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Folgen der Coronakrise: So reagiert Regierung auf Einsamkeit der Deutschen


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Tagesanbruch
Neue Volkskrankheit alarmiert Bundesregierung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 13.12.2023Lesedauer: 7 Min.
In diesen grauen Tagen fühlen sich viele Menschen noch einsamer als sonst.Vergrößern des Bildes
In diesen grauen Tagen fühlen sich viele Menschen noch einsamer als sonst. (Quelle: Thomas Warnack/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

so viele Jahre ist es jetzt schon her, manchmal weiß ich gar nicht mehr, wie viele. Die Tage und Monate vergehen, Dinge passieren, ich bin irgendwie dabei. Aber ein Teil von mir ist ganz woanders. Wenn im Frühling die Knospen blühen oder wenn die Enkelkinder hier sind, spüre ich es nicht so stark, aber wenn dann alle wieder weg sind, wenn ich abends allein im Wohnzimmer sitze oder mitten in der Nacht aufwache, dann ist es besonders schlimm. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es, aber das stimmt nicht. Die Oberfläche vernarbt, aber darunter bleibt der Schnitt in der Seele. Der ist so tief, der geht nie wieder weg. Das Leben war so schön mit ihm, meinem Mann, wir waren füreinander gemacht. Bei anderen Paaren wandelt sich die Beziehung nach Jahren zu Freundschaft oder Desinteresse. Bei uns war es Liebe, immer. Ich komm' einfach nicht darüber hinweg, dass er nicht mehr da ist, so früh, viel zu früh. Der Tod ist ein Monster, und ich bin so allein.

Ja, ich weiß, was du meinst, mir geht es ähnlich. Früher stand ich mitten im Leben, hatte immer viel um die Ohren. Projekte unter Hochdruck haben wir durchgezogen, gemeinsam waren wir stark. Ich habe meine Arbeit geliebt und wurde von den Kollegen geschätzt. Bei einigen war es fast Freundschaft. Dann kamen das Virus und die Lockdowns, das war wie ein Hammer, der mein Leben zerschlug. Am Anfang gab es noch Stütze vom Staat und die Hoffnung, dass es bald wieder losgeht. Ging es aber nicht. Corona hat unsere Branche völlig verändert. Manche sagen: zerstört. Ich habe meinen Arbeitgeber sogar verstanden, als er uns gekündigt hat. Was sollte er denn tun? Die Aussicht auf eine neue Stelle zerschlug sich bald, es herrscht ja überall Krise, und wer stellt schon einen 55-Jährigen ein? Seitdem bin ich viel zu Hause. Die Ex-Kollegen melden sich nicht mehr, jeder hat seine eigenen Sorgen. Jetzt im Winter ist es besonders schlimm. Alles so dunkel und so kalt. Ich bin allein, ich bin so schrecklich allein. Manchmal könnte ich heulen.

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Vielleicht haben Sie es bemerkt, liebe Leser, das war nicht der übliche Herr Harms, der hier zu Ihnen sprach. Aber es sprachen mir bekannte Personen, und ich möchte hinzufügen: Was diese beiden empfinden, erleben hierzulande Millionen Menschen. Einsamkeit ist eine Volkskrankheit, die sich rasant verbreitet. Witwen und Arbeitslose, Verlassene und Mutlose, Jugendliche und vor allem sehr viele Senioren leiden unter dem Alleinsein. Vielen sieht man es nicht an. Viele sieht man überhaupt nicht. Weil sie sich in ihrem Kummer verkriechen, weil sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen oder weil sie gemieden werden. Sie sitzen allein zu Hause, sie essen allein ihr Frühstück, ihr Mittag- und ihr Abendessen, und wenn der Tag zu Ende geht und das Telefon hat wieder nicht geläutet, geschweige denn die Haustürklingel, bleiben nur die Kummerfalten im Gesicht oder die Tränen auf dem Kopfkissen.

