen Osten eigentlich als Handelspartner, Strippenzieher und neutraler Vermittler wahrgenommen werden, hat sich aber für das syrische Schreckensregime untypisch ins Zeug gelegt. Denn in Peking war man gar nicht gut auf die Aufständischen zu sprechen: Leute, die glauben, ein autokratisches Regime einfach abschütteln zu können, fallen beim Autokraten Xi in Ungnade.

Nach dem dramatischen Machtwechsel in Damaskus sind die in Ungnade Gefallenen an der Macht. Dafür, dass China im neuen Syrien eine gewichtige Rolle spielt, sind die Weichen also falsch gestellt. Auf demselben Abstellgleis tuckert auch noch Indien hinterher: die Riesennation, weltweit ein Schwergewicht, aber in der Konfliktregion Nahost politisch leicht wie eine Feder. Premierminister Modi pflegte gute Beziehungen zu Assad. Als Gestalter der Neuordnung wird auch er also nicht hervortreten.

Der Kollaps der bisher tonangebenden Kräfte, von der zerbombten Hisbollah im Libanon über Assads Regime in Syrien bis zum gebeutelten Iran, hinterlässt eine gewaltige Lücke. Die globalen Riesen füllen sie nicht. Das Feld ist regionalen Größen überlassen: der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten, den Saudis und Katar. Nun gut, könnte man meinen, schließlich kümmern die sich um die Angelegenheiten vor ihrer Haustür. Warum nicht mal machen lassen? LASST ES SEINEN GANG NEHMEN, hat der amerikanische Präsidentenlautsprecher getönt. Nur weil es aus Trumps Mund stammt, muss es nicht automatisch falsch sein.

Die entspannt-distanzierte Haltung ist allerdings verflogen, sobald man nachschaut, was die Mächte in der Regionalliga so treiben. Das kann man nämlich in anderen geschundenen Ländern besichtigen. Im Sudan zum Beispiel, wo der Bürgerkrieg zu apokalyptischen Zuständen geführt hat: Dort unterstützen die Emiratis eine Mördermiliz der schlimmsten Sorte. Saudi-Arabien setzt auf die Gegenseite, der ebenfalls Gräueltaten zur Last gelegt werden. Söldner aus dem Sudan hatten zuvor für ihre Geldgeber die Drecksarbeit im Jemen gemacht. In den schlimmsten Jahren des jemenitischen Bürgerkriegs konnte auch dieses Land den Titel als Hölle auf Erden für sich beanspruchen. Saudis und Emiratis gossen ordentlich Öl ins Feuer.

Begeben wir uns wieder zurück in die Gegenwart, springt uns die Türkei ins Auge, die Assads Sturz auf ihre Weise feiert: Präsident Erdoğan hat die Miliz, die als verlängerter Arm der Türkei in Syrien gilt, sofort auf die Kurden losgelassen. Die größte Gefahr, dass der Krieg in Syrien wieder aufflammt, geht zur Zeit von Ankara aus. Man könnte die Auflistung noch eine Weile fortsetzen, aber die Grundzüge sind erkennbar. Wenn man die Aktivitäten der regionalen Mächte Revue passieren lässt, wünscht man sich vor allem eines dringend: eine Alternative.

Und damit, liebe Leserin und lieber Leser, haben wir den Moment erreicht, der das Etikett "historische Chance" tatsächlich verdient. Das Vakuum in Syrien, der Kollaps der alten Akteure, die Abwesenheit der globalen Schwergewichte: All das ist zugleich eine einmalige Gelegenheit. Diejenigen, die bisher den richtigen Moment verpasst und sich selbst an den Spielfeldrand verbannt haben, können ihre vergangenen Fehler nun auswetzen. Vielleicht haben Sie es bemerkt: Die Europäer, auch wir Deutsche, kamen in der langen Länderliste bisher gar nicht vor. Wir haben hierzulande vieles ausbaden müssen, was skrupellose Akteure im Nahen Osten angerichtet haben. (Die Menschen vor Ort noch viel mehr.) Aber statt den Gang der Ereignisse zu beeinflussen, war die europäische Rolle auf die eines Bittstellers reduziert, der bestenfalls ein bisschen mit dem Scheckbuch wedeln kann. Es fehlen Partner vor Ort, mit denen man eng verbunden ist.

Das lässt sich jetzt ändern. Wenn man schnell ist. Die Kräfte, die sich in Syrien zu einer neuen Regierung formieren, sind bei der Stabilisierung der Lage und für die Herkulesaufgabe des Wiederaufbaus dringend auf Unterstützung angewiesen. Auf uns warten werden sie aber nicht. Wer sich zurücklehnt und erst mal in Ruhe beobachten will, wie es mit den Neuen so läuft, hat seine Gelegenheit verpasst. Denn die Konkurrenz aus der Region steht schon in den Startlöchern. Auch die Russen wollen den Fuß in der Tür behalten und sich das Recht, ihre Militärbasen in Syrien weiterhin zu betreiben, liebend gerne erkaufen. Wenn man nicht aufpasst, sind die üblichen Verdächtigen ganz schnell zurück. Bei der nächsten Flüchtlingskrise ist das Heulen und Zähneklappern in Europa dann wieder groß. Die selbst verschuldete Ohnmacht auch. Wer jetzt nicht handelt, zahlt den Preis.

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Die neuen Machthaber sind Islamisten, die sich seit Jahren geläutert geben. Wie viel Substanz diese Wandlung hat und was davon nur ein taktisches Trugbild ist, darüber wird nun in vielen Hauptstädten gerätselt. In der syrischen Region Idlib, wo die Islamisten bisher das Sagen hatten, waren autoritäre Tendenzen klar erkennbar. Gegenwärtig kann man ihnen jedoch attestieren, sich um einen respektvollen Umgang mit Minderheiten und Andersdenkenden zu bemühen. Was aus den Ex-Radikalen am Ende wird, hängt auch davon ab, welche Freunde sie finden. Lassen wir uns mal wieder viel Zeit, dann sind es die falschen.


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Zum Schluss

Der wunderbare Hape Kerkeling ist anlässlich seines runden Geburtstags medial so allgegenwärtig wie früher. Für uns Politikjournalisten bleibt vor allem einer seiner Auftritte unvergesslich.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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