Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine vage Hoffnung
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wir haben es fast geschafft – dieses Jahr, das häufiger zum Haareraufen war, als es gesund sein kann. Da wählen die Amerikaner tatsächlich den verurteilten Straftäter und Horrorclown Donald Trump ein zweites Mal zu ihrem Präsidenten. Da streitet die Ampel gefühlte zwölf Monate durch, einige offenkundig mehr damit beschäftigt, den Bruch zu planen als zu regieren.
Dann bricht unsere Regierung wirklich. Mitten in einer Wirtschaftskrise, am gleichen Tag, an dem der Horrorclown triumphiert. Und der Krieg gegen die Ukraine, der Krieg im Nahen Osten und die Klimakrise sind eben auch noch da und werden eher schlimmer als besser. Reicht jetzt auch mal.
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Sie mögen mich verrückt nennen oder auf einem Lebkuchen-High wähnen – aber eine politische Hoffnung habe ich am Ende dieses Jahres trotzdem. Der Wahlkampf zur Bundestagswahl hat besser begonnen, als es in dieser Lage zu erwarten gewesen wäre. Es besteht die Chance, dass wir in den nächsten zwei Monaten tatsächlich über die wichtigen Probleme des Landes reden und nicht wieder nur über Nebensächlichkeiten.
Es ist eine vage Hoffnung, es kann alles noch anders kommen, wird es phasenweise sicher auch. Aber wer den Kopf etwas aus dem Alltagsdunst hebt, kann erfreuliche Hinweise darauf erkennen, dass Politik und Öffentlichkeit gerade überraschend gut funktionieren.
Wahlkämpfe können wichtige Monate im Kalender der Demokratie sein, wenn es gut läuft. Parteien schreiben auf, wie sie das Land gerne besser machen würden. Die Öffentlichkeit schaut sich das an, die Medien vergleichen und kommentieren, die Kanzlerkandidaten arbeiten in Debatten die Unterschiede heraus. Und am Ende können die Menschen entscheiden, wer den besten Plan hat und vertrauenswürdig ist.
Es gibt sie natürlich auch diesmal: die taktischen Halbwahrheiten, die Unwahrheiten, die Lügen. Auch die Beschimpfungen gibt es. Aber was ist passiert, als zum Beispiel Olaf Scholz "Fritze Merz" vorwarf, gern "Tünkram" zu erzählen? Menschen und Medien diskutierten, ob das noch angemessene Härte im Wahlkampf oder schon ehrenrührig ist. Nicht tagelang, sodass alles andere überdeckt worden wäre. Aber ernsthaft. Und Scholz wird sich nun überlegen, wie weit er künftig geht.
Genauso ist das bei den Leerstellen in den Wahlprogrammen der Parteien. Wenn die Union Steuerversprechen von fast 100 Milliarden Euro macht, ohne zu erklären, wie sie die finanzieren will, weist nicht nur die politische Konkurrenz darauf hin. Auch Ökonomen, Verbände und Medien aller Couleur tun das. Wenn die Grünen prominent eine "Milliardärssteuer" ankündigen, die sie aber nicht mal mit absoluter Mehrheit einführen könnten, weil sie weltweit gelten soll, fragen Journalisten kritisch nach.
Es ist insgesamt erstaunlich, wie ernsthaft gerade über das diskutiert wird, was wirklich wichtig ist. Wo soll das Geld für die nötigen Investitionen in die Infrastruktur herkommen? Brauchen wir Steuersenkungen in breitem Maßstab oder nur einzelne Impulse? Wie bekämpfen wir die Klimakrise? Und geht das alles mit der Schuldenbremse?
Welche die großen Probleme unserer Zeit sind, darüber gibt es unter den Demokraten wohltuende Einigkeit: Die Ukraine braucht endlich einen gerechten Frieden. Die Klimakrise ist ein echtes Problem. Der deutschen Wirtschaft geht es schlecht. Um nur einige zu nennen.
Für die unterschiedlichen Parteien sind die Probleme natürlich unterschiedlich wichtig, alles andere wäre auch schlecht. Aber objektive Probleme werden als objektive Probleme anerkannt. Und es wird über den besten Weg gestritten, sie zu lösen. Einige Wege sind nicht so gut wie andere. Auch das wissen wir, weil es öffentlich diskutiert wird, von Fachleuten, von Bürgern, von Journalisten, von Politikern.
Dieser Wahlkampf unterscheidet sich damit zumindest bisher sehr vom Wahlkampf 2021. Oder wissen Sie noch, welche drei Themen damals wichtig waren? Am allerallerwichtigsten war am Ende jedenfalls ein Armin Laschet in Gummistiefeln, der im falschen Moment gelacht hat, und die Autorin Annalena Baerbock mit ihrem abgeschriebenen Buch. Alles nicht schön, schon klar, aber bei den echten Problemen der folgenden Jahre haben uns die wochenlangen Diskussionen darüber nicht weitergebracht.