Die staatlich verordnete Vereinzelung während der Pandemie hat Schlimmes in der Gesellschaft angerichtet. Die gegenwärtigen Krisen machen es noch schlimmer. Viele Leute müssen es sich zweimal überlegen, ob sie sich den Restaurantbesuch noch leisten oder gar jemanden einladen können. Die permanenten Hiobsbotschaften aus den Nachrichten drücken aufs Gemüt, viele verkriechen sich und lassen Mütter, Großväter, Nachbarn allein. Die Menschen werden immer älter, zugleich verlieren Bindungen ihre Kraft. Aus Dörfern und Kleinstädten wandern die Jungen ab, in Großstädten herrscht Anonymität. Teenager haben durch die monatelangen Lockdowns ihre Freunde und den Anschluss verloren. Abgenabelte Schüler hocken nur noch vor dem Computer, dem Handy oder stumm in ihrem Zimmer.

Die Folgen sind dramatisch – für die Einzelnen, aber auch für alle. Wo das soziale Netz reißt, verliert eine Gesellschaft ihren Halt. So kommt es, dass Niedergeschlagenheit und Isolation zu Massenphänomenen werden. Dass Jugendliche überhaupt keine Freunde mehr haben. Oder dass ein alter Mensch wochenlang tot in seiner Wohnung liegt, ohne dass es jemandem auffällt.

Die Bundesregierung nimmt das Problem ernst. So ernst, dass sie eine Strategie gegen Einsamkeit erarbeitet hat. Auf Initiative von Familienministerin Lisa Paus will das Kabinett sie heute beschließen. Mehr Forschung, Modellprojekte und Therapieangebote sollen gegen das grassierende Alleinsein helfen. Ein "Einsamkeitsbarometer" soll die Verbreitung von Einsamkeit in der Bevölkerung regelmäßig untersuchen. Vereine, Verbände, Stiftungen und Religionsgemeinschaften sowie Unternehmen werden eingebunden. Ziel ist eine breite zivilgesellschaftliche Aktion gegen das Alleinsein.

In diesen Tagen muss die Ampelregierung ja viel Schelte einstecken. Auch im Tagesanbruch, auch von mir. Dass sich die Herren Scholz, Habeck und Lindner nicht mehr grün sind (rot oder gelb schon gar nicht), ist offensichtlich. Dass sie damit das ganze Land lähmen, verdient Kritik. Heute aber wollen wir der Regierungsmannschaft Respekt zollen. Einsamkeit bestimmt zwar nicht die täglichen Schlagzeilen – aber sie schmerzt hierzulande viele Menschen mehr als die Konflikte draußen in der Welt. Gut, dass endlich mehr dagegen getan wird.

Wobei es nicht damit getan ist, dass die Politik das Problem ernster nimmt. Erfolgreich bekämpfen lässt es sich nur durch die ganze Gesellschaft. Wie wäre es also, wenn sich alle, die diese Zeilen lesen, eine kleine Aufgabe vornehmen: In den Tagen bis Weihnachten rufen sie mindestens einen Verwandten oder eine Freundin an, mit denen sie in diesem Jahr noch nicht gesprochen haben. Ich bin sicher: Sie würden jemanden sehr froh machen.


Abgang des Tages

Während der Schröder-Regierung war er für viele Leute eine Hassfigur. Man munkelte: auch für den Kanzler. Aber das stimmte nicht, die beiden Nordlichter verband allenfalls eine Hassliebe, falls es so etwas in der Politik gibt. Eher noch schätzten die beiden einander, weil sie beide mit allen politischen Wassern gewaschen waren, die Kniffe des Geschäfts kannten und Mehrheiten zu organisieren wussten. So gelang es Jürgen Trittin, nicht nur den Atomausstieg durchzuboxen (den Frau Merkel später zurücknahm, aber noch später doch durchzog). Er bescherte Deutschland auch das Dosenpfand und manch andere originelle Idee. Vor allem aber hielt er die widerstreitenden Lager der Fundis und Realos bei den Grünen einigermaßen zusammen. Dass das rot-grüne Bündnis überhaupt sieben Jahre durchhielt, war auch ihm zu verdanken.

