Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Wird schon schiefgehen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es gibt Tage, an denen muss ich länger überlegen, welches Thema ich Ihnen im Tagesanbruch serviere. Heute ist nicht so ein Tag. Denn heute geschieht etwas, das in der Geschichte der Bundesrepublik erst fünfmal vorgekommen ist: Die Abgeordneten im Bundestag entscheiden darüber, ob sie dem Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen.
Dabei wird manch ein Parlamentarier innere Widersprüche aushalten müssen. Denn nach den beiden Sozialdemokraten Willy Brandt und Gerhard Schröder und dem Christdemokraten Helmut Kohl ist Olaf Scholz der vierte Kanzler, der den Weg der unechten Vertrauensfrage geht. Das heißt: Er bittet zwar den Bundestag, ihm zu vertrauen, erreichen will er aber das Gegenteil. Das ist nicht ganz trivial.
Denn auch wenn alle wissen, dass Scheitern erwünscht ist: Jemandem das Vertrauen zu entziehen, der wahlweise der eigene Kanzlerkandidat ist (SPD) oder mit dem man gerne weiterregiert hätte (Grüne), würde sonderbar wirken. So ließ denn auch Scholz selbst bereits durchblicken, dass der Abgeordnete Olaf Scholz dem Bundeskanzler Olaf Scholz durchaus das Vertrauen aussprechen werde – darauf hoffend, dass genug andere genau das nicht tun. Ganz nach dem Motto: Wird schon schiefgehen.
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Damit das Scheitern nicht scheitert, greift Scholz' Minderheitsregierung zu einem Kniff: Während die SPD Geschlossenheit hinter ihrem Kanzler demonstrieren wird, wollen sich die Grünen enthalten. Das soll sicherstellen, dass wirklich zu wenig Stimmen für Scholz zusammenkommen – und mögliche Pläne der AfD sabotieren, sich für ihn auszusprechen. Denn die AfD nutzt bekanntlich jede Chance, den parlamentarischen Prozess lächerlich zu machen. Und sei es, indem sie selbst ein Schauspiel aufführt.
Verliert Scholz die Vertrauensfrage, ist das Ende seiner Kanzlerschaft nur noch Formsache. Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier hat zwar 21 Tage Bedenkzeit, bevor er den Bundestag auf Bitten des Kanzlers auflöst, doch dass er der Bitte nachkommen wird, ist mehr als wahrscheinlich. Nachdem sich die Ampel vergangene Woche ein letztes Mal aufgerafft hat, ein Gesetz durchzubringen, das steuerlich entlastet und das Kindergeld erhöht, wird dann auch die erste Bundesregierung aus drei Koalitionspartnern endgültig Geschichte sein.
Wie auch immer es weitergeht – ob mit Großer Koalition aus Union und SPD oder einem erneuten Dreierbündnis: Die nächste Bundesregierung muss nicht nur nachholen, was aufgrund des vorzeitigen Ampel-Endes liegen geblieben ist. Sie muss auch den Bürgerinnen und Bürgern die Gewissheit zurückgeben, dass demokratische Parteien in der Lage sind, gemeinsam Lösungen zu finden. Das ist die eigentliche Vertrauensfrage: Vertrauen die Menschen noch der Politik?
Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP scheiterte an ihren inhaltlichen Differenzen, aber auch an der fehlenden Fähigkeit, Kompromisse verständlich zu erklären und ihre Vorteile hervorzuheben. Sie konnte keine Geschlossenheit zeigen, keine klare Richtung vorgeben und keine Zuversicht vermitteln. Die Konsequenz daraus: zunehmende Politikverdrossenheit. Was also muss eine neue Regierung besser machen?
- Klare Kommunikation: Politik braucht eine einheitliche Sprache. Streit ist unvermeidbar, wenn verschiedene Parteien aufeinandertreffen, doch nicht jeder Punkt muss öffentlich ausgetragen werden. Schon gar nicht, wenn man kurz zuvor verkündet hat, sich einig geworden zu sein, so wie etwa beim Rentenpaket II (looking at you, FDP).
- Erfolge feiern: Sich nicht öffentlich zu zerfleischen, reicht nicht. Es ist bloß die notwendige Bedingung für den nächsten Schritt: die gefundenen Lösungen als Erfolge zu verkaufen. Und die gab es durchaus. So schnürte die Ampel beispielsweise mehrere Entlastungspakete während der Energiekrise, darunter die Gas- und Strompreisbremse, das 9-Euro-Ticket und Einmalzahlungen für Arbeitnehmer, Rentner, Studierende und Wohngeldempfänger. Gleichzeitig schaffte es die Ampel, Deutschlands Energieversorgung unabhängiger von Russland aufzustellen. Doch als Zeichen von Handlungsfähigkeit sind diese Erfolge wohl nur den wenigsten in Erinnerung.
- Klare Arbeitsgrundlage schaffen: Parteipolitische Kämpfe während der Regierungszeit werden unwahrscheinlicher, je deutlicher man sich vorab darauf verständigt hat, wie genau man was umsetzen will. "Darum werden wir den Mindestlohn auf 12 Euro anheben" ist eine Formulierung aus dem Koalitionsvertrag der Ampel, die wenig Spielraum lässt. "Die Rente muss verlässlich und auskömmlich sein, darum sichern wir das Rentenniveau und ergänzen sie um kapitalgedeckte Elemente" hingegen lässt vieles offen. Kein Wunder, dass der höhere Mindestlohn problemlos kam, während die Rentenreform auf dem Friedhof der Ampelgesetze begraben liegt. Mit Wischiwaschi im Koalitionsvertrag ist Streit programmiert.
