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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz gegen Pistorius Jetzt hat er gewonnen
Seit Monaten ist Boris Pistorius Deutschlands beliebtester Politiker. Nicht nur in der SPD wird deshalb gemunkelt, dass der Verteidigungsminister dem Kanzler gefährlich werden könnte. Nun scheinen die Fronten geklärt – vorerst.
Boris Pistorius (SPD) hat nicht mit großen Worten gespart, um den Deutschen die Rückkehr zur Wehrpflicht schmackhaft zu machen. Es gehe um "gesamtgesellschaftliche Resilienz", eine Lösung für das Personalproblem der Bundeswehr, und darum, "für sein Land zu kämpfen, ohne jeden Zug von Militarismus".
Monatelang hieß es, der Verteidigungsminister mache Tempo bei der Wehrpflicht, fordere eine "Richtungsentscheidung" noch in dieser Legislaturperiode. Pistorius ließ unterschiedliche Modelle prüfen, reiste nach Skandinavien, um sich über die dortige Wehrpflicht zu informieren, ließ immer wieder durchblicken, für wie wichtig er das Thema hält.
Seit Anfang der Woche aber ist nun klar: Aus dem großen Wurf wird erst mal nichts. Nach t-online-Informationen informierte Pistorius am Montag die SPD-Spitze, dass er seine ursprünglichen Wehrpflichtpläne abblase. Stattdessen wolle er bald ein Modell vorstellen, das weitgehend auf Freiwilligkeit basiere. Junge Menschen sollen mit Anreizen, wie einem kostenlosen Führerschein, Rabatten bei Studienkrediten und Sprachkursen überzeugt werden, sich freiwillig bei der Bundeswehr zu verpflichten. Das Wort "Wehrpflicht" sei bei der Sitzung nicht gefallen, hieß es. Der "Spiegel" hatte als erstes darüber berichtet.
Mit anderen Worten: Pistorius hat der SPD-Führung offenbart, dass er sich erst mal unterordnen wird. Grund dafür war vermutlich der mächtigste Sozialdemokrat und Pistorius' Chef im Kabinett: Olaf Scholz. Der Machtkampf, den viele zwischen den beiden vermuten, scheint damit fürs Erste entschieden.
Beliebter Niedersachse versus unbeliebter Hanseat
Für den Kanzler ist das ein wichtiger Erfolg. Seit Monaten ist er genervt von Pistorius, der von Woche zu Woche Platz eins in den Politikerrankings belegt, während Scholz sich irgendwo auf den hinteren Plätzen, teilweise noch hinter Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU), bewegt.
Nicht nur in der SPD wird deshalb schon länger gemunkelt, dass der beliebte SPD-Politiker aus Niedersachsen dem unbeliebten Kanzler gefährlich werden könnte. Manch einer fragt sich gar, ob die Partei am Ende nicht doch Scholz gegen Pistorius als Kanzlerkandidaten austauscht, um bei der kommenden Bundestagswahl besser abzuschneiden.
Wäre das realistisch? Oder hat Scholz die Machtverhältnisse in der SPD nun geklärt?
Schon bei seiner Schwedenreise im Mai ließ Scholz den Wehrpflicht-Vorstoß seines Parteikollegen abperlen. Pistorius hatte zuvor immer wieder durchblicken lassen, dass er mit dem schwedischen Modell liebäugele, das vor allem die Freiwilligen einzieht, aber rechtlich dennoch ein Zwangsdienst ist.
Als der Kanzler in einer Pressekonferenz in Stockholm danach gefragt wird, ob das schwedische Modell als Vorbild für Deutschland dienen könne, sagt Scholz gelassen, er sehe keinen Bedarf dafür. Eine neue, alte Wehrpflicht hält er für unrealistisch. Schlimmer noch: Die Personalprobleme der Bundeswehr halte er für "überschaubar". Es war ein Zurechtstutzen auf internationaler Bühne – das die Erzählung vom Machtkampf eher noch befeuerte.
Scholz verhalf Pistorius zur Macht
In der SPD-Spitze kennt man diese Erzählung gut. Seit Monaten hat das Willy-Brandt-Haus alle Hände voll damit zu tun, die Gerüchte über einen möglichen Kanzlerkandidaten Pistorius abzuwehren. Bei jeder Gelegenheit wird betont, Scholz sei selbstverständlich der Kandidat der SPD bei der Bundestagswahl 2025. Aber: Angesichts schlechter Umfragewerte sprechen sich hinter vorgehaltener Hand durchaus Sozialdemokraten für einen Wechsel an der Spitze aus, auch mächtige.