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Mittlerweile haben sich bei den Grünen die Super-Realos um Robert Habeck und Annalena Baerbock durchgesetzt. Die konnte Trittin zwar mit gezielten Nadelstichen zurück auf den Kontra-AKW-Kurs zwingen, wenn sie abtrünnig zu werden drohten. Aber an die großen Strippen der Macht gelangte er nicht mehr. Insofern ist es folgerichtig, dass er nun angekündigt hat: Anfang kommenden Jahres ist Schluss mit der Politik. Dann legt er sein Bundestagsmandat nieder. Für sein jahrzehntelanges Engagement gebührt ihm Respekt. Und die Erleichterung darüber, dass sich nach seinem Abgang die Chance auf mehr Vernunft in der Atomdebatte vielleicht doch noch durchsetzt.


Ohrenschmaus

Was hört der Jürgen wohl zum Abschied? Das vielleicht.


Scholz erklärt sich

Eigentlich ist das Thema klar definiert, wenn Olaf Scholz heute Mittag im Bundestag ans Rednerpult tritt: Der Kanzler wird eine Regierungserklärung zum morgigen EU-Gipfel abgeben, und natürlich gäbe es dazu viel zu sagen. Schließlich wollen die 27 Staats- und Regierungschefs über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine entscheiden und dem kriegsgebeutelten Land für die kommenden Jahre weitere Hilfen in Höhe von 50 Milliarden Euro spendieren. Beide Pläne, für die Einstimmigkeit nötig ist, werden jedoch vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán blockiert – sei es, weil der Putin-Kumpel der Ukraine schaden will, sei es, weil er Brüssel für seine Zustimmung möglichst teuer bezahlen lassen will. Spannend zu erfahren, mit welcher Strategie der Kanzler die Lage aufzulösen gedenkt.

Noch spannender ist aber, was Scholz zur Einigung beim Bundeshaushalt sagt. Nach Informationen von t-online hat er mit Vizekanzker Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine Einigung auf den Bundeshaushalt für 2024 erzielt. Details sollen im Laufe des Tages bekannt gegeben werden. Damit zeichnet sich fast vier Wochen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Lösung der Haushaltskrise ab, die die Ampelregierung stark unter Druck gesetzt hatte.


Machtwechsel in Polen

So lange wie möglich hat der polnische Präsident Andrzej Duda diesen Moment hinausgezögert: Zunächst beauftragte er den rechtsnationalistischen Wahllagerverlierer Mateusz Morawiecki mit der Regierungsbildung – aber heute kommt er nicht mehr drumherum: Er muss den am Montag zum neuen Regierungschef gewählten Donald Tusk vereidigen. Mit seiner liberalkonservativen Bürgerkoalition und deren beiden Partnern kann der bisherige Oppositionsführer nun darangehen, die fatale "Justizreform" der Vorgängerregierung zurückzudrehen und seinem Land die eingefrorenen EU-Gelder doch noch zu sichern.


Lesetipps

Mit wem zieht Putin im Kreml die Strippen, wie geht es weiter im Ukraine-Krieg, und wächst womöglich doch wieder die atomare Gefahr? Mein Kollege Marc von Lüpke und ich haben der Memorial-Mitgründerin Irina Scherbakowa mit großen Ohren zugehört.


Wie ist die Lage an der Front in der Ukraine? Im Gespräch mit meinem Kollegen Patrick Diekmann warnt der Militärexperte Gustav Gressel: "Putin ist dabei, seinen Angriffskrieg zu gewinnen."


Die Manager der Deutschen Bahn haben ein trickreiches System ausgetüftelt, um sich zu bereichern, obwohl sie seit Jahren ihre Ziele verfehlen. Neue Recherchen zeigen: Die Zustände in der Chefetage des Staatskonzerns sind noch schlimmer als gedacht. Und Regierungspolitiker wundern sich immer noch, warum immer mehr Menschen radikalen Parteien zuneigen.



Zum Schluss

Die Fußballbundesliga hat sich an Investoren verkauft. Ab jetzt wird auf dem Platz manches anders.

Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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