Die politische Öffentlichkeit funktioniert gerade. Und das ist viel wert. Ganz nebenbei schaffen es die Parteien auch noch, im Bundestag wichtige Dinge überparteilich zu beschließen. Den Schutz des Bundesverfassungsgerichts haben die demokratischen Parteien gerade erst gemeinsam durchgebracht, Friedrich Merz mit Olaf Scholz. Es ist nicht das einzige Beispiel. Trotz Wahlkampf.
Wie schön wäre es, wenn das so weiterginge. Nach Weihnachten. Ein paar Tage Ruhe haben sich am Ende dieses Jahres alle verdient. Lebkuchen sind auch wichtig.
Merci, Madame Pelicot
Diese Frau und dieses Urteil hätten es verdient gehabt, heute ganz oben zu stehen im Tagesanbruch. Das einzige Problem: Mir fehlen bei all dem Grauen auf der einen und dem Mut auf der anderen Seite schlicht die Worte. Was für abscheuliche Männer. Was für eine unglaubliche Frau.
Ihr früherer Ehemann hat Gisèle Pelicot fast zehn Jahre lang immer wieder betäubt, vergewaltigt, gefilmt und anderen zur Vergewaltigung angeboten. 51 Männer standen in Frankreich als Täter vor Gericht. Die Ermittler vermuten noch ein Dutzend weitere, konnten sie aber nicht identifizieren. Zweihundertmal ist Gisèle Pelicot wohl vergewaltigt worden.
Ein Täter nach dem anderen erhielt am Donnerstagvormittag im Gericht seine Strafe. Erst der frühere Ehemann: 20 Jahre Haft, Höchststrafe. Dann die fünfzig anderen Männer. Bei eigentlich allen von ihnen fallen die Strafen geringer aus als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Sie bekommen zwischen drei und fünfzehn Jahren. Aber bestraft werden sie. Allein das ist bemerkenswert, leider.
Gisèle Pelicot wollte, dass die Welt endlich hinschaut. Sie wollte zeigen, dass sich nicht die Opfer verstecken müssen, sondern die Täter. Und entschied sich für eine öffentliche Gerichtsverhandlung.
"Ich wollte, dass die Gesellschaft teilnehmen kann an dieser Debatte", sagte Pelicot nun nach dem Urteil. "Ich habe diese Entscheidung nie bereut." Der Prozess sei eine sehr harte Prüfung gewesen, aber sie habe den Kampf auch für ihre Kinder und Enkelkinder geführt. "Ich denke auch an die vielen Opfer, die nicht anerkannt werden, deren Geschichten oft im Dunkeln bleiben", sagte Pelicot. "Ich möchte, dass sie wissen, dass wir denselben Kampf führen."
Schon vor Monaten hat Gisèle Pelicot den Satz des Jahres geprägt. Er ist besser als alle Sätze, die ich hier heute Morgen hätte schreiben können. Und wird jetzt hoffentlich in Erfüllung gehen. Er lautet: "Die Scham muss die Seite wechseln".
Termine des Tages
Bundestag: In der letzten Sitzung dieses Jahres entscheidet das Parlament unter anderem über die Finanzierung des Deutschlandtickets und eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Die Parlamentarier diskutieren unter anderem auch die Einführung von Tierhaltungslogos in Restaurants sowie die Arbeitsbedingungen in der Paketbranche.
Bundesrat: Die Länderkammer stimmt in ihrer letzten Sitzung dieses Jahres unter anderem über höhere Pflegebeiträge, den Schutz des Bundesverfassungsgerichts, den Abbau der kalten Progression, die Kindergelderhöhung und das Deutschlandticket ab. Die derzeitige Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger (SPD) hält eine Rede zum Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti, Roma und Jenischen.
Außenministerin in der Türkei: Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Syrien besucht Annalena Baerbock (Grüne) die Türkei. Nachmittags trifft sie sich dort mit Außenminister Hakan Fidan.
Gast im Kanzleramt: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) empfängt den Ministerpräsidenten von Estland, Kristen Michal.
Lesetipps
Die russische Armee flüchtet nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad aus Syrien. Für Wladimir Putin ist der Machtwechsel eine Niederlage. Nun nimmt er einen anderen Stützpunkt am Mittelmeer ins Visier, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.
Die Ex-Ampel und die Union sichern die obersten Verfassungshüter des Landes gegen politische Putschversuche ab. Leider geht es nicht anders, kommentiert mein Kollege Christoph Schwennicke.
Ein Kommentar in den "Tagesthemen" hat eine Kontroverse ausgelöst. Dabei verdrehen sich plötzlich die Rollen. Grüne übernehmen nun die Positionen von Rechten, kritisiert unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen schon mal ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. Am Samstag meldet sich Florian Harms noch einmal bei Ihnen.
Ihr Johannes Bebermeier
Leitender Reporter Politik
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X: @jbebermeier
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Mit Material von dpa.
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