- Soziale Frage beim Klimaschutz mitdenken: Nur weil sich Maßnahmen langfristig bezahlt machen, heißt das nicht, dass alle Bürger kurzfristig in Vorleistung gehen können. So richtig es ist, beim Heizen wegzukommen von Öl und Gas, so wichtig wäre es gewesen, das Heizungsgesetz von vornherein mit ausreichenden Förderungen für Wärmepumpe und Co. zu versehen. Stattdessen wuchs die Angst vor der Überforderung – und mit ihr die Ablehnung des gesamten Vorhabens.
- Gute Führung: Gerade wenn die Interessen von gleich drei Parteien zu vereinen sind, braucht es jemanden, der vermittelt – und notfalls auch mal auf den Tisch haut. Es ist nicht so, dass Olaf Scholz nie von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hätte. Im Streit um den Weiterbetrieb dreier Atomkraftwerke sprach er im Oktober 2022 erstmals ein solches Machtwort. Doch gerade bei der Frage, ob der Krieg in der Ukraine eine Ausnahme von der Schuldenbremse erlaubt, hätte früheres Handeln Not getan. Stattdessen war es letztlich dieses ungelöste Problem, an dem die Ampel zerbrach.
- Transparenz und Mitbestimmung: Eine Regierung sollte das Gefühl vermitteln, dass sie für die Menschen da ist. Das gelingt, indem sie Entscheidungen nachvollziehbar macht und die Bevölkerung in politische Prozesse einbindet. Bürgerräte und noch mehr Bürgerdialoge könnten helfen, die Distanz zwischen Politik und Gesellschaft zu verringern.
- Fokus auf das, was geht: Ja, die Zeiten sind nicht rosig. Deutschlands Wirtschaft wird aller Voraussicht nach in den nächsten drei Jahren nur sehr gering wachsen. Doch statt sich darauf zu konzentrieren, was alles schlecht läuft, gilt es, den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu stärken. Dafür sollte die neue Regierung die Aufmerksamkeit auf positive Ziele richten und eine Vision von einem Land erarbeiten, in dem man auch in 30 Jahren noch gerne leben möchte.
Die voraussichtliche Neuwahl am 23. Februar birgt die Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Und das muss sie auch. Denn diese Art Vertrauensfrage darf kein zweites Mal verloren gehen.
Was steht noch an?
Ringen um Einsparungen: Vertreter von Volkswagen und IG Metall kommen am Montag zu ihrer fünften Tarifrunde zusammen. VW will den Lohn der Beschäftigten um 10 Prozent kürzen sowie Boni und Zulagen streichen. Auch Werkschließungen und betriebsbedingte Kündigungen stehen im Raum. Die Gewerkschaft hingegen will alle Standorte erhalten, eine Beschäftigungsgarantie für die Mitarbeiter und dauerhafte Einschnitte beim Monatslohn verhindern. Gibt es keine Einigung vor Weihnachten, drohen weitere Streiks.
Minderheitsregierung, ja oder nein? Die SPD in Sachsen zählt das Mitgliedervotum zum Koalitionsvertrag mit der CDU aus und gibt am Abend das Ergebnis bekannt. Am 18. und 19. Dezember finden in Dresden Landtagssitzungen statt – die Wahl des Ministerpräsidenten wäre dann möglich. Der amtierende Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) ist der einzige Kandidat für das Amt.
Weiter auf Promo-Tour: Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel ist mit ihrer Autobiografie "Freiheit" auf einer Sonderveranstaltung der Lit.Cologne zu Gast. Moderiert wird der Abend von Bettina Böttinger. Die Lesung ist live ab 19.04 Uhr bei WDR 5 im Radio zu hören.
Ohrenschmaus
Mittlerweile ist es ja völlig normal, alles und jedes mit dem Smartphone festhalten zu können. Im Frühjahr 2003 war es das nicht. Umso erstaunlicher, dass dieses Video existiert. Noch dazu von einem Song, der erst zehn Jahre später zu einem Welthit werden sollte.
Lesetipps
Weihnachtsmärkte gelten laut Verfassungsschutz als "ideologisch geeignetes Ziel für islamistisch motivierte Personen". Doch gesichert sind die Märkte häufig schlecht, wie Recherchen meines Kollegen Carsten Janz zeigen.
Bürokratie ist in Verruf geraten – nicht erst, seit Elon Musk ihr als Berater des künftigen US-Präsidenten den Kampf ansagt. Auch in Deutschland gibt es ein Gremium, das sie eindämmen soll. Dessen Vorsitzender wünscht sich mehr Einfluss und fordert ein radikales Umdenken im Interview mit meiner Kollegin Heike Vowinkel.
Die aktuellen Dunkelflauten legen ein Problem offen. Deutschland muss schnell raus aus der energiepolitischen Zwischenwelt. Doch die kaputte Debatte erschwert das, kommentiert mein Kollege Johannes Bebermeier.
Der MDR muss sparen, auch die Führungsetage soll umstrukturiert werden. Für die Programmdirektorin Jana Brandt geht das mit einem erheblichen Bonus einher, wie mein Kollege Jonas Mueller-Töwe recherchiert hat.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen weniger fremdbestimmten Start in die Woche! Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
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Mit Material von dpa.
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