Denn dass Pistorius seit seiner Ernennung vor rund 15 Monaten derart stabil das Beliebtheitsranking anführt, überrascht. Gut möglich, dass auch der machtbewusste Scholz nicht damit gerechnet hatte, als er die glücklose Christine Lambrecht durch den damals kaum bekannten Landesminister Pistorius ersetzte. Nun steht der unbeliebte Kanzler vor dem Problem, eine Art Politikstar ins Kabinett gehievt zu haben, der auch noch das Großprojekt "Zeitenwende" umsetzen soll.
Keine Panik dank Ego
Als wirkliche Konkurrenz scheint der Kanzler Pistorius bislang nicht zu sehen – auch wenn der für einen Kanzlertausch wohl bereitstünde. Scholz und sein Umfeld gehen fest davon aus, dass es bei der kommenden Bundestagswahl 2025 gar nicht erst zur Debatte stehen wird, ob man mit einem neuen Kandidaten ins Rennen zieht. Ein Grund dafür: Als Wahlkämpfer hat Pistorius kaum Substanzielles vorzuweisen.
Bislang hat der SPD-Politiker lediglich eine Wahl zum Oberbürgermeister in Osnabrück gewonnen und war Landesinnenminister in Niedersachsen. Auf der bundespolitischen Bühne ist er noch ganz frisch. Auch seine Bewerbung um den SPD-Vorsitz 2019 scheiterte. Scholz betont dagegen oft und gerne seine langjährige Erfahrung – als Arbeitsminister, Bürgermeister von Hamburg, dann als Finanzminister und Vizekanzler.
Ganz kalt lässt Pistorius' Beliebtheit den Kanzler dennoch nicht. Das Verhältnis der beiden soll angespannt sein. Der Verteidigungsminister hat sich bereits mehrfach von der Linie des Kanzlers, aber auch von der seiner Partei insgesamt distanziert. Scholz scheint auf der anderen Seite fast etwas Freude daran zu haben, Pistorius' Vorstöße abzuschmettern. Nach dem Motto: Du willst dich mit unabgestimmten Vorschlägen beliebt machen? So nicht, Freundchen.
Die Gefahr des Ankündigungsministers
Dabei scheinen Scholz' Angriffe auf einen wunden Punkt zu zielen, der Pistorius von Anbeginn an angreifbar gemacht hat – und der nun zunehmend zum Problem werden könnte: sein ausgeprägter Ehrgeiz. Dieser Charakterzug, den Parteifreunde aus Pistorius' Umfeld bestätigen, ist für einen Politiker per se nicht schlecht, kann sich aber negativ auswirken, wenn er in nicht gehaltene Versprechen mündet. Pistorius läuft Gefahr, vom Anpackminister zum Ankündigungsminister zu werden, der gut redet und viel verspricht – aber wenig umsetzt.
Der Verteidigungsminister hat in seiner kurzen Amtszeit gleich mehrere Mammutvorhaben angekündigt: Er will die Bundeswehr reformieren, eine deutsche Kampfbrigade in Litauen aufbauen, eine Form der Wehrpflicht zurückbringen, mehr Geld und Ausrüstung für die Truppe mobilisieren. Die bisherige Bilanz ist mau: Die Strukturreform geriet zum Reförmchen, aus der Wehrpflicht wird ein Freiwilligendienst, und im Streit über einen höheren Wehretat scheint sich Pistorius nicht gegen Scholz und Finanzminister Lindner (FDP) durchsetzen zu können.
Bleibt noch das "Leuchturmprojekt der Zeitenwende", die Litauen-Brigade. Sie könnte Pistorius' letzter Strohalm sein, um am Ende der Legislatur tatsächlich etwas vorweisen zu können. Noch sind auch hier die zentralen Fragen nicht geklärt: Weder wurden die benötigten Panzer bestellt oder die rund 5.000 Soldaten gefunden, die die Nato-Ostflanke vor der russischen Aggression schützen wollen. Noch nicht mal das Geld wurde bisher im Haushalt hinterlegt.
Ein Lichtblick für den Minister: Die Brigade soll erst Ende 2027 voll einsatzfähig sein, also nach der nächsten Bundestagswahl. Pistorius könnte also ungeschoren davon kommen und weiter auf sein Macherimage setzen – solange ihm Scholz nicht erneut in die Parade fährt.
Die Machtverhältnisse in der SPD scheinen jedenfalls geklärt. Vorerst.
- Eigene Recherche